Winfried Zillig
Möglichkeit und Wirklichkeit
Winfried Zillig starb achtundfünfzigjährig, in einem Alter, in dem bei den meisten Komponisten von Rang das Werk in festem Umriß sichtbar ist. Aber sein Tod hat etwas trostlos Trauriges, als wäre er ein junger Mensch gewesen. Und keineswegs bloß wegen der unbändigen Vitalität dessen, der in seiner Tätigkeit, schonungslos gegen sich selbst, kaum sich zu fassen wußte und buchstäblich bis zum letzten Tag voller Pläne steckte. Übrigens hatte seine Krankheit offenbar nichts zu tun mit der Kräftevergeudung des Musikers, der, in leitender Position am Norddeutschen Rundfunk, dort morgens um fünf Uhr anfing, um Zeit zum Komponieren zu gewinnen. Aber das umfangreiche Werk selber hat etwas Fragmentarisches derart, als hätte er es noch nicht vollbracht; als läge das Beste vor ihm. Zilligs Begabung kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Schönberg, sein Lehrer, hielt ihn für die größte aus der zweiten Generation seiner Schüler, jener, welche auf die von Berg und Webern folgte. Schon ein Stück des Achtzehnjährigen wie das Choralkonzert, entstanden, noch ehe er zu Schönberg kam, zeigt, ohne wunderkindhafte Glätte, gänzliche Verfügung über die kompositorischen Mittel und den Zilligschen Ton. So unverkennbar dieser sein Leben lang blieb, so schwer fällt es, ihn genau zu benennen. Er gedieh in der Spannung zwischen sicherer, fast selbstverständlicher Technik in deren zu Zilligs Jugend fortgeschrittenster Gestalt, dem Beginn der Zwölftönigkeit, und süchtigem Ausdruck, ekstatisch und melancholisch in eins. Der hat, bei aller kompositorischen Gefaßtheit, etwas eigentümlich Taumelndes – Taumeln eines Riesen. Ein Scheuendes, Wundes wuchs, trotz der untrüglichen peinture, ja aus dieser heraus, dem Gehalt zu. Die absonderlich vergrößerte musikalische Optik entspringt ebenso in rein kompositorischen Zusammenhängen, wie diese umgekehrt Zilligs spezifische Weise von Musikalität widerspiegeln. Keineswegs entscheiden die eher konservativen Mittel; nicht nach dem mit vorsichtigem Bedacht gewählten Material wäre er zu beurteilen, sondern nach dem, was daraus unter seinen Händen wurde.
Während am Vorrang seiner kompositorischen Begabung kein Zweifel sein konnte, drängte seine Musikalität, sein künstlerisches Naturell, stets darüber hinaus, und das verschaffte ihm eine gewisse Unabhängigkeit von dem Rohstoff, mit dem er umging. Er paßte ihn vielfältig wechselnden Aufgaben an. Zilligs Talent strahlte in die verschiedensten Richtungen. Als passionierter und sehr befähigter Dirigent war er, leitend am Hessischen Rundfunk, tätig; nahm, die Philologie streifend, der beiden unvollendeten Sakralwerke Schönbergs mit liebender Sorgfalt sich an. Nachdem das Hitlersche Reich ihn als Komponisten ausschaltete, hat er zahlreiche Gebrauchsstücke produziert; das erste war eine meisterliche Filmmusik zum ›Schimmelreiter‹. Durch die Gebrauchsarbeiten kam er in Kontakt mit der Funkdramaturgie, mit dramaturgischen Fragen überhaupt. Die ›Verlobung in St. Domingo‹ machte eine Radio- und eine Fernsehphase durch, ehe sie zur Oper wurde. Zilligs schonende Behutsamkeit dem Kleistschen Vorwurf gegenüber bezeugt seinen literarischen Sinn; die Texte seiner d'Annunzio-Lieder übersetzte er selbst, bearbeitete anderes mit großem Verständnis. Das Komponieren jedoch ist ihm in all der Aktivität nie zerflossen; das Gesamtwerk, wie es heute einigermaßen sich überblicken läßt, hielt sich erstaunlich einheitlich. Der Stil war von Anbeginn formuliert, auch die Gebrauchsarbeiten gehören ihm an; kaum gibt es eine scharfe Grenze zwischen ihnen und den anderen. Empfindliche Eleganz der Verfahrungsart, souveränes Schalten mit Möglichkeiten teilten sie mit den Gebrauchsstücken, während die letzteren nie den Geschmack des Artisten vergaßen.
