A. Das Problem:
Widerspruch in Husserls Dingtheorie
Als transzendentaler Idealismus will Husserls Phänomenologie verstanden werden. Bewußtsein gilt ihr als »Seinssphäre absoluter Ursprünge«1; Bewußtsein »urteilt über Wirklichkeit, fragt nach ihr, vermutet, bezweifelt sie, entscheidet den Zweifel und vollzieht dabei ›Rechtsprechungen der Vernunft‹«2; im »Wesenszusammenhang des transzendentalen Bewußtseins« müsse sich »das Wesen dieses Rechtes« – der rechtsprechenden Vernunft – »und korrelativ das Wesen der ›Wirklichkeit‹ ... zur Klarheit bringen lassen«3; »prinzipiell stehen«, heißt es weiterhin, »in der logischen Sphäre, in derjenigen der Aussage ›wahrhaft-‹ oder ›wirklich-sein‹ und ›vernünftig ausweisbar-sein‹ in Korrelation«4. Es ist hier nicht zu fragen, womit sich die erkenntnistheoretische Legitimität des »Wesenszusammenhanges des transzendentalen Bewußtseins«, womit sich das »Wesen des Rechtes der rechtsprechenden Vernunft« ausweise; auch nicht, ob der Begriff der »logischen Sphäre« einen einsichtigen und eindeutigen Sinn umschließe. Wohl aber soll geprüft werden, ob Husserl seine erkenntnistheoretischen Analysen tatsächlich im Rahmen einer rein auf das Bewußtsein als den Rechtsgrund der Erkenntnis gerichteten Phänomenologie vollzieht, ob seine Philosophie dem Anspruch des transzendentalen Idealismus genügt. Diese Frage wird mittelbar gefordert vom Gedankengang der »Ideen zu einer reinen Phänomenologie« selbst: tritt doch in Husserls erkenntnistheoretischem Hauptwerke ein fundamentaler Widerspruch zutage, der nicht anders sich erklärt als durch Beantwortung eben jener Frage. Ihn gilt es zunächst herauszustellen.
Alle Erkenntnis ist für Husserl fundiert in »originär gebender Anschauung«: »das unmittelbare ›Sehen‹, nicht bloß das sinnliche, erfahrende Sehen, sondern das Sehen überhaupt als originär gebendes Bewußtsein welcher Art immer, ist die letzte Rechtsquelle aller vernünftigen Behauptungen«5. Läßt man außer acht, daß die Scheidung von »erfahrendem Sehen« und »Sehen überhaupt« nicht zu voller Klarheit gedeiht, so darf dies jedenfalls als Sinn der Husserlschen These festgehalten werden: die unmittelbar gegebenen Tatsachen des Bewußtseins, unsere Erlebnisse, sind der Grund aller Erkenntnis. Dem entspricht auch das »Prinzip aller Prinzipien«, das besagt, es sei »jede originär gebende Anschauung eine Rechtsquelle der Erkenntnis«, und es sei »alles, was sich uns in der ›Intuition‹ originär, (sozusagen in seiner leibhaften Wirklichkeit) darbietet, einfach hinzunehmen, als was es sich gibt, aber auch nur in den Schranken, in denen es sich da gibt«6. Auch hier bleibt eine Unklarheit bestehen: der Begriff der »leibhaften Wirklichkeit« bezeichnet offenbar einen dinglichen Zusammenhang, während »originäre Gegebenheit« doch phänomenale Gegebenheit ist; allein der Nachsatz, der postuliert, man dürfe originäre Gegebenheiten hinnehmen nur in den Schranken, in denen sie gegeben sind – d.h. eben als Tatsachen des Bewußtseins –, scheint jedes naturalistische Mißverständnis radikal abzuwehren. Dem entspricht auch die Absicht der »phänomenologischen epoxh«, die die reine Bewußtseinsregion, frei von dinglichen Transzendenzen, erschließen soll; zwar ›geben wir die Thesis‹ – der »natürlichen Einstellung«7, d.h. das »natürliche Weltbild«8 – »nicht preis«, aber wir setzen sie »gleichsam ›außer Aktion‹, wir ›schalten sie aus‹, wir ›klammern sie ein‹«9. Husserl sucht die phänomenologische epoxh abzugrenzen von »derjenigen, die der Positivismus fordert«; es handele sich »jetzt nicht um Ausschaltung aller die reine Sachlichkeit der Forschung trübenden Vorurteile, nicht um die Konstitution einer ›theorienfreien‹, ›metaphysikfreien‹ Wissenschaft durch Rückgang aller Begründung auf die unmittelbaren Vorfindlichkeiten«10, sondern es gelte »die ganze, in der natürlichen Einstellung gesetzte, in der Erfahrung wirklich vorgefundene Welt, vollkommen ›theorienfrei‹ genommen, wie sie wirklich erfahrene, sich im Zusammenhange der Erfahrungen klar ausweisende ist, ... uns jetzt nichts«11. Indessen ist diese Abgrenzung nicht mit Schärfe durchgeführt und kann es nicht sein. Keine wie immer positivistisch geartete Erkenntnistheorie würde sich auf »positivistisch oder andersbegründete Theorien und Wissenschaften, die sich auf diese Welt beziehen«12, stützen, da sie ja deren Erkenntnisanspruch der Kritik unterwirft; andererseits aber ist nicht gesagt, was Husserl dem »Rückgang aller Begründung auf die unmittelbaren Vorfindlichkeiten« (d.h. doch wohl die Erlebnisse) entgegenstellen will, da er doch selbst immer und immer wieder die originär gebende Anschauung als Rechtsquelle der Erkenntnis anerkennt – es sei denn, daß seine Polemik gegen den Rückgang der Begründung auf die unmittelbaren Vorfindlichkeiten in Wahrheit gegen die naturalistische Auffassung sich richtet, die »Sachen« und »Natursachen« identifiziert13, gegen die Auffassung also, die den »unmittelbaren Vorfindlichkeiten« bereits eine äußere Naturwirklichkeit zugrunde legt. Jedenfalls ist Husserls Frage: »Was kann denn übrig bleiben, wenn die ganze Welt, eingerechnet uns selbst mit allem cogitare« – d.h. das naturalistische Ich – »ausgeschaltet ist?«14, durchaus in den Grenzen einer Analyse der »unmittelbaren Vorfindlichkeiten« zu beantworten, und Husserls Antwort: »Anstatt die zum naturkonstituierenden Bewußtsein gehörigen Akte mit ihren transzendenten Thesen in naiver Weise zu vollziehen und uns durch die in ihnen liegenden Motivationen zu immer neuen transzendenten Thesen bestimmen zu lassen – setzen wir all diese Thesen ›außer Aktion‹, wir machen sie nicht mit; unseren erfassenden und theoretisch forschenden Blick richten wir auf das reine Bewußtsein in seinem absoluten Eigensein«15, das als »das gesuchte ›phänomenologische Residuum‹«16 übrig bleiben soll –, diese Antwort ist eine Konsequenz des Rückganges auf das unmittelbar Gegebene und ist auch in Husserls Untersuchung wesentlich durch eine Analyse des Bewußtseinszusammenhanges gefunden.
Aber Husserls Phänomenologie ist nicht durchaus im Sinne dieser Antwort ausgeführt. Den Denkmotiven nämlich, die die originär gebende Anschauung als Rechtsgrund der Erkenntnis ansetzen, die die Gewinnung der »reinen Bewußtseinssphäre« als Deskription des Zusammenhanges der Gegebenheiten verstehen, widerstreiten Denkmotive ganz anderer Art. Dinge, heißt es einmal, seien »prinzipielle Transzendenzen«17; in der Transzendenz des Dinges bekunde »sich eben die prinzipielle Unterschiedenheit der Seinsweisen, die kardinalste, die es überhaupt gibt, die zwischen Bewußtsein und Realität«18; weiter in extremer Zuspitzung: »Dingliche Existenz ist nie eine durch die Gegebenheit als notwendig geforderte, sondern in gewisser Art immer zufällige«19, und: »Der Thesis der Welt, die eine ›zufällige‹ ist, steht ... gegenüber die Thesis meines reinen Ich und Ichlebens, die eine ›notwendige‹, schlechthin zweifellose ist. Alles leibhaft gegebene Dingliche kann auch nicht sein, kein leibhaft gegebenes Erlebnis kann auch nicht sein.«20 Schließlich: »Zwischen Bewußtsein und Realität gähnt ein wahrer Abgrund des Sinnes. Hier ein sich abschattendes, nie absolut zu gebendes, bloß zufälliges und relatives Sein; dort ein notwendiges und absolutes Sein, prinzipiell nicht durch Abschattung und Erscheinung zu geben.«21
