Bewußtsein des Konzerthörers

So wenig mehr die Schicht der Konzerthörer sozial homogen ist, so wenig auch ist es ihr Bewußtsein. Das Konzert, im 19. Jahrhundert der höfischen Pflege vollends entrissen, war neben der Opern-Repräsentation die charakteristischeste Form der bürgerlichen Musikübung. Und zwar der bürgerlich-privatkapitalistischen. Wohl also war hier, gleich allen Dingen, Musik zum Tauschwert und zur Ware geworden, hatte ihres ursprünglich ritualen und danach zeremonialen Wesens vollends sich entäußert. Aber der Raum der musikalischen Warenkonsumtion, den das Konzert darstellte, war gleich dem bürgerlichen Wohnraum gegen die Realität des wirtschaftlichen Zirkulationsprozesses sorgsam abgedichtet, isoliert im Zeichen der reinen Autonomie des Kunstwerkes: erhielt damit die Fiktion, das Konzert sei der Macht der Verdinglichung entrückt, die doch insgeheim aller Bewußtseinsformen längst sich bemächtigte. Diese Fiktion ist mit der Sicherheit des privatkapitalistischen Bürgers hinfällig geworden. Die Abdichtung des Konzertsaales gegen die Wirklichkeit zerbröckelt. Von den alten Trägern der Konzertkultur hat die entscheidende Gruppe, die intellektuelle Mittelschicht, großen Teiles die ökonomische Möglichkeit verloren, Konzerte auch bloß noch zu besuchen, geschweige denn aktiv zu stützen. Die aus jener Schicht durch Krieg, Inflation und Rationalisierungskrise bislang ungefährdet hindurchkamen, sind gegenüber der veränderten Situation in polemische Haltung gedrängt. Zusammen mit den trustkapitalistischen Kreisen, deren Herrschaft immer deutlicher sich auskristallisiert, und die, als neue ›Führerschicht‹ sich fühlend, Musik wieder dem Zweck der gesellschaftlichen Veranstaltung dienstbar machen möchten, hat die Vorkriegsintelligenz sich in den Schutz der traditionellen, konservativen Konzertgesellschaften geflüchtet, während der aktuellen Kunstübung in jene Bereiche einzudringen nur sporadisch gelingen will; oft genug werden dort moderne Werke nur geboten, den Hörern zu zeigen, daß man sich damit nicht aufzuhalten braucht und sogleich zu der nachfolgenden Siebenten Symphonie von Beethoven übergehen kann. – Andererseits kommt die junge Generation als Konzerthörerschaft im hergebrachten Sinne kaum in Betracht. Dem Betrieb einer rationalisierten Wirtschaft unterworfen, drängt sie eben aus dem privaten Lebensraum hinaus, der die Heimstätte der Konzerte war, und sucht mangels anderer verfügbarer Inhalte wenigstens die eigene Kollektivität zu genießen; das Kunstwerk als Gebilde zu begreifen, fehlt es ihr an Muße und Freiheit; der Zwang des Lebens, in dem sie existieren, fordert andere Stimulantien. So entspannen sie sich bei einer leichten Musik, die ihnen vom Reklameapparat des gleichen Trustkapitalismus samt Radio, Grammophon und Tonfilm eingehämmert wird, dem sie zu entfliehen meinen in eine Kunst, die mit Textwort und Rhythmus sie auch für die karge Freizeit den Ideologien der herrschenden Mächte unterwirft. Oder sie durchschauen wenigstens die gröbste Täuschung, verfallen aber sogleich einer neuen: der Jugend- und Gemeinschaftsmusikbewegung, im weitesten Sinne verstanden, die ihnen einreden möchte, die Tatsache der Kollektivität, des gleichen und wie oft völlig sinnlosen Schicksals sei bereits ein ›Sinn‹, und sie dem Phantom einer Gemeinschaftskunst nachjagen läßt, das durch jede Sekunde ihres atomisierten Lebens dementiert wird. Konzertflüchtig sind sie alle.