Freilich brachte die Konzilianz in den großen Arbeiten eine gewisse Differenz von Gesinnung und Sache mit sich. Die Gesinnung war die kompromißlose der Schönbergschule; er hat sie auch in kulturpolitischen Konflikten aufs entschiedenste und tapferste bewährt. Die Sache zeigte, vergröbernd gesagt, eher Hindemithsche Züge; am deutlichsten vielleicht im Zweiten Quartett, bis in die Themengestalten hinein, auch im monothematischen Bau langer Sätze. Die Zwölftontechnik, die er, neben Hanns Eisler, unter den jüngeren Schönbergschülern als erster benutzte, behielt bei aller Virtuosität der Reihenbehandlung etwas Unverbindliches. Denn sie berührte die Struktur der Einzelgestalten und der Formanlage nur wenig. In den Zwölftonwerken und den nicht zwölftönigen unterscheidet darum das Komponierte sich gar nicht so sehr. Rühmt man ihm nach, es fände sich in seinen frühen Zwölftonkompositionen »nirgends die amorphe Rhythmik der Wiener Zwölftonschule«, so tut das Lob ihm unrecht und verschiebt den Sachverhalt. Zillig kannte die Konstruktionsprinzipien der Wiener bis in ihre alchimistischen Geheimnisse hinein und hätte nie banausischen Vorwürfen gegen das angeblich Zerrissene und Chaotische zugestimmt. Schönberg selbst jedoch bevorzugte in den für Zilligs Entwicklung bestimmenden zwanziger Jahren mehr oder minder feste Rhythmen als eigentliche »Themen«, die von den Reihen ihren wechselnden Intervallinhalt empfingen; dem entsprachen auch die später oft gerügten, traditionellen Großformen. Nicht zufällig spielten unter diesen hochstilisierte Tänze, ›Suiten‹ eine so große Rolle: bei Zillig die Serenaden, die über sein gesamtes œuvre verstreut sind. Während aber der rastlose Schönberg darüber hinausgetrieben wurde, hielt Zillig an der einmal erworbenen Verfahrungsweise fest. Ähnliche Konflikte trug Alban Berg aus, der ebenfalls eine gleichsam ältere Gestalt von Musikalität in die Schönbergschule einbrachte. Aber die Lösungen waren umgekehrt. Berg überantwortete jene ältere Musikalität vorbehaltlos dem neuen Verfahren; nur gelegentlich, und dann mit besonderer Wirkung, schlägt sie durch. Zillig dagegen führte alles, was er bei und an Schönberg lernte, seiner vorher bereits definierten, in weiterem Sinn tonalen Musikalität zu. Aber die Zwölftontechnik ist nichts Isoliertes, sondern wälzt in ihrer Konsequenz das gesamte Komponieren um. Trotzdem verharrte Zillig zäh in gewissen Ausgangspositionen. Typisch für die Komponisten heute ist die Schwierigkeit, sich frei zu schwimmen. Wer mit Anspruch schreibt, ist gezwungen zu einem Äußersten an Schulung. Sie war bei Schönberg zu erlangen um den Preis rücksichtsloser Selbstdisziplin. Daß ein jeder Stärkere einen Punkt erreicht, wo das eigene kompositorische Bedürfnis ausbrechen will, versteht sich. Aber der Akt, der den Komponisten als ihr zu sich selbst Kommen erscheint, wird vielfach bezahlt mit einer Lockerung von Anforderungen innerer Stimmigkeit, die ihnen irrtümlich akademisch und unterdrückend dünken. Die Emanzipation von der Schule droht, die selbstkritischen Normen zu erweichen, nach dem Trugbild, man könne singen, wie der Vogel singt. Setzt Originalität sich selbst, so fällt sie nur allzu leicht ins Überholte zurück, das es durchweg bequemer