Juvenilia
Zur Psychologie des Verhältnisses von Lehrer und Schüler
Es wird in unsern Tagen wieder viel über Erziehung geredet; wie man vor nunmehr zwanzig Jahren von einem »Zeitalter des Kindes« reden konnte, so stehen auch jetzt mit politischen und religiösen Fragen pädagogische Erörterungen im Vordergrunde des Interesses. Der heiße Wille zur Erneuerung, der sich in unserer Zeit in allen Formen, in den extremsten Erscheinungen auswirkt, sucht das Grundsätzliche in der Not der Gegenwart, und hinter jedem Schlagwort trifft er auf letzte Fragen. Wie die Gedanken »Sozialismus« und »Völkerversöhnung« auf religiöse Grundgedanken zurückgeführt werden, und da, wo oberflächliche Köpfe von »Materialismus« reden zu können glaubten, eine neue, tiefe Begeisterung, eine Sehnsucht nach letzter Befreiung aufloht, so wird auch dort, wo sich – rein zeitlich gesprochen – die Wurzeln des Individuums zeigen, in der Erziehung, nach einer Neugestaltung von innen heraus, vom Grundsätzlichen aus gesucht, und es wird wieder um das Gedankliche gestritten.
Das ist ja vielleicht das wahrhaft Große unserer Zeit, daß wir wieder gelernt haben, um eine Idee zu streiten, das, was unsere Zeit mit den größten Epochen der Weltgeschichte: den Anfängen des Christentums, der Religionsstiftung Mohammeds, der Zeit der Staufenkaiser, der deutschen Reformation, der französischen Revolution gemein hat. Zweifellos bedeutet eine Zeit, in der sich Menschen um ihres Glaubens willen, also ohne jeden äußeren Machtgedanken mit Taten bekämpften, selbst bis zur grausamen Vernichtung der Persönlichkeit des Andern schreitend, einen gewaltigen inneren Fortschritt gegenüber einer solchen, in der sie in feiger und satter Duldsamkeit geistig aneinander vorbeigehen und letzten Endes den tiefsten Fragen unseres Lebens gleichgültig gegenüberstehen.
Und eine so glühende Subjektivität beherrscht auch unsere Tage. Als naturnotwendige Reaktion auf die Herrschaft des Nützlichen, Ungeistigen, Verstandes-, nicht Vernunftgemäßen tritt die Herrschaft des Ideellen, Gefühlsmäßigen, Ekstatischen, vielerorten des Utopischen, an Stelle der Wertschätzung tritt das Werturteil, an Stelle der Uniformierung des Geistes die Bedingtheit der Anschauung und Erkenntnis durch das Ich.
Wohl liegt in dieser Subjektivität ein Befreiendes, aber ihre Anwendung auf das tatsächliche Leben birgt doch ohne Zweifel ernste Gefahren in sich. Nicht nur vom rein philosophischen Standpunkte aus, nicht nur von der Erkenntnis ausgehend, daß es ein Irrtum ist, zu glauben, daß alles Gedankliche sichtbar in Erscheinung treten muß, um Tat zu werden, zu glauben, daß ein Ideal »erreicht« werden kann – rein praktisch gesehen: es ist auf Gebieten, wo man mehr oder minder mit Tatsächlichkeiten rechnen muß, unmöglich, die Dinge so zu sehen, wie sie sein sollen, nicht so, wie sie sind. Das war ja das Verhängnis der französischen Revolution, daß sie ihre subjektiven Grundsätze bis zum Äußersten ohne Rücksicht auf die Wirklichkeit zur Anwendung brachte, daß sie aus der reinen Idee die Wirklichkeit schaffen wollte, bis die Wirklichkeit sie verschlang.
In bezug auf die Schule – und von der Schule soll ja hier die Rede sein – hat die Subjektivität unserer Zeit gleichfalls gewirkt – und erheblich gewirkt. Es ist hier nicht der Ort, zu untersuchen, warum gerade sie so sehr in den Mittelpunkt der Debatte gezogen wurde – Gründe politischer, religiöser und allgemein kultureller Natur wirken darin zusammen. Jedenfalls – die Schlagworte: Einheitsschule, Abschaffung des Religionsunterrichtes, Schulgemeinde, Schülerrat haben die Gemüter heftig erregt, allgemeine, kulturelle Gedanken wurden vielfach mit parteipolitischen Zielen identifiziert. Gedanken zu Programmpunkten erniedrigt, verloren ihre ursprüngliche Kraft, eine geschickte Gegnerschaft wußte sie zur Gefahr umzudeuten.
Nun wurde bereits gesagt, daß an Stelle der Wertschätzung wieder das Werturteil getreten ist. Man könnte noch hinzufügen: das moralische Werturteil. Es liegt in dem religiösen Zug unserer Zeit, daß nach der Periode der Skepsis die Dinge nach der Alternative von gut und böse bewertet werden. Und gerade hierin ist man in den Schulfragen bei einem Äußersten an Subjektivität, Formalismus und – seien wir offen – auch Pharisäismus angelangt, so daß es vielleicht einmal gut ist, rückwärts zu blicken und daran zu denken, daß die Menschen nicht allein sich nach ihren inneren Gesetzen entwickeln, sondern auch Kinder ihrer Zeit und ihrer Umgebung sind.
Wobei ich gleich bemerken möchte: es ist natürlich unmöglich, hier eine vollständige Wesensbeschreibung der seelischen Erscheinungen, wie sie sich in der Schule offenbaren, zu geben. Es soll hier nur auf die wichtigsten und grundsätzlichsten dieser Erscheinungen hingewiesen werden.
Wenn wir die Kämpfe um die Neugestaltung der Schule betrachten, so fällt uns auf, daß ihr Kernpunkt – abgesehen von den rein religiösen Fragen – das Verhältnis von Lehrer und Schüler ist. Und dieser Punkt beansprucht bei dem derzeitigen wissenschaftlichen Stand unserer Schulen, der eine erfreuliche Höhe und auch eine gewisse Ausgeglichenheit erreicht hat, zweifellos das größte Interesse. Denn er berührt unmittelbar das Seelische, das Menschliche im Schüler und Lehrer – das, wo eine Erneuerung am stärksten angestrebt wird.
