Wilhelm Furtwängler
Die Aktualität Wilhelm Furtwänglers scheint mir heute daran ablesbar, daß in der Breite der musikalischen Interpretation etwas fehlt, was Furtwängler in höchstem Maße besaß: das Organ für musikalischen Sinn, im Gegensatz zum bloßen Funktionieren, wie es als Ideal im Anschluß an Toscanini in die musikalische Welt kam. Man könnte sagen, daß Furtwängler etwas wie ein Korrektiv sei für eine bestimmte Art des nur an der Perfektion des Apparates ausgerichteten Musizierens.
Ich selbst habe meine erste Erinnerung an Furtwängler aus meiner frühesten Jugend, – ich war 16 Jahre alt. Mein damaliger Kompositionslehrer Bernhard Sekles sagte mir, ich müsse unbedingt am Abend den Tristan besuchen; ein junger Kapellmeister aus Mannheim, Wilhelm Furtwängler, dirigiere, und so etwas hätte es noch nicht gegeben. Ich war völlig überwältigt; vielleicht darf ich hinzufügen, daß Furtwängler zu dieser Zeit keineswegs berühmt war. Die beseelende Kraft seines Dirigierens ist bis in die letzte motivische Verästelung der Musik gedrungen, es gab keine tote Note, das überwog jedes Interesse an der Schlagtechnik. Furtwängler war überhaupt nicht das, was man einen Dirigiervirtuosen nennt, kein sogenannter geschickter Dirigent. Seltsam, daß er trotzdem den größten äußeren Erfolg hatte, zu einem solchen Star wurde: kein schlechtes Zeichen für die musikalische Kultur jedenfalls der Aufnehmenden seiner Epoche.
Man sagt leichthin, das Dirigieren von Furtwängler sei subjektivistisch gewesen und meint das – gemessen an neusachlichen Vorstellungen – kritisch und herabsetzend. Nun war er sicherlich insofern subjektiv in seinem Musizieren, als jeder Takt, den er schlug, vermittelt war durch seine außerordentlich hochgesteigerte Sensibilität. Aber niemals hat bei ihm die Subjektivität sich um ihrer selbst willen bekundet, sondern war an der Darstellung der Sache diszipliniert. Ihm ging es darum, das subjektive Moment in den Texten zu erwecken, in denen es geronnen ist, nicht sich, sein zufällig individuelles Gefühl zu Gehör zu bringen.
Trotz des Hanges von Furtwängler zur Romantik – zu seinen großartigsten Leistungen gehörte die C-Dur-Symphonie von Schubert, die Freischütz-Ouvertüre, vor allem auch Bruckner –, trotz dieses Hanges zur Romantik war er nicht das, wofür man ihn heute so gern hält, ein reiner Ausdrucksmusiker, sondern er hat alle überhaupt sinnverleihenden Momente des musikalischen Zusammenhanges herausgearbeitet. Er hat, wie man das heute wohl nennen würde, musikalisch strukturell gedacht. Es war sicherlich kein Zufall, daß er eine so starke Beziehung zu den Theorien von Heinrich Schenker hatte und dem Vernehmen nach ihn immer wieder konsultierte, wohl gar in gewissem Sinn als dessen Schüler gelten darf.
Wollte ich versuchen, mit einem Wort die Idee Furtwänglers – ich meine die objektive Idee, nicht das, was er wollte, sondern was durch ihn sich verwirklichte – zu formulieren, so müßte ich wohl sagen, es wäre ihm auf die Rettung eines bereits Verlorenen angekommen; darauf, dem Interpretieren das wiederzugewinnen, was es im Augenblick des Verblassens verbindlicher Tradition einzubüßen begann. Dies Rettende verlieh ihm etwas von der übermäßigen Anstrengung einer Beschwörung, der das, was sie sucht, rein unmittelbar schon nicht mehr gegenwärtig ist.
War seine Idee das Retten von Musik, die dem Bewußtsein entsinkt, dann wäre es wohl an uns, im gleichen Geist das Bild der Musik zu erretten, das in ihm noch einmal lebendig war.
1968