Darum heißt vom Bewußtsein des Konzerthörers sprechen, zunächst das Bewußtsein derer bezeichnen, die nicht mehr in Konzerte gehen. In den Konzerten zurückgeblieben sind die Zurückgebliebenen. Also einmal die, die etwas für die Bildung tun wollen und die noch desorientierter sind als die Konsumenten der leichten Musik, weil sie noch nicht einmal so weit halten, die Problematik ihres abgezehrten Bildungsideals zu erkennen; die denn auch gar nicht mehr gebildet sind; sie freuen sich, wenn sie alte Bekannte wiederhören. Dann die Narkotiker, auf die Stuckenschmidt einmal mit Recht hinwies; die zumal in Kammermusikabenden heimisch sind. Sie berauschen sich am bloßen Klang, Musik ist ihnen eine vitale Ersatzfunktion und erreicht ihr Bewußtsein überhaupt nicht; sie sind die kümmerlichen Erben einer Romantik, die sich von Musik in ›bessere Welten‹ entführen ließ, was immerhin damals eher möglich war als heute, weil vielleicht die Welt, vor der sie flohen, besser war als die gegenwärtige. Schrullenhafte Kenner, Outsider, die, über ihre Einsamkeit sich zu trösten, mit den Köpfen wackeln und mittaktieren, finden sich genug unter ihnen. Sie sind bereits verwandt der Gruppe der Fachleute, die mit der Partitur in der Hand zuhören. Diese verstehen wenigstens manchmal, was vorgeht, und da die Tatsache der Arbeitsteilung sich nicht beliebig widerrufen läßt, so soll man nicht gar so schlecht von ihnen reden; nur sind sie nicht eigentlich Hörer, und damit, daß man sie gleichsam vom Podium, aus dessen Perspektive sie hören, in den Saal verweist, in eine schiefe Situation sich selbst und der Musik gegenüber gebracht. Nimmt man die Hüter der Vorkriegsbelange, die kultur-repräsentierenden Wirtschaftsherrn und ein paar junge Intellektuelle hinzu, die sich informieren wollen, so ist die Sphäre der Konzerthörerschaft erschöpft. Daß die neuen Schichten in die Konzertsäle ›drängten‹, davon kann keine Rede sein. Einzig die deklarierten Veranstaltungen der großen politischen Organisationen haben hier – mit Recht – Erfolg. Das Kleinbürgertum scheint bastelnd dem Radio hörig; die Angestellten gehen nicht in Konzerte, sondern in ›Lokale‹, zu müde, noch die Arbeit des aktiven Hörens zu leisten; das Proletariat ist ökonomisch vom Konzertbesuch ausgeschlossen.

Trotz der offenbaren Krise des Konzertwesens, die die gesellschaftliche Lage eindeutig vorschreibt, ist ein Wort gerade zur Verteidigung der Institution zu sagen. Gewiß wird sie in der herkömmlichen Weise nicht zu halten sein. Aber sie hat die Funktion, Dinge zu bewahren, für die anderswo, in der gegenwärtigen Ordnung der Dinge, weder Raum noch Resonanz ist. Die verdinglichte und isolierte Form des Konzertes, ob auch in ihrer Privatheit überholt, ist jedenfalls der Struktur der heutigen Wirtschaft angemessener als der modische Trug einer vitalen Unmittelbarkeit des Musikalischen, die den Warencharakter zwar verdeckt, aber nicht verändert. Dem entspricht, daß die eigentlich radikale – die ihrem Wahrheitsgehalt nach radikale Musik einstweilen nirgends ihre Stätte findet, es sei denn im fragwürdigen und zweideutigen Konzertbetrieb. Denn die irregeleiteten Kollektive weisen sie als ›asozial‹ zurück; leichtverständlich ist sie nicht und kann es so wenig sein, wie der eigentliche Bewußtseinsstand der Epoche. Eine Musik wie die von Schönberg ist, wenn man von den mechanischen Mitteln der Wiedergabe absieht, einstweilen anderswo als im Konzert nicht denkbar. Da sie aber weiter hält als alle erdenkliche Gebrauchsmusik, so wird man schon um ihretwillen einer Institution noch Schonzeit gewähren, die jedenfalls vom Vorwand eines Gebrauches, dem der Zweck mangelt, sich fernhält. Die Konzerte sind darum vielleicht in der heutigen Musiksituation als Zellen eines radikalen Bewußtseins auszubilden, das die naturwüchsigen Kollektivformen verdrängen möchten. Dabei brauchten sie, selbst sozial, nicht einmal so gänzlich am falschen Orte sich zu befinden. Denn es gibt auch in der gesellschaftlichen Entwicklung Momente, wo die treibende dialektische Kraft von den großen Kollektiven – etwa wenn sie ideologisch umnebelt sind – an kleine Zirkel übergehen, die, einsam scheinbar, für ein Kollektiv weiterdenken, dem sie dem Erkenntnisgrunde nach näherstehen als dessen laute Repräsentanten. Im musikalischen Bereich werden solche Zirkel im Konzertraum sich schließen können. Daß es geschehe, ist freilich zunächst rückhaltlose Klarheit über die Zerfalls-Situation des Konzertes selber gefordert. Sie werden allein in den Ruinen des alten Konzertbaues hausen können. Aber sie werden dorthin besser passen als in den erleuchteten Saal.

1930