Aber dieser Punkt erheischt auch eine vorsichtige Behandlung, ein Fernhalten vom Dogmatischen. Die Beziehungen von Seele zu Seele – und um solche handelt es sich bis zu einem gewissen Grade hier doch zweifellos – vertragen kein Dogma. Schon das Typisieren ist bei solchen Fragen gar gefährlich – man bedenke nur, wie leicht der Typ zur Karikatur wird. Und doch – hier ist mehr typisiert und dogmatisiert worden, als irgend sonstwo. Wo man auch sein moralisches Urteil zurückhielt – auf die Schule wandte man es uneingeschränkt an. Und zwar mit einer Primitivität, die um so verblüffender wirkt, als man weiß, daß diejenigen, die da den Lehrer schwarz und den Schüler weiß malen, sonst keineswegs so absolut in ihrem Urteil sind – und doch finden wir hier die verschiedensten Individualitäten – ich nenne Frank Wedekind, Hermann Hesse, Emil Strauß, Georg Kaiser, Otto Ernst, Leonhard Frank – in einer Tendenz vereinigt.
Wie kommen nun diese verschiedenen, vielfach in ihrem Letzten verschiedenen Geister, deren einigen man ihre hohe Bedeutung wahrlich nicht absprechen kann, zu ihrem gleichen Urteil? Sollten wirklich alle Lehrer Sadisten, Betrüger oder – bestenfalls – nüchterne Durchschnittsmenschen (Strauß) sein? Soll sich diese rein berufliche Klasse wirklich aus einer Auslese von mehr oder minder karikaturenhaften Scheusalen rekrutieren?
Schon eine ganz nüchterne Erwägung spricht dagegen: wie sollte es möglich sein, daß ein Beruf, der doch schließlich nicht gerade dem Verbrechen Vorschub leistet, ausschließlich von ausgeprägten Verbrechernaturen ausgeübt wird, während in anderen Berufen sich solche Verbrechertypen doch recht selten finden? Warum sind nicht vielmehr diese Menschen Mörder oder Hochstapler geworden, wozu sie doch zweifellos besser geboren wären?
Beruf – in diesem Worte liegt der grundlegende Irrtum der erwähnten Schriftsteller. Sie fassen den Lehrer als einen durchaus bösen Menschen auf, der aus Bosheit – um Kinder zu quälen – Lehrer geworden ist, – in Wahrheit aber ist der Lehrer ein Mensch wie jeder andere, oft stärker als jeder andere im Glauben an die Kraft seines Wirkens, in dem nur durch eine ganze Reihe äußerer Faktoren eine Reihe von Eigenschaften ausgebildet worden sind, die auf seine Gesamtentwicklung von höchstem Einfluß sind. Der Mensch wird durch den Beruf zum »Lehrer«. Eben denselben Einflüssen – und das ist der zweite Irrtum unserer Schriftsteller – sind aber auch die »Schüler« zum großen Teil ausgesetzt. Auch ihr Wesen wird durch äußere Umstände bedingt, und oft sieht sich der Lehrer dem Typus »Schüler« genauso gegenübergestellt, wie der Schüler dem Typus »Lehrer«, so daß das Seelische der Beziehungen zwischen beiden einfach durch das Überwiegen der äußeren Faktoren völlig aus dem Gesichtskreise entschwindet.
Bedingend für die Erkenntnis des Verhältnisses oder richtiger der Einzelbeziehungen von Lehrer zu Schüler ist die Erkenntnis der äußeren Faktoren. Welches sind nun diese äußeren Faktoren?
Zunächst: die Schule ist eine Vereinigung einer großen Anzahl von Menschen ohne jedes psychologische Gesetz, nach rein zufälligen Umständen. Denn daß die einzelnen Arten der Schulen vorwiegend von bestimmten Gesellschaftsklassen frequentiert werden, bringt keine seelische Schichtung mit sich – im Gegenteil, es verhindert häufig ein wahres Binden des Gleichen, des Wesensgleichen: innerhalb derselben Gesellschaftsklasse nämlich wird nur das Gleichartige, das von außen nach Sitte und Gewohnheit Gleiche gebunden.
Sodann: diese große Anzahl von Menschen besteht nicht aus reifen Individuen, sondern aus Kindern, aus Wachsenden, aus Nehmenden. Alle die Seelen, die zusammenwirken, sind von irgendeinem Zweckbewußtsein noch völlig ungebunden, ihre ursprünglichen Triebe wirken sich frei aus und ihre Urteilsfähigkeit folgt nicht der Erfahrung sondern lediglich den Gesetzen ihrer Beschaffenheit. Sie sind alle ganz und gar von ihrem Ich, ihrem Lebensbewußtsein erfüllt, beziehen alle Erscheinungen auf sich und fordern, frei von reflektierenden Gedanken, unbedenklich die volle Hingabe des Andern an ihre Persönlichkeit. Der Begriff der eigenen Verantwortlichkeit gegenüber dem Andern, der Begriff der Arbeit, der Begriff der Pflicht, kurz alle Begriffe, die ein Durchdringen des Eigenbewußtseins mit einem Bewußtsein des nicht (wie etwa die Natur der naiven Anschauung) unmittelbar zum Ich Gehörigen bedingen, sind der Kindesseele fremd und bleiben es zum guten Teile auch dann noch, wenn längst die »Erziehung« in der Schule eingesetzt hat. Das Kind ist stark im Ichgefühl und fordernd.