macht. Berg, Webern haben dem widerstanden; Zillig nicht ebenso. Die Einheitlichkeit seines Stils verdeckt das, aber an einigen der bedeutendsten Arbeiten seiner Jugend, wie der Ersten Serenade und vor allem dem Ersten Streichquartett, ist es doch offenbar. Sie sind, bei allen Rückverbindungen durch Symmetrien und Fugati, schneidend exponiert, formen auch die Details unerbittlich aus. Das hat Zillig, als er seines Tones ganz mächtig war, nicht mehr erreicht; daß er es wieder erreiche, gesteigert durch all seine Erfahrung, war die Hoffnung, die sein Tod zerstörte. Hervorgehoben zu werden verdient etwa an dem genialischen Ersten Quartett ein Detail solchen Wesens, eine Gestalt aus dem Fugatothema des ersten Satzes. Eine Achteltriole im Viervierteltakt setzt auf dem unbetonten Achtel ein und läßt noch ein Nichttriolen-Achtel am Ende des Takts übrig. Der Einfall war höchst ungewöhnlich und prägnant. Derlei blieb bei Zillig selten. Seine Kunst gilt vorweg Abweichungen in der Behandlung von Mustern aus dem musikalischen Sprachschatz, vor allem der variierenden Fortsetzung strophisch wiederholter Komplexe, nach Mahlerschem Vorbild. Naiv war er, insofern er ohne Skrupel dem Gefälle sich anvertraute, zweiter musikalischer Natur. Diese Naivetät fand sich zusammen mit musikalischer Weltkenntnis, dem Blick für die einfachste und sinnfälligste Realisierung, der intelligenten Planung von Wirkungszusammenhängen. Nicht schlecht vertrugen sich der Organisator Zillig und der Komponist.
Unter der Oberfläche von Zilligs Komponiervirtuosität, zumal der der instrumentalen Disposition, klaffen Brüche. Zu ihrer Erklärung genügen nicht Reflexionen über seine Individualität. Was der exzeptionellen Begabung versagt blieb, hat eine objektive Seite; getreu hat er Widersprüche der gegenwärtigen Lage des Komponisten als solcher in dem von ihm Komponierten registriert. Zunächst die, welche am Begriff kompositorischer Erfahrung haften. Ihrer bedarf es; der kompositorischen Hand, die nur in Übung, unablässiger Tuchfühlung mit Material und Prozeduren sich bildet. Aber die kompositorische Hand und die zu leichte Hand sind mittlerweile fast dasselbe geworden. Vor zweihundert oder einhundertfünfzig Jahren, bei den höchsten Fällen Mozart und Schubert, ging, dank des unerschütterten Idioms, hemmungsloses Produzieren mit Qualität noch zusammen, obwohl selbst bei den beiden schon Symptome der Unvereinbarkeit nicht zu verkennen sind. Während aber die neue Musik, mehr vielleicht als je die traditionelle, den ungeschmälerten Besitz der kompositorischen Mittel voraussetzt und damit auch Übung, spricht Fazilität ihrer Idee Hohn. Nichts in ihr taugt mehr, was aus dem Fundus stammt; ihren Mitteln selber wohnt das Gebot der Einmaligkeit eines jeglichen Komponierten inne und das gänzlicher Durchgestaltung. Berg und Webern handelten danach; wendeten all ihre Mühe an technische Entwicklung zum Intensiven, nicht zum Extensiven. Beide waren Meister ohne Routine. Zilligs Begabung jedoch war durchaus extensiv, konnte der Routine nicht entraten zu einer Stunde, da sie, indem sie hilft, daß etwas zustande komme, zugleich es unterhöhlt. Der legitime Drang der kompositorischen Sache ins Breite trägt bereits das Potential ihres Verfalls in sich.
