Zum Rundfunkkonzert vom 22. Februar 1940
Wenn wir Ihnen heute im Rahmen eines der modernen amerikanischen Musik gewidmeten Festes für eine Stunde lang Werke österreichischer Komponisten vorführen, die heute in Amerika leben, so geschieht das nicht in der Absicht, etwas wie eine ›Würdigung‹ der emigrierten Komponisten zu geben oder gar eine quantitative Übersicht über die musikalische Produktion, die heute in Amerika ihre Zuflucht gefunden hat. Die Zeit einer Stunde und die Namen von vier Autoren würde dazu nicht ausreichen. Was wir beabsichtigen, ist weniger und mehr. Weniger, weil wir notwendig viele Produktivkräfte unberücksichtigt lassen. Mehr, weil wir versuchen, Ihnen wie in einem Brennspiegel etwas von der ihrem musikalischen Tiefgang nach wesentlichsten Bewegung zu präsentieren: von der Musik, die nach unserer Überzeugung in all der Mannigfaltigkeit musikalischer Stile heute das eigentlich Verbindliche und Notwendige verkörpert. Wir sehen dies Wesentliche verkörpert in der Musik Arnold Schönbergs, der selbst durch den Begriff des wahrhaft Meisterlichen unter den gegenwärtigen Komponisten nicht voll bezeichnet wird: denn er ist als Komponist mehr als ein Komponist: er hat der Musik eine neue Sprache gegeben, deren Logik mit unabweisbarer Notwendigkeit aus den Elementen der bisherigen zusammenschießt. Schönbergs neue Formulierung der musikalischen Sprache ist das Einheitsmoment der unter sich so verschiedenen Werke, die Sie hören werden. Der repräsentative und verantwortliche Charakter eines solchen Unternehmens wird unterstrichen durch die Mitwirkenden: Eduard Steuermann als Pianist und das Kolisch-Quartett als Kammermusikensemble sind diejenigen, die den authentischen Darstellungsstil jener Musik ausgebildet haben, von der wir Ihnen eine Vorstellung geben möchten: sämtliche Uraufführungen von Schönbergs Klavier-und Kammermusikwerken in den letzten Jahrzehnten sind diesen Künstlern zu danken gewesen, die selber aus Schönbergs Kompositionsschule hervorgegangen sind.
Von Schönberg selbst hören Sie die beiden ersten Sätze des fis-moll-Quartetts, op. 10. Es ist mehr als 30 Jahre alt, also ein verhältnismäßig frühes Stück, aber wir haben es mit Bedacht gewählt. Wenn ich sagte, daß Schönberg eine neue Sprache der Musik aus der traditionalen entwickelt hat, so ist dieser Prozeß in keinem seiner Werke deutlicher sichtbar als im fis-moll-Quartett, das in sich selber den Weg von der Tonalität bis zur vollkommenen harmonischen Freizügigkeit beschreibt. Der erste der beiden Sätze ist in regelrechtem fis-moll: beachtend Sie aber, wie durch die rücksichtslose Ausnutzung aller in der Tonart gelegenen Beziehungen der Rahmen so gespannt wird, daß man das Gefühl hat, als sei eine Welt ganz neuer Klänge in jedem Augenblick bereit, die gewohnten ganz zu verdrängen, die eben noch geduldet werden. Lassen Sie mich Ihre Aufmerksamkeit auf etwas anderes richten. Was in diesem Quartett vorgeht, ist eine Reduktion der musikalischen Sprache auf das ihr absolut Wesentliche, vergleichbar etwa dem Kampf, den die moderne Architektur seit 30 Jahren