Und fordernden Vielen tritt nun ein fordernder Einzelner gegenüber – der Lehrer. Für alle die verschiedenen seelischen Strahlungen bedeutet seine Persönlichkeit einen Brennpunkt – alle wollen etwas von ihm, der ihnen schon durch eine gewisse Tradition in einem eigenen Lichte erscheint, blicken auf ihn mit scheuem Vertrauen – und es geschieht das Unerwartete, das, was seelisch ebensogut ein Neues, Großes wie eine Katastrophe bedeuten kann: er fordert. Und zwei Willensströme treffen aufeinander – der Glauben erschüttert, die naive Selbstwertung ins Wanken gebracht – eine neue Zeit, eine Zeit des seelischen Kampfes muß beginnen.
Und mehr noch – jener Neue tritt ihnen nicht in seinem ganzen Ich entgegen, kann nicht seine ganze Wesenheit um ihre Wesenheiten einsetzen – auch er steht unter einem Zweck, der außerhalb seines Ich liegt, er ist für sie zunächst nicht Mensch, sondern Lehrer, d.h. Vermittler eines Abstrakten, Zwingenden, in seiner Herkunft Unbeschreiblichen, der nun – im Dienste dieses zunächst außerhalb der begrifflichen Sphäre des Schülers liegenden Zweckes – Forderungen zu stellen hat.
Damit erscheinen mir die Voraussetzungen der Beziehungen von Lehrer und Schüler im Wesentlichen gegeben. Sie rühren von außen her oder richtiger: sie sind bedingt nicht durch individuelle, sondern durch allgemeine, notwendige, typische, psychologische Vorgänge. Es ist nun ohne weiteres einleuchtend, daß diese Voraussetzungen – je nach der Beschaffenheit der Beteiligten – zu ganz verschiedenen seelischen Auswirkungen führen können – es handelt sich hier nur darum, die Erscheinungen zu untersuchen, die mit einer gewissen Regelmäßigkeit und Notwendigkeit auftreten – und gerade um diese Erscheinungen, die – wie oben dargetan – nicht im Individuellen, sondern im Typischen, zeitlich und allgemein – menschlich Bedingten wurzeln, ist ja in unseren Tagen der Streit so heftig entbrannt.
Worin haben wir nun die häufigsten Auswirkungen jener Voraussetzungen zu erblicken?
Der Lehrer – ein Mensch, der viel in sich aufgenommen und verarbeitet hat, der zu einer gewissen Reife gelangt ist und der auch von einem gewissen, zweifellos berechtigten Selbstbewußtsein erfüllt ist, tritt einer psychologisch nicht einheitlichen Gesamtheit entgegen mit der Aufgabe, sie zu lehren, also im Letzten zu geben. Mit dieser Gesamtheit kommt er in Berührung – aber nicht in freie, freigewählte Berührung sondern unter dem höheren Gesichtspunkte eines Zieles. Dieses Ziel ist ihm bekannt, den Schülern zunächst nicht; er betrachtet zunächst die Klasse wesentlich nach Maßgabe dieses Zieles, die Klasse sieht ihn unbefangener an. Während er seinen Geist nur auf einen ganz bestimmten Teil der Seele einstellt – zunächst den des rein Verstandesmäßigen – tritt ihm die Seele des Kindes ihrem vollen Umfange nach entgegen. Die seelische Schichtung zwischen Lehrer und Schüler ist von Anbeginn nicht kongruent.
Das ist von höchster Wichtigkeit für die weitere seelische Ausgestaltung der Beziehung. Denn naturgemäß wird die Bewertung des Lehrers von seiten des Schülers einseitig und ungerecht. Der Schüler verkennt das Menschliche im Lehrer vor dem Verstandesmäßigen. Und da im Kinde zumeist die gefühlsmäßige Seite weit stärker ausgebildet ist als die verstandesmäßige, ja, da es (die Begründung führte zu weit) im allgemeinen zu einer Unterbewertung des Verstandesmäßigen neigt, so wird nach der ersten großen Enttäuschung gar bald ein gewisses Mißtrauen gegenüber einem Menschen platzgreifen, den das Kind seiner eigenen Wesensart gegenüber als fremd empfindet und den es – als den verstandesmäßig Überlegenen – gar leicht fürchtet.
Wie sehr das Kind im Lehrer den Menschen sucht, als wie nebensächlich es eigentlich den »Unterrichtsbeamten« ansieht, beweist ja das leidenschaftliche Interesse, mit dem es alles, was es vom Lehrer, über den Lehrer außerhalb der Schule hört, aufnimmt. Nichts wäre verkehrter und oberflächlicher, als dieses Interesse einfach als bloße Neugierde oder gar als hämisches, spottsüchtiges Nachspüren erklären zu wollen; es ist eine unmittelbare Sehnsucht nach dem Menschlichen, die das Kind ganz primitiv in dem Erkennen der äußeren Lebensumstände des Lehrers, die ihm mehr als seine Wissenschaft zum »Menschen« zu gehören scheinen, zu stillen sucht.
Noch ein Anderes macht sich gleich zu Beginn der Beziehungen zwischen Lehrer und Schüler geltend. Es geht auf die gleiche Ursache zurück wie die eben besprochene Erscheinung.
Oben wurde ausgeführt, daß die Schulgemeinschaft eine psychologische Vielheit darstellt, der die Einzelpersönlichkeit im Dienste eines Zieles gegenübertritt. Dieses Ziel läßt sich mit einer Vielheit von Menschen, die sich seiner nicht bewußt sind, nicht erreichen. Es ist vielmehr notwendig, diese Vielheit zu ordnen, das Ähnliche zu vereinen und das Unähnliche zu trennen, um damit die sonst unvermeidlichen Reibungswiderstände zu bannen. Aus dieser (nicht immer bewußt vorhandenen) Erkenntnis heraus erwächst im Lehrer der Wille zum Typisieren.
Da nun der Lehrer oft die Erscheinungen der Kindesseele nur unter dem Gesichtspunkte des Endzieles betrachtet, so wird er auch unter diesem – d.h. nach der »wissenschaftlichen Befähigung« typisieren. Hier nun freilich spielt die Sympathie des Lehrers eine gewisse Rolle – diese liegt aber jenseits des Typischen, ist nicht als in ihren psychologischen Auswirkungen konstant anzusehen und kommt daher für uns schwerlich in Betracht.