Dieser Drang jedoch kam bei Zillig selber wieder aus objektiver Nötigung. Etwas in seiner Art, Musik zu empfinden und sich vorzustellen, rebellierte gegen einen Aspekt der Moderne, der ihn etwa an Webern als spezialistisch beengt schrecken mochte. Daß Zillig fast in allen Gattungen sich erprobte, folgt wohl aus diesem Impuls, einer Sehnsucht nach verlorener Totalität; dem Gefühl, daß es in der Musik nur eine Wahrheit geben könne, daß es mit der Idee musikalischer Wahrheit nicht sich vertrüge, wenn sie in schlechthin divergente Schulen vergleichbaren Niveaus auseinanderfiele. Vorm Monumentalisieren zwar behütete ihn seine Schulung und sein überaus differenziertes Sensorium. Wohl aber wollte er bei der beschränkenden Gestalt musikalischer Arbeitsteilung nicht sich bescheiden, wie sie in Weberns absoluter Lyrik einerseits, andererseits im kubischen Ballett Strawinskys triumphierte auf Kosten breiter Möglichkeiten, die in beiden Extremen existierten und von beiden asketisch beschnitten wurden. Eben das widerstrebte Zillig. Hans-Wilhelm Kulenkampff hat in seinem schönen Nachruf1 Zilligs Tendenz als eine zur Synthese jener Extreme, also der Schönbergschule mit Strawinsky, definiert. Wahrscheinlich war das nicht einmal Zilligs ausdrückliche Absicht, sondern er gelangte dazu vermöge der Spannung zwischen seinem Naturell, dem gleichsam Anachronistischen, das in ihm aufgespeichert war, und seinem fortgeschrittenen kompositorischen Bewußtsein. Aber das Wort Synthese klingt längst verdächtig. Die Spaltung, an der Zillig wie viele litt, und welche die Anstrengung zur Synthese inspirierte, ist nicht durch ein Vermittelndes wegzuschaffen. Einzig durchs Extrem hindurch ist noch zu vermitteln. Zillig hat das verkannt oder eher noch, mit einer der Musikalität im spezifischen Sinn verwandten Lässigkeit, sich dagegen gesperrt. Synthese erhoffte er sich, vergebens, von einem Zusammenbiegen, wenn man will: von der disponierenden Organisation des Vertrauten, das sich anbot; nicht von der reinen Versenkung in die einzelne Komposition. Was sich derart voneinander losgerissen hat wie die auf Beethoven, Brahms, auch Wagner zurückdatierende Verfahrungsweise der radikal dynamischen, entwickelnden Variation hier und dort die trickhafte Manipulation der musikalischen Zeit durch schief geschnittene und aneinander gereihte Motivblöcke, ist auch bei größtem Geschick des Realisierens nicht zu versöhnen. Beim Versuch dazu wird der Schönbergschen Forderung verbindlicher Durchgestaltung ins Flächige, breit Gepinselte ausgewichen, während innerhalb einer trotz allem fließenden Musik deutsch-österreichischer Herkunft die Blöcke jene Härte einbüßen, die sie bei Strawinsky wenigstens zur Stilisation geeignet machten. Erscheinen die Zilligschen Sätze, auch Lieder zuweilen, merkwürdig überdehnt, so manifestiert darin sich kraß jener Widerspruch; er wäre bis in die feinsten Verästelungen der Komposition hinein zu verfolgen.