gegen das Ornament führt. Die Themen sind ganz knapp gefaßt, kein schmückendes Beiwerk, keine undeutlichen ›Fortsetzungen‹ kommen vor, sondern es wird alles ganz präzis aufgestellt und dann ebenso präzis verarbeitet, ohne daß noch eine zufällige Note übrigbliebe. Der Form nach ist der Satz ein Sonatensatz, aber auch die Form ist aufs äußerste zusammengedrängt und alles Überflüssige vermieden. Der zweite Satz ist ein Scherzo: aber nicht ein humoristisches, sondern, wenn ich so sagen darf, ein expressionistisches: eine Folge der fremdesten und einsamsten musikalischen Visionen, die gewissermaßen stenographisch festgehalten werden, unter völligem Verzicht auf alle Oberflächenharmonie. Entscheidend ist der unablässige Wechsel musikalischer Gestalten: sie sind aneinander gebunden durch den Kontrast, und wenn Sie dieses Stück richtig hören wollen, so müssen Sie es vor allem vermögen, diesem unablässigem Wechsel kontrastierender Gedanken zu folgen und das innere Band zwischen den Kontrasten durchzufühlen – ein Band, das lose und doch zwangvoll ist wie im Traum. Im Wechsel dieser Klänge, die wie aus dem reinen Innen geschöpft sind, gibt es schon keine Rücksicht mehr auf das traditionelle Material, sondern nur noch den Zwang des Ausdrucks und den einer musikalischen Logik, die aus jedem Ereignis Konsequenzen zieht, ohne sich um äußerliche Gesetze zu kümmern. Dieses expressionistische Stück ist zugleich ein Virtuosenstück ersten Ranges: es nutzt die ungewohntesten und extremsten Möglichkeiten des Streichquartetts aus. Es ist kaum übertrieben zu sagen, daß der Weg, der vom ersten zum zweiten Satz dieses Quartetts führt, den entscheidenden Übergang darstellt, der von der herkömmlichen zur neuen Musik führt.
Es spielt das Kolisch-Quartett mit seinen Mitgliedern Rudolf Kolisch, Felix Khuner, Jascha Vlissi und Stefan Auber.
Alexander Zemlinsky, von dem Sie fünf Maeterlincklieder hören, steht zu Schönberg in der engsten Beziehung. Obwohl nur wenig älter, war er dessen Lehrer. In der Tat mögen Sie diese Lieder, deren melodische Wärme zu jedem unbefangenen Hörer unmittelbar spricht, als eine Art von rückwärtiger Verbindungslinie zwischen Schönberg und der vor-Schönbergischen Generation ansehen. Sie finden schon viele der neuen Klänge, besonders Quarten und auch die reichste Ausnutzung aller harmonischen Beziehungen innerhalb der Tonart, aber zugleich etwas vom Ton des Mahlerschen Marsches und selbst der Brahmsschen Romantik. Die große Tradition des Wiener Komponierens spricht aus jeder Note von Zemlinsky, und wir legen in diesem Zusammenhang besonderen Nachdruck auf sein Werk, weil es eben die Tiefe und Kraft dieser Tradition und ihres gesicherten Handwerks ist, die die Schönbergsche Innovation erlaubt: ja, ich würde mich nicht scheuen zu sagen, was ich hier freilich nicht ausführen kann, daß nämlich diese Tradition der großen Wiener Musik und die radikalen Innovationen Schönbergs im tiefsten miteinander identisch sind. Vielleicht werden Sie beim Hören der Lieder Zemlinskys davon etwas spüren.
Es singt Olga Forrai, begleitet von Kurt Adler.