Die Folgen des Typisierens auf die Seele des Schülers werden zweifellos stark unterschätzt: das hängt mit dem häufigen Vorurteil zusammen, daß die kindliche Seele weniger empfindlich gegen äußere Einwirkungen ist als die des Erwachsenen. Auf dieses Vorurteil braucht hier nicht eingegangen zu werden – es ist längst schlagend widerlegt und längst hat man erkannt, daß das noch nicht von Erfahrungen überlastete Wesen in weit höherem Grade fähig ist, neue Erscheinungen zu schauen und zu erkennen, als das mit äußeren Einwirkungen schon gesättigte, wo nicht übersättigte.
Da nun das Kind – wie schon oben angedeutet – ganz von seinem Ich und dessen Erhaltung erfüllt ist, so empfindet es das Typisieren, das ihm stets eine Reihe von wichtigen Wesensseiten nimmt, das Einordnen in eine Gruppe, der es seinem Innern nach weit weniger nahesteht als vielleicht der Typisierende meint, geradezu als einen Angriff auf das Ich.
Ferner reizt das Nüchterne, Verstandesmäßige, Kalte die junge Seele, die nun einmal Wärme braucht, aufs Heftigste auf. Es ist schon einem reifen Menschen nicht angenehm, zu wissen, daß seine Seele seziert wird, einem Kinde aber, in dessen Unterbewußtsein ständig das Gefühl der Schwäche mitschwingt, ist aber das Beobachtet-, Klassifiziertwerden geradezu unerträglich.
Zum guten Teile kann man die Abneigung des Schülers gegen Note und Zeugnis – die Symbole des Typisierens – auf das Konto jener schablonenfeindlichen Empfindung setzen – sie muß nicht unbedingt aus Angst erwachsen.
Ferner erklärt diese Empfindung eine sonst schwer begreifliche Erscheinung: daß sich die Schüler oft gerade am stärksten zu den Lehrern hingezogen fühlen, die im Letzten gar keine Lehrer sind. Denn diesen Männern – es sind zumeist künstlerische Naturen – geht der Sinn für die Schablone, für das Typisieren gewöhnlich ab:
sie sind innerlich zu reich, um ihr Gefühlsleben – selbst dort, wo es das »Ziel« erheischt – aus dem Unterricht ausschalten zu können, selbst zu kompliziert, um die Seelen anderer als einfach sehen zu können.
Nach den beiden vorgenommenen Untersuchungen (1. Inkongruenz der seelischen Lagerung, 2. Wille zum Typisieren) ist es wohl klar, daß die Schwierigkeiten der Beziehungen zwischen Lehrer und Schüler – soweit sie vom Schüler ausgehen – wesentlich im Gemütsleben des Kindes begründet sind: dieser Eindruck bestätigt sich bei Betrachtung der dritten Erscheinung in der Seele des Schülers, die nach meiner Ansicht entscheidend ist, weil ihre Wurzeln viel tiefer liegen, als in Organismus und Form der Schule.
Denn – solange ein reifer Mensch im Leben gezwungen ist, etwas zu leisten, solange muß er sich in der Vorbereitungszeit Kenntnisse, d.h. das Wissen und Verstehen von Tatsachen und Gesetzen aneignen.
Ebenso wird aber jeder junge Mensch – wenn man von dem »Musterknaben«, der zielstrebigen Natur absieht – zunächst sich selbst leben wollen, zunächst: nehmen – einfach dem überstarken Selbsttriebe folgend.
Diese beiden Notwendigkeiten prallen in der Schule – wie vielerorten – aufeinander und wirken bestimmend ein auf die Gestaltung der Beziehungen zwischen Lehrer und Schüler.
Der Schüler wartet – für das kleinere Kind ist der Lehrer der Mann, der mit ihm und noch vielen anderen seine Zeit zubringt, ihm allerlei Schönes erzählt und spielt – nur dunkel fühlt es, daß die Schule ein Neues, ein bis jetzt Unbekanntes bedeutet. Und nun kommt der Lehrer und will seinerseits – fordert seinerseits, und fordert im Dienste eines verstandesmäßigen Zieles, dem der Schüler durchaus fremd gegenübersteht.
Nach der ersten, vielfach entscheidenden Enttäuschung, nachdem sich der Schüler mehr oder minder damit abgefunden hat, daß man etwas von ihm fordert, daß er »arbeiten« muß, wird dann dem Schüler rasch eine zweite bereitet. Schnell findet er einen Wissenszweig, der ihm besonders zusagt, in dem er aufgeht, und in ihm entwickeln sich seine besonderen Neigungen und Fähigkeiten. Da zwingt ihn der Lehrer – immer selbst im Dienste des »Zieles« – sich gerade mit dem zu beschäftigen, was ihm nicht liegt, er beginnt einen festen Widerstand zu fühlen, dem Machtmittel zu Gebote stehen, die ihre Wirkung auf die Seele nicht verfehlen können.
Und nun – Druck entwickelt Gegendruck – wird im Schüler der Widerstand wach. Durch die vorhin erörterten seelischen Einwirkungen wird bereits eine Atmosphäre des Mißtrauens geschaffen, nun kommt – erst instinktiv, dann mehr und mehr bewußt erlebt – der Haß auf. Zunächst der Haß in seiner primitivsten Form, einfach ein plötzlicher Widerstand gegen überstarke äußere Einflüsse, dann immer mehr von andern seelischen Elementen – Neid, Rachsucht und besonders (wovon noch zu reden sein wird) Spieltrieb – durchdrungen.
Alle diese Erscheinungen sind noch verhältnismäßig harmlos, lassen sich durch einen Lehrer, der sie rechtzeitig erkennt, auch noch überwinden – doch sie stehen in engstem Zusammenhang mit dem gefährlichsten Vorgange der seelischen Beziehungen von Lehrer und Schüler.
