Nadelkurven1
An Sprechmaschinen und Schallplatten scheint in Geschichte das gleiche sich zuzutragen wie vormals an Photographien: der Übergang von der Manufaktur zum industriellen Betrieb verändert mit der Technik der Verbreitung zugleich das Verbreitete. Nach Plastik und Stärke werden die Aufnahmen vollkommener; die Feinheit der Farbe, die Echtheit des Stimmklanges indessen mindert sich, als würde der Singende weiter stets vom Apparat distanziert. Die Platten, aus verändertem Gemisch jetzt gefertigt, verbrauchen sich rascher als die alten; die verschwundenen Nebengeräusche leben im grelleren Ton der Instrumente und des Gesanges fort. Nicht anders hat Geschichte aus den Photographien die schüchterne Beziehung zum sprachlosen Objekt verjagt, die in Daguerreotypien noch waltet, und durch eine photographische Souveränität ersetzt, die von abgelebter psychologischer Malerei erborgt ist, hinter der sie gleichwohl zurückbleibt. Kunstgewerblichen Korrekturen des kalkulablen Qualitätsverlustes widerstreitet die reale ökonomische Situation. Im frühen Stadium eignete jenen Techniken die Macht des rationalen Einbruchs in die bestehende Kunstübung. Will man sie, mit der Tendenz auf konkrete Treue, verbessern, und mutet ihnen Konkretion zu, so wird diese von der Technik selbst als Schein entlarvt. Die gute Tendenz der konsolidierten Technik jedoch, die Gegenstände selbst möglichst unverschmückt zu setzen, wird durchkreuzt von dem ideologischen Bedarf der herrschenden Gesellschaft, die subjektive Versöhnung mit jenen Objekten – der reproduzierten Stimme als solcher etwa wohl – verlangt. Ihnen kommt in der ästhetischen Form technischer Reproduktion ihre traditionelle Realität nicht länger zu. Die Zweideutigkeit der Ergebnisse fortschreitender Technik, die sich nicht hemmen läßt, bestätigt die Zweideutigkeit des Prozesses fortschreitender Rationalität als solcher.
Über die Aktualität der Sprechmaschinen läßt sich streiten. Die räumlich begrenzte Wirkung jedes Apparates macht ihn zum Gebrauchsgegenstand des Privatlebens, das den Kunstkonsum des neunzehnten Jahrhunderts reguliert. Vor dem Grammophon versammelt sich die bürgerliche Familie, die Musik zu genießen, die sie selber – wie zuweilen der feudale Haushalt – nicht mehr musizieren kann. Daß die öffentliche Musik jener Zeit, die ariose der ersten Jahrhunderthälfte zumal, vom Plattenrepertoire aufgesogen ward, bezeugt ihren privaten Charakter, den die gesellschaftliche Veranstaltung überdeckt hatte. Beethoven trotzt einstweilen dem Grammophon. Das diffuse und atmosphärische Behagen des kleinen, aber hellen Grammophonklanges ist dem singenden Gaslicht äquivalent und dem summenden Teekessel abgeblichener Literatur nicht völlig fremd. Das Grammophon rechnet zur gefüllten Stille der Einzelnen.
Ganz folgerecht ist der Begriff mechanischer Musik auf Sprechmaschinen kaum anzuwenden. Der Mechanismus des Grammophons betrifft allein die verkleinerte, wohnlichem Bedürfnis angepaßte Mitteilung vorgegebener Werke. Werk und Reproduktion werden akkommodiert zwar, doch nicht angetastet oder verschmolzen: das Werk bleibt in relativen Dimensionen erhalten und die fügsame Maschine, keineswegs von sich aus Formprinzipien diktierend, folgt dem Interpreten geduldig nachahmend in jede Nuance. Solche Praxis setzt den in sich fraglosen Bestand der Werke voraus und das Recht des Interpreten zu jener Freiheit, die die Maschine mit andächtigem Rauschen begleitet. Beides jedoch verfällt. Die absterbenden Werke, die verstummende Reproduktion gehorchen dem privaten Apparat nicht länger mehr. Reproduktionen, deren subjektiver Anteil, wie virtuell bei Strawinsky, gestrichen ward, verlangen nicht nochmals nach Reproduktion; die Werke aber, die von sich aus freier Reproduktion bedürfen, beginnen unreproduzierbar zu werden. Der archivalische Charakter der Schallplattenalben ist offenkundig: rechtzeitig noch wurden den schrumpfenden Klängen Herbarien angelegt, die freilich zu unbekanntem Zweck dauern. Über die Aktualität der Sprechmaschinen läßt sich streiten.
