Beethoven im Geist der Moderne

Eine Gesamtaufnahme der neun Symphonien unter René Leibowitz*

Ein gesellschaftlicher Selektionsmechanismus bewirkt, daß im allgemeinen die Massenmedien sich die Karten zuspielen. Was etwa von der Schallplattenindustrie an großen zyklischen Ausgaben auf den Markt gebracht wird, richtet sich meist nach dem, was das offizielle Musikleben als erstklassig abstempelte. Meist entsprechen derlei Aufführungen den Standards des offiziellen Musiklebens. Sie verbinden technische Perfektion, tadelloses Funktionieren, lückenloses Ineinander sinnlich angenehmer Klänge mit einem gewissen Feuer der Darstellung. Hörern, deren Ansprüche selber nach den Standards gemodelt sind, wird die Illusion verschafft, bewundernswerte Spitzenleistungen seien zugleich erfüllt von dem, was der Naivetät Ausdruck und Gefühl dünkt.

Danken muß man bereits, wenn eine aufwendige Plattenpublikation von jenem Schema sich unterscheidet; vollends aber, wo das von Verfügung über die Apparatur Abweichende unauffällig ihr genügt, bloß um sie zu übersteigen in einer Schicht, welche das Ideal von musikalischem Streamlining con brio entscheidend aufkündigt. Die neue Serie der Beethoven-Symphonien ist ein Korrektiv des herrschenden kommerziellen Unwesens.

Es dirigiert René Leibowitz aus Paris, Komponist, Webern-Schüler und – was man in Deutschland kaum weiß – der eigentliche Träger der Überlieferung der Wiener Schule in Paris. Ohne sein Wirken wäre es nie zu jener internationalen Expansion von Atonalität und Zwölftontechnik gekommen, in deren Zeichen die gesamte gegenwärtige Produktion steht, soweit sie ernst zu nehmen ist. Seine Platten zeigen erstmals einem großen Publikum, was sonst, sieht man etwa von den unvergessenen, aber auf keinem Band aufbewahrten Orchesteraufführungen unter Anton von Webern ab, der Kammermusik reserviert schien. Er überträgt die musikalischen Erkenntnisse und Erfahrungen der Schönbergschule auf die Wiedergabe allgemein bekannter, authentischer Werke der Vergangenheit. Diese sind von den Veränderungen des musikalischen Bewußtseins bis ins Innerste betroffen. An den traditionellen Gebilden treten Momente hervor, die der Tradition ganz fremd waren. Wer ihnen gegenüber an der Tradition stur festhält, wird heute nur noch ihren Gipsabguß vorstellen, auch wenn er selber, und das Publikum, meint, die Werke lebten fort in ihrer Erstarrung. Bei aller zarten Behutsamkeit, ja Bescheidenheit des interpretativen Gestus polemisieren die Leibowitz-Aufführungen dagegen unwiderstehlich.

Kaum möglich, ohne eingehende Interpretationsanalysen davon auch nur einen Begriff zu vermitteln. Die Entrümpelung der Beethoven-Symphonien, ihre Befreiung von dem Schmutz, der als Spur des Dirigentenexhibitionismus über mehr als hundert Jahre sich darauf abgesetzt hat, ist einzig ein Moment des Vollbrachten. Seit Toscanini wurde die Forderung eines entromantisierten Beethoven populär. Bei genauem Abhören der Platten Toscaninis erweist sich jedoch, daß deren gepriesene Werktreue mehr in der Virtuosität der orchestralen Spielweise besteht als in wahrhafter Angemessenheit an die Texte. Leibowitz geht an Treue kühn über das an Toscanini Bewunderte hinaus, insbesondere in den mit höchstem Bedacht den Beethovenschen Angaben gehorchenden, dabei kritisch gewählten Tempi. Vielfach sind sie erheblich rascher als die gewohnten, keineswegs aber stets; es bezeugt das unabhängige Gewissen von Leibowitz, daß er auch vor der Versuchung, es justament anders zu machen und die Hörer zu erschrecken, gefeit ist. Wo er sie, der Sache zuliebe, durch verfremdende Interpretation chokieren muß, scheut er nicht davor zurück; in anderen Fällen aber, wie dem wahrhaft unerreicht aufgeführten ersten Satz der Pastorale, hält er mehr Maß als die Pultvirtuosen und findet im Alten das Neue auf ganz andere, überaus behutsame Weise.