Alle bisher betrachteten Erscheinungen wurzeln im Gemütsleben des Kindes. Das Gemüt ist dem Kinde das primäre, derjenige Teil seiner Wesenheit, auf den es zunächst die Eindrücke des Lebens bezieht. Deshalb ist das Gemüt auch schon in früher Jugend hoch entwickelt und fähig, feinste Lebensregungen aufzunehmen und zu verarbeiten: frühzeitig hat das Gemüt schon eine gewisse Reife erreicht.
Ganz anders der Verstand. Der Kern seines Wesens ist zwar von Anbeginn vorhanden; er hat aber noch zu wenig Stoff in sich aufgenommen, um selbständig wirken zu können. In der Schule nun wird selbständiges Wirken des Verstandes gefordert, und die neue seelische Ausdrucksform bietet dem Kinde mannigfache Anregung.
Der Lehrer tritt ihm als Verstandeswesen entgegen; gegen den Lehrer lehnt sich seine Empfindung heftig auf – was liegt nun näher, als daß es ihn auf dem nach seiner Ansicht eigensten Felde – dem der verstandesmäßigen Überlegungen – bekämpft, nun auch seinerseits typisiert?
Auf diese Weise kommt im Kinde das Werturteil über den Lehrer zustande, ein Urteil, das, da es von vornherein von einer falschen Voraussetzung, die in der inkongruenten seelischen Schichtung in beider Beziehungen und den Lehrer als Verstandesmenschen betrachtet, ausgeht, und da es ferner mit unzulänglichen seelischen Mitteln gefällt wird, notwendig in wesentlichen Teilen unrichtig sein muß.
Wenn jedes Urteil subjektiv bedingt ist, so ist es das des Kindes zweifellos in besonderem Maße. Es ist berechtigt, solange es nicht über seine subjektive Bedingtheit herauswächst – macht es Anspruch auf objektive Gültigkeit, so wird es in seinen Wirkungen verhängnisvoll.
Freilich – zunächst geht ja das kindliche Werturteil durchaus vom Ich aus. Erfragt wird es etwa in der Alternative: Ist dieser Lehrer gut? Oder ist er streng? »Streng« ist eine ganz richtige Einschränkung des Urteils »böse« in »für mich böse« – denn so faßt das Kind ja den Begriff »streng« zweifellos auf.
Aber dieses Einschränken – es ist seiner Herkunft nach schwer zu erklären – schwindet bald und mit ihm der gefühlsmäßige Zusammenhang des Urteils mit dem Ich. Das Urteil wird nun geradezu formelhaft, wird zum Vorurteil gegen den Begriff »Lehrer« überhaupt – und damit ist das Verhältnis von Lehrer und Schüler in seinen Grundlagen erschüttert.
Bestimmend für die seelischen Beziehungen zwischen Lehrer und Schüler wirkt das Aufstellen und Annehmen subjektiv bedingter und erstarrender Werturteile von seiten des Schülers.
Denn – jener Geist der grundsätzlichen Ablehnung der Erziehenden bringt naturgemäß eine seelische Reaktion im Lehrer mit sich.
Dem Lehrer ist zur Erreichung seines Zieles eine Reihe sehr starker Machtmittel in die Hand gegeben worden. Diese Machtmittel wendet er gegen den Widerstand an, um ihn zu brechen: das gelingt ihm wohl im Einzelnen, aber nicht im Grundsätzlichen; der Widerstand ist stark.
Und nun beginnt in ihm – oder kann wenigstens beginnen – eine ganze Reihe seelischer Faktoren sich zu entwickeln.
Der Schüler empfindet den Lehrer als Nehmenden – der Lehrer ist aber vielmehr ein Gebender und ist sich dessen wohl bewußt – er empfindet sich also vom Schüler nicht allein falsch, sondern unter-bewertet – und wessen Seele kann das leicht ertragen? Er ist der Überlegene an Alter, Reife, Wissen – ihm Unterlegene treten ihm entgegen, und lebendig wird ihm der Wille zur Macht, und zwar in einer ganz spezifischen Form: der des geistigen Hochmutes. Der Lehrer tritt dem Schüler auf dieser Entwicklungsstufe etwa mit der gleichen Seelengebärde entgegen, mit der ein Mensch körperlich einen Schwarm lästiger, kleiner Mücken abwehrt – und die Folge hiervon wieder braucht kaum mehr ausgeführt zu werden.
Wird nun (und wie bald geschieht das) im Lehrer der Gegensatz bewußt, so entsteht auch in ihm ein Werturteil.
Der Lehrer übersieht – darin dem Schüler gar nicht unähnlich – das Triebhafte im Verhalten des Schülers; das ist sehr leicht begreiflich, weil ja der Schüler – wie oben ausgeführt – mit Vorliebe dem Lehrer gegenüber sich eine Verstandesmaske aufsetzt. Viele der entscheidenden seelischen Vorgänge im Kinde sind dem Lehrer im Laufe der eignen Entwicklung völlig fremd geworden, besonders dem Spieltrieb, der in seiner Bedeutung kaum hoch genug angeschlagen werden kann (Grausamkeit!), steht er verständnislos gegenüber, empfindet ihn als nur feindlich, ohne ihn in einem höheren Sinne als dem der Fröbelmethode dem Ziele nutzbar machen zu können. Und das alles schafft in ihm ein moralisches Werturteil, dem die Objektivität durchaus abzugehen pflegt, das schon deshalb sehr gefährlich ist, weil man an die kindliche Seele nicht mit der üblichen Moral-Maschinerie (als deren Schwungrad der »schlechte Charakter« anzusehen ist) herangehen darf, weil deren Getriebe sie zermalmt.
Und doch ist es wiederum begreiflich, daß der Lehrer gerade zu einem moralischen Urteile gelangt. Fast jeder Lehrer (wenn er auf diesen Namen überhaupt Anspruch machen will) gibt sich seinem Berufe hin, getragen von Idealen, von Idealen, deren Nichterreichbarkeit er in den weitaus meisten Fällen nur allzu rasch erfahren muß. Unerfüllte Ideale führen aber fast stets zu ethischen Werturteilen: das Ethos, das die Sehnsucht nach dem Unerreichbaren erweckt, wird sich in erster Linie auch gegen das Nicht-Erreichen-Können aufbäumen.
