Musikalische Diebe, unmusikalische Richter
Will einer, der kein Musiker ist, Schlechtes über Musik sagen, die ihm begegnet, so liegt ihm nichts bequemer zur Hand, als das Urteil, sie sei gestohlen. Es genügt schon, wenn sie ihn an etwas erinnert; meist erkennt er ein Motiv wieder, zuweilen ist ihm nur der Ton vertraut. Die moralische Geste durchschneidet jede umständlichere Erwägung der Schönheit. Er hat seine Ruhe und ist obendrein ein guter Mensch. Zu prompt wird allemal die Verhaltensweise geübt, als daß es sich nicht verlohnte, ihren Rechtsgrund kurz zu überprüfen. Es läßt sich daran kaum weniger über den Urteilenden als über das Beurteilte lernen und Einsicht gewinnen in Fehlerquellen, die das musikalische Verständnis allgemein trüben mögen.
Zunächst: der übliche Einwand, in seiner Schärfe formuliert, hat Sinn überhaupt bloß, wo es sich um Identisches – nicht nur um Ähnliches handelt. Übereinstimmung im Ton, im Klang, in der Formanlage wiegen gewiß ästhetisch unvergleichlich schwerer. Der jedoch, dem sie angekreidet werden, ist unselbständig, nicht unehrlich. Er enträt der Ursprünglichkeit musikalischer Anschauung, nicht der Treu' und Redlichkeit. Er ist ein Epigone oder Imitator, kein Dieb. Stehlen kann man Dinge, in den bestimmten Konturen ihrer beharrenden Dinglichkeit, nicht Charakter, Duft, Timbre. Dem Griff, der sie einsacken wollte, würden sie bunt in die Luft entschweben. Lang war alle polnische Musik nach Chopin in dessen Atmosphäre getaucht. Bestohlen werden ihn nicht viele haben. Ihm geschah weniger und mehr. Nicht ihm ward genommen, er nahm den anderen, die ihm verfielen und sein Werk zur Rache in die Salonsprache übersetzten. Um die Nachfolge Wagners, dann Debussys war es ähnlich bestellt.
Die einzigen Dinge der Musik, die sich stehlen lassen, sind meßbare, zählbare Folgen von Tönen: Motive und Themen. Da mittlerweile auch die harmonische Dimension derart aufgelockert ist, daß ein Akkord so gut ein Einfall sein kann wie ein Thema; und da es keine harmonischen Konventionen mehr gibt, die lediglich eine schmale Zahl von Klängen dem Gebrauch freigeben, dürfte man heute auch gestohlenen Harmonien nachforschen; aber so weit sind die noch nicht, die derlei Sorgen haben. Sie halten sich an das, was sie Melodie nennen, an größere oder kürzere sukzessive Tonreihen, gewöhnlich solche, die auch rhythmisch einander gleichen.
Die sollen, nach einer unbesehen übernommenen Meinung, die Ursprungszellen des Gebildes schlechthin – die »Einfälle« sein. Nun liegt es auf der Hand, daß einem nicht nur ein Thema oder Motiv, sondern ebensowohl eine Form als solche einfallen kann, zu der der Komponist die Einzelheiten erst nachträglich sucht; das kompositorische Verfahren Beethovens spielte sich, wie man weiß, durchweg derart ab. Weiter, es ist eine trübe Verwechslung von Produktionsprozeß und künstlerischer Gestalt, wenn man denkt, das zeitlich Erste der Konzeption sei notwendig der Ursprung als strahlender Kern des Gebildes, während solcher Einfall oft genug nur die Pforte des Unterreichs aufsprengt, das der Ort des wahren musikalischen Vollzuges ist. Erinnert man sich des Verhältnisses der ersten, gewiß auch gerade der Konzeption nach häufig ersten Themen Schuberts zu den meist eindringlicheren zweiten, so gewinnt das rasch seine Evidenz. Daher ist es um den Einfall schon fragwürdig genug bestellt. Im lebendigen, gegenwärtigen Werk ist er bloß Material, so gut wie Klang, Harmonie, Rhythmus, Kontrapunkt; der Gehalt des Stücks, mag er wie immer auch verdichtet und gedrängt sein, entspricht allein der integralen Gestalt des Ganzen und nicht der Vereinzelung der Melodie. Erst zerfallend, im Potpourri, gibt denn auch das Werk den bloßen »Einfall« als solchen frei.