Hanns Eisler dagegen ist ein Schüler Schönbergs, und zwar einer der jüngeren Schülergeneration. Kommentatoren sagen oft von Musik, etwa von Richard Strauss oder Ravel, sie sei ›geistreich‹. Im allgemeinen wird darunter nichts sehr bestimmtes verstanden, man denkt meistens an irgendwelche außermusikalischen Assoziationen, die mit solchen Werken verbunden sein sollen. Wenn man von Eislers Musik sagt, sie sei geistreich, so ist das in einem genauen musikalischen Sinn gerechtfertigt. Es ist eine Musik, die unablässig Pointen setzt: ihr Wesen ist die Überraschung und der Sprung, und zwar ein Sprung und eine Überraschung, die bei näherem Zuschauen sich nicht als willkürliche Laune, sondern als sehr sorgfältig im technischen Zusammenhang der Stücke erweist. Es ist eine Musik, deren Ausdruckssprache das Staccato ist: sie hat etwas koboldhaft Plötzliches und schwankt zwischen trügender Süße und heftiger Aggressivität. Diese ihre Eigentümlichkeit, verbunden mit einer großen Luzidität des Komponierens, hat sie von jeher besonders wirksam gemacht und dazu befähigt, auch bestimmte Ausdrucksgehalte leichter zu übernehmen, als es vieler anderer modernen Musik möglich ist. Die Sonate, die Sie heute hören werden, hat Eisler bekannt gemacht. Sie verzichtet auf alle außermusikalischen Beziehungen und ist geradezu ein Schulbeispiel von pointierender und dennoch ›absoluter‹ Musik. Sie ist besonders ausgezeichnet durch die Drastik der musikalischen Gedanken.
Die Klaviersonate op. 1 von Eisler wird gespielt von Eduard Steuermann.
Ernst Krenek ist nicht aus der Schule Schönbergs hervorgegangen. Wenn ich aber von der objektiven Notwendigkeit der musikalischen Sprachreform gesprochen habe, dann ist Krenek gewissermaßen das lebende Beispiel. Er ist nicht nur eine der vielfältigsten musikalischen Begabungen unserer Zeit, die sich in immer erneuten stilistischen Ansätzen erprobt hat, sondern er ist auch einer der erfolgreichsten europäischen Komponisten: fürs große Publikum mit seiner Oper »Jonny spielt auf«, im engeren Kreis der musikalisch Interessierten mit Instrumentalwerken von so außerordentlicher Originalität wie etwa seiner Zweiten Symphonie. Als reifer Mann, längst durchgesetzt und in seiner Originalität anerkannt, hat er sich dann der Schule Schönbergs angeschlossen in dem Sinn, daß er die Technik von dessen reifer Zeit, die sogenannte Zwölftontechnik, praktisch übernahm und theoretisch verfocht. Er, der dem Verdacht der schulmäßigen Bindung und des Parteigängertums weit entrückt ist, hat damit in souveräner Freiheit die Notwendigkeit anerkannt, die zu den Schönbergschen Resultaten führte. Das Werk, das Sie heute hören werden, zeigt ihn auf dem Weg zu diesen Konsequenzen und ist als Dokument des Prozesses von besonderer Wichtigkeit. Leider ist es uns ganz unmöglich, die Texte dieser Lieder auf englisch wiederzugeben, die Ihnen ein Blick in die künstlerische Sphäre verschaffen würde, aus der diese Lieder hervorgegangen sind. Die Worte stammen von dem großen österreichischen Dichter Karl Kraus – einem Dichter, der mit der in der deutschen Literatur vor 200 Jahren ergangenen Losung der produktiven Kritik als erster vielleicht ganz ernst gemacht hat: das dichterische Wort in all seiner Tiefe und Eindringlichkeit ist bei Kraus dem kritischen unabänderlich verschworen. Der Weg »durch die Nacht«, den die Lieder darstellen, ist ein Weg der produktiven Kritik: die furchtbare Anklage: »Was hat die Welt aus uns gemacht« hat als ihr Reversbild die Devise: »Nicht Gott, nur alles leugn' ich, was ihn leugnet«. Es ist aber diese symbolische Verflechtung des Kritischen und des Produktiven, die mir den eigentlichen Sinn unserer neuen Musik auszumachen scheint. Insofern ist Kreneks Liederzyklus ein Programm dieser Musik selber: ein Programm, das Musik vielleicht nicht von sich aus zu erfüllen vermag, das sie aber besser und reiner formulieren kann als jede andere Kunst.
Der Liederzyklus »Durch die Nacht« wird gesungen von Rose Landwehr, begleitet von Paul Breisach.