Die Verwandlung des Klaviers aus einem musikalischen Instrument in ein bürgerliches Möbel, die Max Weber gut sah, wiederholt sich am Grammophon in abenteuerlicher Verkürzung. Das Schicksal der Schalltrichter markiert sie sinnfällig. Blechern projizierten sie ursprünglich das Maschinenwesen nach außen; rasch allerdings in feineren Kreisen zur farbigen Masse oder zum Holzkelch gedämpft. Aber in die Privatwohnungen stießen sie, Fanfaren der Straße, Lärmtrichter und Hüllen der Leere, die Menschen sonst lieber in sich verhüllen. Noch auf Max Beckmanns Nachkriegsbildern sind die drastischen Symbole also notiert. Die Stabilisierung dann schneidet mit sanfter Hand die Störenfriede weg; aus Animierkneipen drohen die letzten. Im sachlichen Salon steht das Grammophon absichtslos als Mahagonischränkchen auf Rokokobeinchen. Seine Decke bietet Raum für die Kunstphotographie der geschiedenen Frau mit Baby. Aus diskreten Spalten singen die Revellers, die alle eine Seele haben, Baby schweigt dazu. Unterdessen richten sich die geschlagenen Schalltrichter wieder auf als proletarische Lautsprecher.
Vor dem Grammophon, das mit drehbarem Trichter und solidem Federgehäuse als Grenzzeichen zwischen zwei Perioden musikalischer Übung in der Gesellschaft steht, treffen sich die beiden Typen des bürgerlichen Musikliebhabers. Während der Kenner die Nadeln durchmustert und die feinste wählt, wirft der Verbraucher sein Zehnpfennigstück hinein und vielleicht antwortet beiden derselbe Klang.
In Nizza, auf der anderen Seite, weit weg von den großen Hotels, ist ein Lokal, wo man dem Grammophon, dessen privaten Charakter man französisch konserviert, umständlich einige Publizität erwirkt. Es sind da an den Wänden nebeneinander in dichten Glaskästen zwanzig Grammophone angeordnet, deren jedes eine Platte beharrlich bedient. Die Grammophone werden automatisch betrieben, durch Einwurf einer Spielmarke. Um etwas zu vernehmen, muß man einen Radiokopfhörer anziehen; wer nichts zahlt, hört nichts; dennoch hören alle, der Reihe nach. So dringt der Gebrauch der Radiotechnik in die hartnäckig bewahrte Sphäre des Grammophons ein und sprengt sie von innen. Publikum und Objekt sind Kleinbürgermädchen, halbwüchsige meist. Attraktionen bilden eine verschriene Platte der Mistinguett und die unanständigen Chansons eines Baritons, der den impotenten Siméon auf seine large pantalons reimt. Text und Musik hängt jeweils darüber, an der Wand. Die Mädchen warten, daß einer sie anspricht.
Der Hund, der auf Platten his master's voice aus Platten durch den Trichter vernimmt, ist das rechte Wappen für den Ursprungsaffekt, auf den das Grammophon traf und der es wohl gar erzeugte. Der Grammophonhörer wünscht eigentlich sich selbst zu hören, und der Künstler bietet ihm bloß Ersatz für das tönende Bild seiner Person, das er als Besitz hüten möchte. Nur darum läßt er die Platte gelten, weil er selbst ebenso gut aufgehoben sein könnte. Schallplatten sind gemeinhin virtuelle Photographien ihrer Besitzer, geschmeichelte: Ideologien.