Er ist aber Zillig nicht äußerlich, nicht abstrakt von der Zeitsituation bedingt. Sein künstlerisches Schicksal hat seinen tödlichen Ernst, weil ihn die eigene kompositorische Anlage in jene Situation führte. Überhaupt darf das Verhältnis zwischen geschichtlicher Phase und individueller Beschaffenheit nicht starr polar gedacht werden. Nicht nur bringt der historische Augenblick die Begabungen hervor, nach denen er verlangt, er beschädigt sie auch. Das musikalische Naturell Zilligs war beherrscht von einem Zeitgefühl, das Musik als Dauer vorstellt. Die alten Mittel vermochten das nicht mehr zu realisieren; alles etwa, was je um Bruckner-Nachfolge sich bemühte, wurde schaler Aufguß. Die neuen Mittel jedoch sind solche intensiver Verschränkung, nicht solche der Dauer. Selbst bei Strawinsky, der eben doch zur französischen Tradition gehört, überwiegen die kurzen Formen. Noch wenn er als sein eigenes Material die zuzurüstende Zeit empfindet, möchte er sie durch Kontraktion intensivieren. All dem wich Zillig aus. Das hat ihn zu einer Art Reduktion der neuen Mittel veranlaßt. Er trachtete, deren Ansprüche zu mildern, bis die kompositorische Fiber dem Wunsch nach Dauer durch Übersichtlichkeit sich anbequemte. Im Kontrast zu Webern war solche Reduktion eine der Vereinfachung. Sie aber verurteilt die thematischen Modelle vielfach zu einer Unerheblichkeit, die ihnen verwehrt, die großen Formen zu tragen, um derentwillen reduziert ward. Was man an Zillig optische Täuschung nennen könnte, hat hier seinen technischen Ort. Dauer wird abstrakt; die Zeit, welche die Musik erfüllen möchte, tritt kahl, nackt, ungeformt aus ihr wiederum hervor. Die umfangreichsten Werke Zilligs, wie die mit allzu karger Motivik haushaltende Oper ›Troilus und Cressida‹, sind die schwächsten; relativ kurze wie die Verlaine-Lieder die besten, unter den Opern die konzentrierten ›Rosse‹. Von der Idee des Extensiven war er so fasziniert, daß er deren Verhältnis zum musikalischen Inhalt und zur Frage des kompositorischen Werdens verkannte; er beschied sich bei der Paradoxie, Statik mit dynamischen Mitteln zu erreichen. Der Musikant ward zum Splitter im Auge des Musikers. Der Fortschritt der Synthese näherte sie der Regression.
Zilligs Utopie von Dauer veranlaßt zur Besinnung darauf, wie er überhaupt musikalisch reagierte. Steuermann sagte einmal von Hindemith, er meine Musik als permanenten, nicht als Ausnahmezustand. Auch für Zillig war sie ein kontinuierlicher, nicht abreißender Bewußtseinsstrom, alles andere als die extreme Situation des zum Zerreißen Gespannten, auf welche nicht nur die Wiener Schule, sondern auch deren Widerpart, die besten Werke Strawinskys, es absehen. Musiker wie Zillig denken eigentlich gar nicht in einzelnen Werken, sondern in einer Art klingendem monologue intérieur, aus dem dann die einzelnen Arbeiten zufällig fast sich lösen, ohne festen Kontur gegeneinander. Max Reger war der größte Repräsentant dieses Typus. In dessen reifen Stücken ließen mühelos nicht nur Sätze, sondern auch Teilkomplexe sich austauschen; so als ob die einzelnen Stücke dem Kontinuum zuliebe ihre eigene Bestimmtheit aufopferten. Durch ein Moment der Immergleichheit des unablässig Verschiedenen mahnt Zillig an Reger; in einem seiner letzten Werke, dem über den Meistersingerchoral, hat er ihm ausdrücklich gehuldigt, indem er das Thema der Schlußfuge an das der Regerschen aus dem Es-Dur-Quartett anklingen ließ. Überdimensioniert sind Zilligs Sätze auch als Abschnitte aus jenem unendlichen Kontinuum, möchten wie dieses immerzu weitergehen. Zwischen Werk und Ausübendem ist ebenfalls keine feste Demarkationslinie gezogen; beides verfließt im selben Strom, gleichwie in archaischer Musikalität. Solche Reaktionsform ist so eingewurzelt, unterhalb alles Gelehrten und Gekonnten, daß sie bei Musikern verschiedenster Herkunft und Schulzugehörigkeit wie Reger, Hindemith, Zillig ähnlich sich behauptet wider die Stimmigkeit des Gebildes, die anders als im Profil der einzelnen Werke nicht mehr glücken will. Sicherlich war für Zillig die Sphäre der Gebrauchsmusik so wenig ein Segen wie für irgendeinen, aber auch seine Hinneigung zu ihr stimmte zu jener Reaktionsweise, gegen die er nicht ankonnte. Anpassung an von außen gesetzte Zwecke kam seiner Sehnsucht nach Musik als Dauerzustand entgegen, der nach der Reintegration in jenes Leben, dem Werke das Einverständnis kündigen.