Ein wichtiger Gradunterschied besteht zwischen den Entwicklungsformen bei Lehrer und Schüler: im Lehrer (dem gereiften Menschen) wird sich die Entwicklung fast stets viel individueller vollziehen als im Schüler. Freilich – auch beim Lehrer bilden sich – je nach der Entwicklungshöhe der Persönlichkeit – bestimmte Typen heraus.
Nur einen Typus möchte ich erwähnen, einen Typus, den ich eigentlich als tragisch empfinde: in dem im Laufe der Zeit guter Wille, Geisteshochmut, Skepsis und Resignation zu einer eigentümlichen, schroffen und weichen, weh-ironischen Einheit geworden ist – ein Typ, tragisch schon deshalb, weil er wie kein anderer gehaßt wird: der des »Wohlmeinenden«.
Noch einiges wäre zu bemerken über die Entwicklung im älteren Schüler.
Auf den ersten Blick erscheint diese sehr weit entfernt von der des jüngeren – ist es aber in Wirklichkeit nicht. Zwei Momente sind hier entscheidend.
Zunächst: im werdenden Manne wird das Persönlichkeitsbewußtsein lebendig; er empfindet sich viel stärker als eine Einheit denn früher, und seine Hingabefähigkeit wird vermindert oder richtiger gesagt konzentriert; hinzu kommen Elemente der rein körperlichen Entwicklung, und im Jüngling erwacht und erstarkt die Gefühlsscham, die alle die oben beschriebenen Erscheinungen nicht etwa aufhebt, sondern nach innen richtet, sie gleichsam latent und darum manchmal (Freund Hein!) besonders intensiv zum Erlebnis bringt.
Um ein Beispiel zu nennen: während früher der Schüler fragt: ist dieser Lehrer gut? oder streng?, wird er nun fragen: kann er etwas? oder kann er nichts?, ohne daß doch darum im Wesentlichen – der zugrunde liegenden Empfindung – ein Unterschied besteht: das Intellektuelle der Frage ist nur ein Mantel, den die Gefühlsscham der ursprünglichen Empfindung umlegt.
Hiermit sind viele Erscheinungen erklärt, die wesentlich von den früheren verschieden scheinen, ohne es zu sein: die Gefühlsscham stellt ein gleichsam positives, verinnerlichendes Entwicklungsmoment dar. Ein negatives tritt hinzu.
Oben wurde ausführlich von der Aufstellung subjektiv bedingter und unrichtiger Werturteile geredet, von der verhängnisvollen Wirkung der Einstellung des Kindes auf das Nur-Verstandesmäßige. Diese Werturteile sind ursprünglich zweifellos durch innerlich wahrhaftige Seelenvorgänge geschaffen: ihr seelischer Kern beginnt jedoch mit der Zeit zu schwinden, und dann erst setzen jene gefährlichsten Wirkungen ein.
Das geschaffene, absprechende Werturteil geht zunächst in das Bewußtsein des Urteilenden über, er beginnt es in jeder Faser zu leben und unbedingt zu glauben. Er äußert aber auch sein Urteil, solche hören es, die es nicht erlebt haben, es schleift sich ab, wird als selbstverständlich empfunden, wird schließlich traditionell, wird schließlich zur Lüge. Und schließlich kommt es dahin, daß schon der Begriff Lehrer a priori verurteilt und gehaßt wird, ohne daß der Schüler noch das Menschliche zu erfühlen imstande ist. Und was liegt auf dieser Entwicklungsstufe näher, als den verhaßten Begriff »Lehrer« für vogelfrei zu erklären? Jedes Mittel – auch das unvornehmste und niedrigste – im Kampfe gegen ihn zu sanktionieren, jede Lüge ihm gegenüber zu rechtfertigen. Und die Krone der Entwicklung ist dann, wenn die Vielen ihre Macht gegenüber dem Einzelnen empfinden, sich zusammenschließen, eine Interessengemeinschaft zu bilden, um ihn – vielfach unter dem Titel »Kameradschaft« – zu bekämpfen, ihn seelisch zu vernichten ...
Wohl bin ich mir der Tatsache bewußt, daß die hier dargestellten Entwicklungsmöglichkeiten nicht die alleinigen sind; im Gegenteil, wohl in der Mehrheit der Fälle wird die Entwicklung anders, freundlicher verlaufen, als hier dargestellt. Eine starke und reife Lehrerpersönlichkeit wird stets die entscheidenden Augenblicke erfühlen und die Spannung lösen. Aber dort, wo die Beziehungen gedeihlich sind, ist ja eine Reform nicht nötig: die Schattenseiten sind es, wo jenes Neue einsetzen soll, in dessen Dienst sich auch unsere Zeitung stellt*. Und um Besserung zu schaffen, ist eines not: völlige, unverhüllte Erkenntnis des Tatsächlichen und seiner Verkettungen. Sollte diese Arbeit zu jener Erkenntnis beigetragen haben, so hätte sie ihren Zweck erreicht.
Fußnoten
* Gemeint ist die »Frankfurter Schüler-Zeitung«, deren erste Nummer im Oktober 1919 erschien; sie enthielt u.a. ein Geleitwort von Reinhold Zickel (vgl. unten, S. 756ff.) und den ersten Teil des vorliegenden Aufsatzes von Theodor W. Adorno, der mit zwei weiteren Obersekundanern auch verantwortlich für die »Frankfurter Schüler-Zeitung« zeichnete.