Wer an ihm wesentlich sich ausrichtet, ist darum meist der, welcher die integrale Gestalt nicht zu fassen, das Werk nicht als Einheit mitzuvollziehen vermag; wer die Form nicht gewahrt und gleichsam atomistisch, von Moment zu Moment, mithört, akustisch »mitspringt«, auf eine Weise, die sich der »Musikalische« nur schwer vorstellen kann und die er darum notwendig unvollkommen beschreibt. Jene Verhaltensweise wird sich vor allem bestimmen durch die Unfähigkeit, die zeitlichen Züge und Seitenzüge der Musik zu realisieren: äußerlich sinnfälliger noch durch die Beschränkung auf den Verlauf der Oberstimme unter Abstraktion nicht nur vom eigentlich vielstimmigen Geflecht, sondern etwa auch von der motivischen Melodieteilung an verschiedene Stimmen und von all den »dialektischen«, gegensätzlich-aufspaltenden Formelementen, in denen gerade Beethovens Verfahren seine Substanz besitzt.
Das bloß momentan und als Oberstimmenmelodie Gehörte, Beziehungslose aber erstarrt dem Hörer, wofern er es nicht lieber vergißt. Isoliert aus Zeitstrom und dynamischem Verlauf verhärtet es sich, ohne über sich hinaus aufs Kommende zu weisen und aufs Vergangene, und wird zum eindeutigen, dauernden, kalten Ding; eben dem, das sich besitzen läßt und auch stehlen.
Alle Rede vom musikalischen Diebstahl setzt einen Mechanismus der Verdinglichung voraus, der mit der wahren Objektivität der Kunstwerke nicht verwechselt werden darf, in welchem ihr Leben als Geschichte spielt. Erst wo dies Leben erstorben ist, oder nicht mehr wahrgenommen wird, wachen sie eifernd über die bloßen, beharrlichen Einfälle, als wären sie sakrosankt.
Kaum Zufall, daß der Zeitraum, auf welchen die Rede von gestohlener Musik überhaupt sich beziehen kann, mit dem der entfalteten kapitalistischen Gesellschaft genau zusammenfällt. Barock und Rokoko kannten nichts dergleichen. Die offene Unbedenklichkeit Händels in der Übernahme ganzer Stücke anderer Autoren ist bekannt; nicht ebenso, doch wichtiger, daß Bach gerade einige der schönsten und prägnantesten Fugenthemen des Wohltemperierten Klaviers entlehnte. Vor dem Wiener Klassizismus, vor allem im konzertanten Stil, gab es schon deshalb kaum musikalischen Diebstahl, weil im verwendeten Motivmaterial der manifeste oder lose überkleidete Dreiklang als Produkt musikalischer »Natur« derart vorherrschte, daß fast alle begegnenden Themen einander ähnelten; charakteristische waren die Ausnahme. Diese Motivstruktur behauptet sich bis in viele Themen Mozarts und Haydns, bis zur Transposition des Gesanglichen in die Instrumentalmusik. – Andererseits sind in der neuen Musik, nach Fortfall des tonalen Bezugssystems und der eingeschliffenen Wiederholung identischer Formeln zumal der Kadenz, die Kombinationsmöglichkeiten so vielfach erweitert, ist zugleich die Nötigung zur singulären Prägung jeden Gebildes und jeder thematischen Gestalt so offenbar, daß thematische Entlehnungen unsinnig und unmöglich wären, wofern es sich nicht um die literarische Beziehung des Zitats handelt.
So können eigentlich nur Themen aus dem neunzehnten Jahrhundert gestohlen werden; aus jener Musik, die zum Mobiliar der Familie zählte. Auch sie aber gehören vorwiegend den Salonpiècen, Souvenirs und Berceusen an, deren Schauer die musikalischen Surrealisten traktierten; dann natürlich der warenhaften Musik der Schlager; hier kommt der Diebstahl ökonomisch nach Hause. Die Konstatierung von sei's erlaubten, sei's unerlaubten Übernahmen in Kunstmusik von Anspruch jedoch wird fast stets durch die verzerrte Akustik ihrer Hörer bedingt.
