Nach Kracauers Tod
Keinen habe ich je gekannt, der so quer zum Altern stand wie Siegfried Kracauer. Die Gegenwehr dessen, der, unter vielen Handicaps, schutzlos fast der Roheit des Lebens preisgegeben war, verlieh ihm eine Kraft, die an Heroismus grenzte; der Lebenswille wuchs mit jeglicher Bedrohung. Schließlich gewann er fast mythische Züge. Sie drückten sich auch im Gesicht aus. Exterritorial wie aus dem Fernen Osten, nahm es etwas Steinernes an. Daß man sterben muß, schien er nicht wahrhaben zu wollen; davon ging eine so starke Suggestion aus, daß sein Tod unglaubhaft ist. Als ich einen Vortrag zu seinem fünfundsiebzigsten Geburtstag hielt, bat er mich peremptorisch, das Jubiläum nicht zu erwähnen. Noch in unserem letzten Gespräch, im Sommer 1966, sagte er mir, unverkennbar bewegt, wie sehr er jenen Passagen aus dem »Jargon der Eigentlichkeit« zustimme, in denen ich den Versuch kritisiert hatte, aus dem Tod, dem schlechthin Dinghaften, eben die Metaphysik zu destillieren, der der Tod absolut entgegengesetzt ist und die ihr Wesen hat am Widerstand gegen ihn. Zähe der Selbsterhaltung, wunderliches sich in sich selbst Festmachen hielt Kracauer tatsächlich jung. Bis zuletzt war er zur schärfsten kritischen Einsicht fähig; auch dazu, Gedankenzüge, die ihm, nach seiner späteren Entwicklung, entlegen sein mußten, sogleich bis ins Zentrum hinein zu verstehen. Jüngst erst hat er, als Mitglied eines hermeneutischen Arbeitskreises jüngerer deutscher Universitätslehrer, seine Denkenergie bewährt, hat ohne institutionelle Deckung sachliche Autorität sich erworben. Wagen konnte er, noch in hohem Alter das Buch in Angriff zu nehmen, das er als sein eigentümlichstes und wichtigstes empfand, eine dicht im Material gearbeitete Geschichtsphilosophie. Schwerlich hat er sie jetzt zu Ende gebracht. Wenige Tage vor der Katastrophe erhielt ich einen Brief, in dem er seine langsame Genesung von einer Grippe rügte.
Nicht geringer als die vitale war Kracauers geistige Kraft. Nachdem versäumt ward, ihn nach Deutschland zurückzuholen, wo der gegen Ideologien Gepanzerte nach dem Krieg unendlich viel Gutes hätte wirken können, gelang es, trotz zahlreicher Neudrucke und Publikationen, in Deutschland nicht, jene Kraft so sichtbar werden zu lassen, wie es recht gewesen wäre. Man erwähnt ihn als Soziologen und Kulturkritiker aus den zwanziger Jahren, wohl auch als einen Mann, der zu den damals avancierten Intellektuellen zählte, doch ohne daß man den Inhalt seiner Arbeit einstweilen voll absorbiert hätte.