Die Natur, eine Quelle der Erhebung, Belehrung und Erholung
Abituriums-Aufsatz
Das Wort »Natur« bedeutet in seinem allgemeinsten Sinne die Gesamtheit des unbewußten Daseins schlechthin. Zwar verengte der oberflächliche Sprachgebrauch diese Bedeutung, doch ohne sie grundsätzlich zu ändern. Der Ausdruck etwa »in die Natur gehen« besagt dem Grundgefühl nach nichts anderes, als das unbewußte Dasein aufsuchen dort, wo es in der Erscheinungswelt am deutlichsten ausgeprägt ist. Daß sich der einfache Mann unter der Natur den Wald vorstellt, zeugt lediglich davon, daß er unfähig ist, das Erlebnis der Natur in eine begriffliche Form zu fassen, und es darum mit einer rein sinnlichen Vorstellung zu bannen strebt. Das Erlebnis selbst aber stimmt mit der Wortbedeutung überein.
In einer Hinsicht freilich hat sich diese Wortbedeutung allmählich geändert: nicht qualitativ jedoch, sondern quantitativ. Die geschichtliche Entwicklung der letzten Jahrhunderte hat den Menschen dem unbewußten Dasein immer mehr entfremdet. Als die abendländische Kultur zur Civilisation geworden war, entfloh das Unbewußte und ließ den Menschen einsam die Verzweiflung seiner ganz wissenden Seele tragen. In das Unbewußte, das ihn umgab, trug er, unfähig es zu durchseelen, seine Bewußtheit, indem er es völlig auf menschlichen Zweck umstellte und ihm den letzten Rest von Daseinshaftigkeit austrieb: es entstand die Maschine. Aber je quälender die Vereinsamung im Bewußten ward, um so stärker wuchs die Sehnsucht, das verlorene Unbewußte wiederzugewinnen. Natur war nicht mehr Heimat, sondern Ziel; sie wurde im Gegensatz erlebt zum Bewußten und Allzubewußten, zum Mechanisierten. Mit Rousseaus Lehre von der Rückkehr zur Natur fand erst der Naturbegriff seine eigentliche Betonung. Heute ist uns Natur nicht mehr nur unbewußtes Dasein, sondern unbewußtes Dasein im Gegensatz zur bewußten Civilisation.
Fragen wir: inwiefern ist uns die Natur eine Quelle von Erhebung, Belehrung und Erholung?, so heißt das: wodurch kann das im Gegensatz zur bewußten Civilisation erlebte, unbewußte Dasein fördernd auf uns wirken?
Unendlich vielfältig ist unsere Seele, unendlich vielfältig ist die Natur: darum umschließen die Wirkungen der Natur auf uns eine Welt, vom Stofflichsten bis zum Geistigsten aufsteigend. Die Natur beschenkt alle, aber ihre edelsten Geschenke werden nur den Auserwählten zuteil.
Das unbewußte Dasein ist die Mutter alles Daseins überhaupt: aus dem Unbewußten wächst alles Bewußte hervor. Und gütig wie eine Mutter ist das Unbewußte, kehren wir zu ihm zurück, so empfangen wir die verlorene Stärke zurück, die uns das Um-Alles-Wissen, das ein Um-Alles-Kämpfen bedeutet, vordem geraubt hat.
In der Natur gibt es keinen Zwiespalt von Geist und Erscheinung; glauben wir überhaupt ein Geistiges, so finden wir es in der Natur im Sinnlichen gestaltet. Darum dürfen wir in der Natur Sinnliches stets als Sinn-Bild fassen und deuten.
Wir holen in der Natur unser verlorenes Wesen, wir erholen uns selbst: das dürfen wir aus dem Körperlichen schon erschließen. Wer je nach Stunden angestrengter Arbeit in den Wald ging und ruhte oder besser noch: wer je in den Wald ging, um dort geistig zu arbeiten, wird erlebt haben, daß im Atem der freien Luft der eigene Atem sich weitete, daß im weichen ruhigen Grün der Bäume das gequälte Auge Weichheit und Ruhe fand, daß auf dem elastischen Boden der Schritt elastisch wurde.
Und dann geschah es wohl, daß Geist und Körper, sonst voneinander abgetrennt, für Stunden wiederum eins wurden, daß rätselhaft die Seele aus dem Körper neue Kraft sog und schöpferisch wurde und alle Hüllen ihrer Gebundenheit abwarf und nur noch da war, sie selbst, die sich gefunden.
Erholung ist ein Heimfinden zu sich. Der niedere Mensch erholt sich, indem er heimfindet zum Tier, der hohe, indem er heimfindet zum Geist. Die Natur aber ist allen die große Heimat. Darum können alle zu sich heimfinden in der Natur, alle sich erholen.
– Alle Erholung aber bleibt auf das Ich beschränkt. Sie hat keine Macht über die Welt, mit der das Ich sich auseinandersetzen muß. Daß das Ich auch die Welt ergreift und begreift und gestaltet, dazu hilft die Natur auf andere Art: durch die Belehrung.
Lernen können wir aus allem, was uns als Erscheinung entgegentritt: die Möglichkeit unserer Erkenntnis umschließt die gesamte Erscheinungswelt. Aber das Bewußtsein, das wir in die Dinge trugen, hat vielerorten ihr wahres Sein verfälscht, indem es die Fülle des Gegenständlichen nach dem Maßstabe menschlichen Wertebewußtwerdens (Wertebewußtsein ist nur ein Teil des Bewußtseins) beschränkte und verengte. Das war notwendig, aber gefährlich: notwendig, weil nur im Menschen das Unbewußte Gestalt finden kann, gefährlich, weil es drohte, den Menschen zum Maß aller Dinge werden zu lassen und ihn unehrfürchtig zu machen. Dieser Gefahr entgeht er, wenn er in seinem Streben nach Erkenntnis zum unbewußten Dasein zurückkehrt, zur Natur.
Die Natur wirkt belehrend zunächst durch die Fülle von Erscheinungen, die der Mensch aufnimmt. Diese Fülle durchdringt ihn, ohne daß er eine menschliche Zweckidee darin zu finden vermöchte, und offenbart sich ihm darum in ihrer ganzen Reinheit. Die Erfahrungen in der Natur sind unvergleichlich viel grundsätzlicher und gültiger als alle in der Gesellschaft, weil keine Bewußtseinskomplizierungen sie umhüllen. Von allen Erfahrungen sind die der Natur am unverfälschtesten und darum der reinen Erkenntnis am nächsten.