Die Spiegelfunktion des Grammophons gründet in seiner Technik. Die Singstimme ist grammophonisch am besten reproduzierbar. Am besten, das will hier sagen: am treuesten dem natürlichen Urbild, keineswegs von vornherein am gemäßesten der Mechanik. Aber gute Platten wollen vor allem ähnlich sein.
Männerstimmen sind besser wiederzugeben als Frauenstimmen. Die Frauenstimme klingt leicht schrill; daß nicht die Höhe als solche dem Grammophon widerstreitet, beweist die adäquate Reproduktion der Flöte. Vielmehr bedarf die Frauenstimme, frei zu werden, der leibhaften Erscheinung des Körpers, der sie trägt. Sie eben tilgt das Grammophon und verleiht jeder Frauenstimme den Klang des Bedürftigen und Unvollständigen. Nur wo der Körper selber tönt, wo das Selbst, das das Grammophon meint, mit dessen Klang identisch ist, dort hat das Grammophon sein legitimes Geltungsbereich; daher Carusos unbestrittene Vorherrschaft. Wenn der Klang, wie im Instrument, vom Körper sich schied, oder wenn er, wie in der Frauenstimme, des Körpers als Komplement bedarf, wird die grammophonische Reproduktion problematisch.
Das absolute Tonbewußtsein gerät mit dem Grammophon in Schwierigkeiten. Unmöglich fast, die Tonhöhe einzuschätzen, wenn sie nicht mit der originalen zusammenfällt. Sonst verwirrt sich die originale Tonhöhe mit der der phonograpischen Wiedergabe. Insgesamt nämlich ist der Grammophonklang soviel abstrakter geworden als der originale, daß er stets und stets der Ergänzung durch spezifische sinnliche Qualitäten seines Gegenstandes bedarf, auf die er sich stützen muß, um überhaupt auf den Gegenstand bezogen zu bleiben. Seine Abstraktheit setzt die volle Konkretion des Gegenstandes voraus, wenn sie irgend faßlich werden soll, und schränkt damit den Umfang des Reproduzierbaren ein. Die phonographische Technik erheischt einen Naturgegenstand. Ist im Gegenstand die naturale Substanz selbst bereits intentional durchdrungen oder mechanisch gespalten, so vermag ihn die Platte nicht mehr zu begreifen. Nochmals ist den Sprechmaschinen ihre geschichtliche Begrenzung eingezeichnet.
Der Plattenteller von Sprechmaschinen ist der Töpferscheibe zu vergleichen: Ton-Masse wird darauf geformt, der Stoff vorgegeben ist. Aber das fertige Tongefäß, das so entsteht, bleibt leer. Der Hörer erst erfüllt es.
Einmal nur greift das Grammophon in Werk und Reproduktion ein. Das geschieht, wenn die Feder abläuft. Dann sinkt der Klang in chromatischer Schwäche und trostlos verrinnt die Musik. Es bedarf des Endes grammophonischer Reproduktion, die Gegenstände zu verändern. Oder man entfernt die Platten und läßt die Feder im Dunkeln ausspielen.
1927/1965
Fußnoten
1 Die hier neu abgedruckten Notizen sind 1927 niedergeschrieben; veröffentlicht 1928 in den »Musikblättern des Anbruch«. Daß, in vierzig Jahren, Befunde über ein technisches Medium veralten, ist selbstverständlich. Andererseits jedoch wurde damals bereits manches bemerkt, was auf die veränderte Erfahrungsweise hinweist, die, von der Technik verursacht, auch diese selbst ergreift. Die Motive sind unverändert erhalten und ohne den Versuch, den Zeitabstand zu verdecken; sprachlich hat der Autor soweit eingegriffen, wie es ihm nötig dünkte.