Denn in symphonischer Musik mit motivischer Arbeit ist das motivisch Einzelne wahrhaft bloß »Motiv«, löst die Bewegung des Ganzen aus und ist aufgehoben darin im doppelten, Hegelschen Sinne. Zwei Beispiele aus Werken mögen dafür einstehen, die zu den bekanntesten der Literatur rechnen, Zeugnis dessen, wie gleichgültig und souverän die Meister zum Diebstahl standen, der keiner ist. Der Anfang des Scherzos aus Schuberts d-moll-Quartett, Motivkern des ganzen Satzes, stimmt getreu überein mit Mimes Schmiedemotiv oder ›Nibelungen-Motiv‹ aus Wagners Siegfried; und zwar nicht nur nach Melos und Rhythmus, sondern auch in einer wesentlichen harmonischen Einzelheit, der scharfen Dissonanz der kleinen Septime, auf gutem Taktteil eintretend zu einem beharrenden Ton der Hauptstimme. Die reaktionäre Wagner-Gegnerschaft wird sich das nicht haben entgehen lassen. Aber was, nach dem Diktum Brahmsens, »jeder Esel hört«, bleibt ohne Macht über das, was sich nicht zu den langen Ohren schickt. Nämlich zur Funktion des Motivs im Gebilde. Bei Schubert ist es ein Ausgangsmotiv im Sinne des Durchführungsprinzips; als solches festgehalten, wird es in harmonischem Fortschreiten dann durch Versetzung in den Baß, an einer der symphonischsten Stellen, die von Schubert überhaupt existieren, wechselnd stets ausgelegt, harmonisch variiert, und treibt einen nicht umkehrbaren, gesteigerten, höchst dramatischen Zeitverlauf aus sich heraus. Bei Wagner dagegen wird es, wie fast alle Themen des Ringes, formbildend durchs Mittel der Wiederholung, endlos kreisend, Gleichnis der schlechten, mythischen Ewigkeit der Unterwelt; modifiziert zwar – am genialsten mit der Potenzierung der Dissonanz beim Aufgehen des Vorhangs zum ersten Akt –, als solches aber unveränderlich wie ein Zauberspruch; nicht der Entwicklung, sondern einzig der Beschwörung unterworfen. Technisch gesagt: bereits so entwertet bei sich, so ganz nur Material wie ein impressionistisches Komma. Bei Schubert war es noch so selbstmächtig und gebunden zugleich wie ein Mensch vor seinem Schicksal.
Extremer vielleicht noch ein Fall aus der eigentlichen »Klassik«. Jemand hat einmal entdeckt, daß das Finale von Mozarts g-moll-Symphonie und das Scherzo von Beethovens Fünfter das gleiche Thema haben, nur eben, nach dem schönen Musikführer-Ausdruck, »umrhythmisiert«. Schaut man hin, denn das Hören hat wenig Zweck, man käme nie darauf, so zeigt sich, daß tatsächlich, für die ganze Dauer des exponierten Themas, die Intervalle übereinstimmen. Nur will das nicht viel mehr besagen als eine Übereinstimmung der Tonart oder, genauer, die Übereinstimmung zwischen den »Grundreihen« zweier Zwölftonstücke, etwa zweier Sätze aus Schönbergs Drittem Quartett. Gleichheit im Material also; die Musik aber beginnt erst nach der Materialdisposition. Das Mozartsche und Beethovensche Stück haben denn auch so viel miteinander zu tun wie die blaue Härte des Mythos mit dem Nebelspiel nordischer Riesen.
Trotzdem, es bleibt ein Rest: jene Themen, wahrhaft »Einfälle«, die Sternen gleich eingefallen sind und sich behaupten, jenseits aller Formimmanenz, aber auch jenseits aller Dinglichkeit dessen, was vom Hörer gestohlen ist aus der Form, in der es lebt. Das sind die Themen, die schon beim ersten Erscheinen klingen wie Zitate; Schubert ist ihr oberster Hüter. Aber um sie braucht kein Hörer sich Sorgen zu machen. Sie sind gefeit; niemand kann sie sich aneignen, weil sie kein Eigentum sind, sondern Figuren der erscheinenden Wahrheit selber. Sie lassen sich so wenig stehlen wie die authentischen Sprichwörter. Versuchte es einer – sie schlügen nur zum Segen aus.