Aber die Erkenntnisse, die die Natur dem Menschen übermittelt, bleiben nicht auf das Bereich des Nur-Erfahrunghaften beschränkt. Schon im Erfahrunghaften offenbaren sich durch den bloßen Ablauf der Naturgeschehnisse die Kausalgesetze: wenn Wolken am Himmel hängen, regnet es, wenn warmer Regen fällt, knospen die Pflanzen, das menschliche urteilende Bewußtsein greift über diese Erfahrungstatsachen hinaus, nachdem es ihren ursächlichen Zusammenhang aufgewiesen hat, und gelangt schließlich synthetisch zur Erkenntnis, daß ein ursächlicher Zusammenhang alles Naturgeschehen bedingt, daß die Natur nicht Chaos, sondern Kosmos ist.
Diese Erkenntnis ist entscheidend für die Gestaltung der Weltanschauung des Menschen. Sie zeigt, daß selbst im Unbewußten alles zweckhaft und sinnhaft geschieht, absolut zweckhaft, nicht unter dem Blickpunkte des Menschen. In den Verkettungen des Bewußten könnten wir zu dieser Erkenntnis kaum je gelangen, obwohl wir gerade dort sie vorauszusetzen pflegen, sondern würden in den Widersprüchen der bewußten Seele müde entsagen. Die Natur aber kann uns lehren: daß alles Dasein sinnvoll ist.
– Durch Erholung kann die Natur das Ich zu sich zurückführen, durch Belehrung ihm die Welt als Kosmos, als ein sinnvolles Ganzes entgegenstellen. Und noch ein drittes vermag sie: sie kann den Menschen aus der Vereinzelung des Ichhaften in die sinnvolle Ganzheit, ins Kosmische emportragen, sie kann ihn erheben.
Das Naturerlebnis vermittelt dem Menschen zunächst andere Größen- und Wertevorstellungen, als er sie im Bereich des Bewußten zu empfangen pflegt. Er, gewohnt, alle Dinge nach sich zu messen, sieht sich einer Welt gegenüber, die sich mit diesem Maße gar nicht messen läßt. Der Mensch, der in seinem Eigenleben immer wieder die Tragik des Gebundenseins im Endlichen erleben muß, darf in der Natur die Unendlichkeit erleben, das unendlich Große ebenso wie das unendlich Kleine. Die gleiche Fülle der Welt, der er seine gültigsten Erfahrungen dankt, führt ihn über das Begreifbare hinaus zum Unbegreifbaren und zwingt ihn zur Ehrfurcht. Und dieser Zwang ist der schönste: nur den Kleinlichen macht er klein, der Große wächst in seiner Ehrfurcht empor zum Unbegreifbaren, er ist, mit des Dichters Worten zu reden, ein Funke nur vom heiligen Feuer, ein Dröhnen nur der heiligen Stimme.
Wäre die Natur sinnlos – dann freilich müßte sie das Ich zerschmettern. Aber die Erkenntnis hat sie als sinnvoll erwiesen. Und der ehrfürchtige Mensch kann in der Natur den Geist finden, weil er den Sinn finden muß. Der Geist ist in der Natur als Gesetz gestaltet: und so erlebt der Mensch das Gesetz, gegen das er in seinen Lebenskreisen stündlich sich auflehnen möchte, im Unbewußten wirkend, und eine Ahnung fällt in ihn, daß dies große Gesetz auch seiner Seele die Bahnen vorschreibt wie den Sternen. Dann weiß er sich eins mit den Sternen und allen unbewußten Dingen um ihn, die alle vom Geist-Gesetz voll sind und schwer wie Früchte an dem Baum: Gott.
Und noch eines erhebt ihn, ein Wiederfinden: er, der die Seele im Bewußten verlor, findet sie wieder im Unbewußten. Das Irrationale hat er aus seinem Bereich verdrängt: nun sieht er es im Baum und hört es im Bach. Er muß feine Augen haben und feine Ohren: aber dann begegnen ihm leise und mit großen guten Augen all die heimlichen Dinge, die den feinen Maschen seines Begriffsnetzes entschlüpft waren. Darum ist die Natur von all dem Volk geliebt worden, das auf heimliche Dinge geht wie die Zigeuner auf Diebstahl, von Dichtern und Musikanten und Taugenichtsen, aber auch von denen, die ums Letzte und Heimlichste kämpfen mit dem wachen Mut verwegener Gedanken; sie haben alle die Natur geliebt, Goethe und Hölderlin, Schubert und Mahler, Eichendorff und Nietzsche und Maupassant; alle diese ungleichen Menschen haben sich verloren, um sich zu finden, sie haben ihre Seele gefunden, sie wurden erhoben in ihre Heimat.
– Es soll nicht geleugnet werden, daß in diesem Sich-Verlieren Gefahr ist; daß weiche und schwache Menschen in die Natur gehen können, nicht um sich zu verlieren, nicht um sich zu finden, sondern um sich zu fliehen. Aber wenn sie sich nicht wiederfinden: ist es ein Schaden? Nein. Die Natur ist ihnen auch nur das, was ihnen alles ist: die Dekoration für ihr armseliges, kleines Ich, der Hintergrund, vor dem sie ihre Szenen mimen.
Denen aber, die Mut haben zum Leben, ist in unserer späten müden Zeit die Natur die letzte Wurzel der Kraft. In dem Naturerlebnis vollzieht sich die Gestaltung der Welt im Ich: eine gestaltete Welt geht in ein gestaltetes Ich sinnvoll ein, leuchtend im Abglanz des Göttlichen. Die Welt aber im Ich zu gestalten, ist der Sinn des Lebens. Nur durch die Gestaltung der Welt wird das Ich Persönlichkeit.
Dies Ziel zu erreichen, gibt uns die Natur den starken Auftrieb. Wir wollen ihr dankbar sein.