Wenigstens auf zwei Errungenschaften sei verwiesen, die ohne Zweifel ihm zu verdanken sind. Einmal hat er die Filmkritik in Deutschland überhaupt erst aufs Niveau gebracht, indem er den Film als Chiffre gesellschaftlicher Tendenzen, von Gedankenkontrolle und ideologischer Beherrschung las; ein Gesichtspunkt übrigens, der in seinem zuletzt publizierten großen Werk über die Theorie des Films, das durchaus historisch-ästhetisch angelegt war, merkwürdig zurücktritt. Seine Art, den Film zu betrachten, ist längst anonym geworden, die gleichsam selbstverständliche Voraussetzung aller Reflexion über das Medium. Sie verband sich mit einem zweiten, soziologisch umfassenderen Motiv. In dem Buch über die Angestellten, das zum Glück in Deutschland neu herauskam, hat er, als teilnehmender Beobachter der synthetischen und manipulierten Angestelltenkultur der frühen dreißiger Jahre, gleichsam die Ontologie jenes falschen Bewußtseins entworfen. Sie hat mittlerweile sich bestätigt als vorwegnehmende Physiognomik einer Kulturindustrie, die sich längst nicht mehr auf die Angestellten beschränkt, sondern die Totalität der Gesellschaft erfaßt und das Ihre beiträgt zu dem Glauben, die Menschheit sei ein einig Volk des Mittelstandes geworden. Daß Kracauer solche Momente spontan an den Phänomenen wahrnahm, in engster Tuchfühlung mit ihnen sie analysierte, anstatt von außen her, durch Aufkleben sozialer Etiketten, munter sie zu erledigen, verleiht seinen Funden ihr spezifisches Gewicht.
Geistig war er noch vor dem ersten Weltkrieg geprägt worden durch Philosophen wie Simmel und Scheler, denen er auch persönlich nahestand. Er gehörte der Generation an, die, philosophisch inspiriert und mit philosophischen Mitteln, aus der damals herrschenden Philosophie, dem weithin formalen Idealismus, sich herausarbeitete und erkannte, daß die sogenannten philosophischen Grundfragen nicht in abstrakter Allgemeinheit, sondern nur sachhaltig, nur durch Versenkung ins Seiende irgend angefaßt werden können. Mehr und mehr wurde ihm das Untere, von der großen Philosophie Ausgeschlossene zum Schauplatz des Gedankens. Dem kam Kracauers Naturell entgegen: eben seine erstaunliche Kraft der Selbsterhaltung. Das spinozistische sese conservare war bei ihm der Nerv der Überlegung. Alles, was er schrieb, seitdem er einmal von den Vorbildern sich frei gemacht hatte und energisch der eigenen Erfahrung folgte, kreiste um Selbstheit: das Unauflösliche, Besondere, den blinden Fleck des Gedankens; um das, ließe sich sagen, wogegen der Gedanke dadurch bereits frevelt, daß er einer ist.
Der vor wenigen Jahren neu erschienene Roman Ginster hat zum – autobiographischen – Helden einen Menschen, der selber nichts anderes ist als solch ein blinder Fleck. Das Selbst-Sein, das Kracauer verzweifelt sich errang und hütete, war ihm eins mit dem nicht Durchdringlichen. Wo immer sein Denken auf Rettung abzielte, galt es diesem Opaken, den begriffslosen Dingen nicht anders als dem Individuum dort, wo es zufällig, idiosynkratisch, ohnmächtig dünkt. Er hat damit auf den Punkt hingedrängt, dem heute die zentrale philosophische Besinnung gelten muß. Seine Position allerdings fühlte sich der emphatischen Theorie oder, wie er zu nennen es liebte, dem hundertprozentigen Denken konträr. Daß er in der Mitte seines Lebens einen Roman schrieb, ist so wenig zufällig wie der Übergang zu Deskriptionen und zum Erzählenden in vielen seiner späteren wissenschaftlichen Arbeiten. Seine Philosophie lockte es, in Empirie zu verschwinden. Sein Empirismus war hintersinnig.
Bis zuletzt war zu hoffen, daß alle die Fragen, die sein denkendes Verhalten aufwarf, in der lebendigsten Diskussion mit ihm weitergetrieben werden könnten, so wie er in der Jugend ein dialogisch Philosophierender gewesen war. Das einzige, was dies denkende Leben nicht in sich reflektierte, wahrhaft sein blinder Fleck, war der Tod. Daß der ihn nun ereilte, macht zum Endgültigen, was der eigenen Intention nach dagegen, gegen alles Abschlußhafte, sich sträubte. Nun läßt er die Freunde in fassungsloser Trauer zurück. Daß er sterben mußte, dies Allerindividuellste, verklagt das Allgemeinste.