Sogenannte Werktreue schlägt bei Leibowitz, ähnlich etwa wie in den Beethoven-Interpretationen des Kolisch-Quartetts, aus sich selbst heraus in ein anderes, radikal Modernes um; das wohl macht das Unvergleichliche seiner Aufführungen aus. Er bescheidet sich nicht bei jener Art Sachlichkeit, die mittlerweile in der Produktionssphäre, im Neoklassizismus, so gründlich sich verdächtig machte. Sondern die Genauigkeit, mit der inmitten der strikt befolgten Angaben des Notentextes der musikalische Sinn realisiert, alles auf den musikalischen Zusammenhang Bezogene herausgearbeitet wird, schafft, ohne Sentiment, rein vom kompositorischen Objekt her, eine Differenziertheit des Phänomens, die ohne die leiseste Konzession ans Rubato hinter sich läßt, was je im Namen des Rubatos gedieh. Die Phrasierung, mit der wägenden Unterscheidung zwischen Zäsuren verschiedenen Gewichts, ist dabei noch das auffälligste, keineswegs das einzige Mittel. Klargelegt wird die kompositorische Struktur vor allem durch den Klang. Die Rede von kammermusikalischem Musizieren mit dem Orchester ist, dies eine Mal, keine Phrase. Durch die Abschattung der instrumentalen Valeurs gewinnen die Werke eine Plastik im Verhältnis der Teileinheiten zueinander, die gemeinhin zur höheren Ehre des Symphonischen zugedeckt wird, während an ihr doch gerade die symphonische Integration haftet. Denn Einheit in der Mannigfaltigkeit gelingt nur dort, wo die Mannigfaltigkeit selber als solche bis zum äußersten modelliert ist.

Die besonderen Qualitäten wachsen zumal den früheren Symphonien zu; außer der Pastorale, die am Ende eine Wirkung realer Humanität erreicht, die man dem beliebten und unterschätzten Stück schon kaum mehr zugetraut hätte, der Vierten, erst in dieser Wiedergabe einem chef-d'oeuvre gleichen Ranges mit den größten symphonischen, und auch der Eroica. Daß in den späteren Symphonien das doppelte und in sich paradoxe Ideal strengster Objektivität bei äußerster Differenziertheit nicht schon ebenso gänzlich erreicht ist, liegt an gewissen Schwächen des zur Verfügung stehenden Klangkörpers. Das gilt vorab für die Neunte Symphonie. Zuweilen bleiben auch Einzelinstrumente, trotz eines vom Dirigenten inspirierten, bewundernswert guten Willens, hinter der Intention zurück; so ist das erste Fagott allzu schwächlich. In manchen der berühmtesten Symphonien wie der Siebenten scheint eine Art Scham oder Vorsicht Leibowitz noch daran zu hindern, ganz seinem, wenn man so sagen darf, analytischen Impuls nachzugeben; dann beugt er sich mehr dem Diktat einer allem einzelnen vorgeordneten Ganzheit, als es in der Idee seiner Reproduktionskunst liegt. Das sei gesagt, nicht um an einer erregenden und beglückenden Leistung herumzumäkeln, sondern einzig um zur äußersten Konsequenz aufzustacheln, wo ein so ganz Neues sich bildet.

Hörer, welche die Beethoven-Symphonien weder als Museumsstücke noch als aufgeputzte Spitzenleistungen hören wollen, sondern als entfaltete Wahrheit, stehen unter einer Art moralischer Verpflichtung, diese Platten kennenzulernen. Überdies werden sie ihnen etwas gewähren, was sie nicht erwarten und vielleicht nicht einmal verlangen: eine Einführung in die neue Musik aus dem verborgenen Geist der größten heraus, die im Zeitalter der Tonalität geschrieben wurde.

1964

Fußnoten

* Royal Philharmonic Orchestra und Beecham Choral Society, Dirigent: René Leibowitz, auf RCA; auch 160 017-2 bis 160 021-2 Menuet (5 CD).