Kunstwerke, die es sind, haben an sich selber etwas Grausames. Ihre Objektivität ist nicht zu denken ohne die Gewalt des Abschneidens. Das ist einer der triftigsten Einwände gegen Kunst überhaupt, die auf das Gewaltlose hinaus möchte, ohne daß sie doch, als Form, der Gewalt entrinnen könnte. Gegen keinen aber sind die Kunstwerke grausamer als gegen die, welche sie hervorbringen. Denn die Werke dulden keine Nachsicht. Ihre Qualität ist eben das, was vom Künstler sich trennt, und ihre Mängel werden zu dessen Feinden. Um so mehr gebührt Nachsicht den Künstlern selber, wider die ihre Werke als vergängliche sich kehren. Die Möglichkeiten des Gelingens und des Mißlingens verschränken sich objektiv; vom Individuum und seinem Schicksal aus gesehen ist es zufällig, ob einer ein Genie wird oder nicht, und das zeugt gegen den Geniebegriff. Valéry hat bemerkt, von welch absurden Umständen es abhänge, was von früheren Werken überliefert wäre; wie damit noch der Begriff der Klassizität sein Gegenteil enthalte. Das gilt auch für die ästhetische Sache selbst, in deren Macht es nicht gegeben ist, ob sie gerät. Ihr Traum von Unsterblichkeit wird begleitet vom finsteren Schatten des Vergessens. Das Trostlose in der Erinnerung an Zillig, und das, was gebietet, etwas an ihm wiedergutzumachen, ohne daß man doch recht wüßte, auf welche Weise – dies Trostlose ist, daß er das Äußerste hätte werden können und es nicht wurde. Das erschüttert den Glauben an große Komponisten: dieser Glaube ist befleckt von dem an den Erfolg. Begabungen wie Zillig, die ihre Platonische Idee nicht realisieren, weil sie dem sich preisgeben, was in ihnen stärker ist als die objektivierte Leistung, sind darum nicht geringer. Was ihre eigene Musik verfehlte, führen sie der Idee einer Musik überhaupt zu, die über den Werken wäre. Daher die abgründige Ungerechtigkeit in dem Urteil, das sie aufs Geleistete vereidigt. Zillig die Treue halten heißt, seinem Potential die Treue halten, im Widerstand gegen das Gesetz dessen, was, nach dem Wort von Karl Kraus, die Welt aus uns gemacht hat. Der Augenblick seines Todes ist der des Einspruchs gegen ein Verdikt, das sich absehen läßt. Festzuhalten ist die Möglichkeit gegen das Verwirklichte und gegen die schmähliche Gestalt der Wirklichkeit selber.
Fußnoten
1 Hans-Wilhelm Kulenkampff, Zum Tode von Winfried Zillig, Hessischer Rundfunk, 18. 12. 1963.