Musiksoziologie
Musiksoziologie ist der Inbegriff der wissenschaftlichen Behandlung aller gesellschaftlichen Aspekte der Musik. Da Musik, als ein Medium des objektiven Geistes, in sich selbst gesellschaftliche Inhalte verkörpert; da der Produktionsprozeß von Musik gesellschaftlichen Bedingungen unterliegt; da Musik gesellschaftlichen Strukturen und Prozessen der verschiedensten Art angehört, und da sie innerhalb der Gesellschaft bestimmte Wirkungen und Funktionen ausübt, so sind die von der Musiksoziologie zu behandelnden Fragen nicht nur mannigfaltig und komplex, sondern liegen zum Teil auch derart weit auseinander, daß die als musiksoziologisch zu bezeichnenden Arbeiten nur verhältnismäßig äußerlich auf einen Generalnenner zu bringen sind. Eine theoretische Untersuchung über den gesellschaftlichen Sinn eines musikalischen Formtypus wie etwa der Fuge und eine Übersicht über die Symphonieorchester eines Landes und deren Finanzierung hängen kaum in etwas anderem zusammen als darin, daß in beiden Musik überhaupt irgendeine Rolle spielt – es sei denn, daß eine umfassende gesellschaftliche Theorie der Musik es vermag, zwischen derlei Untersuchungen eine tiefere Beziehung herzustellen. Das ist in der Breite der heute durchgeführten musiksoziologischen Untersuchungen nicht der Fall. Sie unterliegen weitgehend einer wissenschaftlichen Arbeitsteilung, welche die theoretische Besinnung, die Analyse von Gebilden des objektiven Geistes, das Studium der Bedingungen ihrer Erzeugung und insbesondere die empirischen Erhebungen über die Wirkung von Musik einigermaßen unverbunden nebeneinander stellt. Es kann daher von Musiksoziologie als einer inneren Einheit kaum die Rede sein: der Name bezeichnet ein Agglomerat von wissenschaftlichen Anstrengungen, die ihrem eigentlichen Sinn nach sich mehr oder minder an ganz anders geartete Disziplinen wie die musikalische Analyse, die Wissenssoziologie, die empirische Soziologie anschließen. Die Konstitution einer genuinen Wissenschaft Musiksoziologie kann nicht von der Integration oder Synthese dieser ihrem Ursprung, ihrem Interesse und ihrer Technik nach höchst divergenten Bestrebungen erarbeitet werden, sondern einzig dadurch, daß es gelingt, von einer durchgebildeten Theorie der Gesamtgesellschaft her all jene Momente aufzuhellen, und umgekehrt, in jeder einzelwissenschaftlichen Untersuchung die Kraft der gesellschaftlichen Reflexion so fruchtbar zu machen, daß die Daten zu sprechen beginnen. Dem mögen monographische, streng umgrenzte Arbeiten besser dienen als sogenannte Gesamtdarstellungen des Gebiets. Hinzuzufügen ist, daß Musiksoziologie überhaupt eine junge Disziplin ist: der Name dürfte kaum hinter Max Weber zurückgehen. Das bedeutet nicht, daß es früher an Überlegungen gefehlt hätte, die für musiksoziologisch gelten könnten. Insbesondere ist die Behandlung der Musik in der Philosophie von jeher sehr stark gesellschaftlich akzentuiert gewesen, vermutlich veranlaßt durch den Platonischen Staat, der eine Kritik der Musik unter dem Gesichtspunkt ihres Wertes oder Unwertes für die ideale Republik enthält. Die Platonische gesellschaftlich-disziplinäre Auffassung der Musik ist dann durch Augustin zur Grundlage der christlichen Musikbetrachtung geworden. Auch die Schriften der Musiker, insbesondere die auf Reform abzielenden, enthalten sehr viel Soziologisches: an erster Stelle die von Richard Wagner. Paul Bekkers vor dem ersten Weltkrieg erschienene Schrift über das deutsche Musikleben würde man heute zu den musiksoziologischen Untersuchungen vom Typus der institutionellen Analyse rechnen. Schließlich sei hier noch an die zahlreichen musikalischen Studien des Lorenz von Stein-Schülers Wilhelm Heinrich Riehl erinnert. Musiksoziologie als Spezialwissenschaft jedoch ist ein Spätprodukt der geistigen Arbeitsteilung und hat an deren Folgen zu laborieren. Insbesondere die Vorstellung, durch empirisch soziologische Methoden irgendwelche auf Musik bezogene Sachverhalte zu erfassen, gehört erst den letzten Dezennien an. Zwischen solchen Versuchen und den älteren, am Sinn von Musik als solcher orientierten herrscht einstweilen ein Bruch, und es ist aus erkenntniskritischen Gründen recht fraglich, ob er sich schließen läßt. Eine Vorstellung von dem, was unter dem Namen Musiksoziologie geht, wird am ehesten vermittelt durch Beispiele ihrer weit voneinander entfernt liegenden Problembereiche.