Der Widerspruch zwischen solchen Gedankengängen und den vorher wiedergegebenen liegt offen zutage. Einerseits soll »der echte Begriff der Transzendenz des Dinglichen, der das Maß aller vernünftigen Aussagen über Transzendenz ist, ... doch selbst nirgendwoher zu schöpfen« sein, »es sei denn aus dem eigenen Wesensgehalte der Wahrnehmung, bzw. der bestimmt gearteten Zusammenhänge, die wir ausweisende Erfahrung nennen«22. Andererseits sollen Dinge »prinzipielle Transzendenzen«23 sein. – Es sei das »immanente Sein« – d.h. das »Sein des Bewußtseins selbst«24 – »zweifellos in dem Sinne absolutes Sein, daß es prinzipiell nulla ›re‹ indiget ad existendum« und »die Welt der transzendenten ›res‹ durchaus auf Bewußtsein, und zwar nicht auf logisch erdachtes, sondern aktuelles angewiesen«25; dem entgegen jedoch sei es das Wesen jeder cogitatio – auch der Eindrücke, der Erlebnisteile der Klasse a im Sinne der »Transcendentalen Systematik«26 –, »Bewußtsein von etwas«27 zu sein. – Oder gar: »Niemals ist ein an sich seiender Gegenstand ein solcher, den Bewußtsein und Bewußtseins-Ich nichts anginge«28, und dagegen der angeführte Satz: »Dingliche Existenz ist nie eine durch die Gegebenheit als notwendig geforderte.«29 Mit anderen Worten: Dem Bewußtsein, dessen Gegebenheiten für Husserl die alleinige Rechtsquelle der Erkenntnis sind, kontrastiert er von Anbeginn schon eine transzendente Welt, die zwar nur in ihrer Bezogenheit auf das Bewußtsein erkenntnistheoretisch legitimiert werden könne, deren Existenz aber nicht durch den Zusammenhang des Bewußtseins konstituiert werde. Wenn Husserl davon redet, daß »alles, was sich uns ... in seiner leibhaften Wirklichkeit darbietet, einfach hinzunehmen sei«30, so ist jene transzendente Welt bereits mitgesetzt. Die Setzung einer transzendenten Welt aber widerspricht der Voraussetzung des Bewußtseins als der »Seinssphäre absoluter Ursprünge«. Sie widerspricht dem Grundprinzip des transzendentalen Idealismus.
Es wird die Aufgabe der folgenden Untersuchung sein, die Entstehung dieses Widerspruchs von der erkenntnistheoretischen Wurzel aus zu begreifen, den Widerspruch kritisch zu berichtigen und seine Konsequenzen innerhalb der systematischen Phänomenologie aufzuzeigen. In Anschluß an den Aufbau des ersten Bandes von Husserls »Ideen«, der seine Erkenntnistheorie zusammenfaßt, ergibt sich eine Dreigliederung des Stoffes: aus der »phänomenologischen Fundamentalbetrachtung«31 wird Husserls Dingtheorie kritisch herausgearbeitet. Im Rahmen von Husserls Ausführungen »zur Methodik und Problematik der reinen Phänomenologie«32 werden die Konsequenzen des Zentralwiderspruchs für die allgemeine Erkenntnistheorie diskutiert. Der Abschnitt über »Vernunft und Wirklichkeit«33 endlich bietet Anlaß, die teilweise Korrektur dieses Widerspruches in den »Ideen« zu behandeln und wichtige Konsequenzen, die sich dabei für den transzendentalen Idealismus ergeben, wenigstens allgemein zu beleuchten. Die Dreigliederung beansprucht so wenig wie die Disposition der »Ideen« systematische Dignität. – Prinzipiell ausgeschlossen von der Untersuchung ist die Frage, ob der Ansatz dinglicher Transzendenzen bei Husserl in Beziehung steht zu dem Begriff der »Wesensschau«: diese Beziehung erforderte eigene, weitverzweigte Analysen. Hier wird Husserls Phänomenologie durchaus verstanden als eine Methode der »Feststellung idealgesetzlicher Zusammenhänge«34 in einem der »transzendentalen Phänomenologie« aus der »Transcendentalen Systematik« von H. Cornelius streng entsprechenden Sinne. Soweit Husserl erkenntnistheoretische Betrachtungen tatsächlich vollzieht, sind auch sie auf »idealgesetzliche Zusammenhänge« gerichtet34a.