FEBRUAR 1934

Der Frankfurter Orchesterverein brachte in seinem jüngsten Montagskonzert die – vom Südwestfunk übernommene – Uraufführung der viersätzigen C-Dur-Symphonie des Landgrafen Alexander Friedrich von Hessen. Es handelt sich um ein Werk durchaus ernster symphonischer Haltung; stilistisch der Generation des Autors gemäß an Bruckner, Brahms, im Trauermarsch wohl auch an Mahler orientiert; in einem bestimmten symphonischen Ausdehnungsdrang, auch in der Herbheit des zuverlässig gehörten Klanges und der Invention persönlich getönt. Am meisten gibt der kontrastreiche erste Satz und das rezitativisch beginnende, dann bis zum Ausbruch gesteigerte Trauermarsch-Adagio her. Das Finale, mit einer Fugato-Durchführung und einem orgelgekrönten Schluß, scheint nach einmaligem Hören demgegenüber etwas unentfaltet und verlangte, um im Sinne seiner Intention wirksam zu werden, wohl geräumigere Zeitdimensionen – wie sie wieder die kompositorische Zurückhaltung des Ganzen lieber vermeiden möchte. Die ausgezeichnete Wiedergabe unter Hans Rosbaud fand nicht bloß den aufrichtigen Respekt, sondern die lebhafte Sympathie der Hörer. – Voraus ging die selten gespielte Ouvertüre »Zur Namensfeier« des späten Beethoven und Mozarts A-Dur-Konzert, von Alma Moodie mit erprobter Präzision gespielt. – Nachzutragen ist, aus den gleichen Konzerten, eine höchst eindrucksvolle, die Tektonik bis zur Objektivität freilegende Streichorchester-Wiedergabe der großen B-Dur-Quartettfuge (des ursprünglichen Finales zum B-Dur-Quartett) von Beethoven. – Die Reichssendeleitung gibt bekannt, daß der »organisierte Programmaustausch« zwischen den Sendern der Sendegruppe West – Frankfurt, Köln und Stuttgart – wieder aufgegeben wird, nachdem die straffe Organisation im Jahre 1933 ihren politischen Sinn erfüllt hat. Es wird eine Auflockerung des Sendewesens angestrebt; die Programmgestaltung untersteht in Zukunft wieder der Verantwortung der einzelnen Intendanten. – Es darf wohl angenommen werden, daß diese Auflockerung der »Sendegruppe West« aus den gleichen Gründen erfolgte, wie sie an dieser Stelle bereits bei deren Einrichtung vorgebracht wurden: daß man nämlich die Gefahr erkannte, es werde durch allzustraffe Zentralisierung des Sendewesens, vor allem durch Einschränkung der selbständigen symphonischen Darbietungen des Frankfurter Senders, dem Musikleben der einzelnen Städte allzuviel an selbständiger Kraft und Initiative entzogen. Jedenfalls ist der Entschluß der Reichssendeleitung im Frankfurter Interesse hocherfreulich. Denn eine unserer wichtigsten musikalischen Institutionen, der Orchesterverein, ist samt unserem ›zweiten‹ Orchester vom Rundfunk abhängig und wird auf die Dauer nur fruchtbar arbeiten können, wenn ihm auch weiterhin vom Rundfunk her die Möglichkeit zugemessen bleibt, große symphonische Aufgaben zu bewältigen.

Es war vorauszusehen, daß man, auf der Suche nach betont-nationalen und zugleich publikumsmäßigen Opern, der musikdramatischen Produktion von Humperdinck sich erinnern werde. Nun hat man, um die Weihnachtszeit, die »Königskinder« aufgeführt; das tragische, darum unbeliebtere, gewiß aber merkwürdigere Seitenstück zu »Hänsel und Gretel«. Die Einwände gegen das Werk liegen bequem genug zur Hand. Keinem Zweifel unterliegt, daß hier die märchentiefe Wirklichkeit und Auswendigkeit der angezogenen Stoffe ins Symbolische verflacht ist; daß vom Motiv des Hohen Paares und seiner Verborgenheit als einem der theologisch echtesten nicht viel mehr übrig blieb als ein dünnes Gleichnis bloß innerlichen und psychologisch gemeinten Königs- oder Adelsmenschentums; nicht zufällig dürfte der Textdichter sich Rosmer nennen. Dazu stimmt auch die romantisierende, aufgeschmückte Diktion des Buches, das da irgendwo im Jugendstilland zwischen Wagner und Maeterlinck sich ansiedelt. Vollends im Schatten Wagners lebt die Musik; der erste Akt unter Siegfrieds Linde (und auch beim Mime-Akt); der zweite den Meistersingern, der dritte dem Tristan verpflichtet. Was aber musikalisch in dem also abgesteckten Rahmen sich vollzieht, ist nicht wenig. Es darf heute, ohne Angst vor Übertreibung, gesagt sein, daß im Umkreis der unmittelbaren Wagner-Nachfolge keiner lebte, der mit so viel Geschmack, so wenig Trara, vor allem aber so durchaus gesichertem und kritisch durchgeformtem Handwerk komponierte wie Humperdinck, der da getrost den Vergleich mit überaus berühmten Namen aufnehmen könnte. Eine gewisse Lockerheit der orchestralen Geste weist deutlich auf den frühen Strauss, ein eigentümlich getrübter Volkston auf Mahler; alles aber hat eigenen Klang, viel Erfindung, und an den Höhepunkten, wie dem Schluß des zweiten Aktes, den Strahlenglanz des Scheins ohne alles rohe Blech. Harmonisch eine Fülle des Besonderen – gewiß eine der ersten Ganztonstellen der Literatur –, Transparenz des Klanges bei schöner Buntheit; außer der langwierigen Exposition und etwa dem schwachen Vorspiel des dritten Aktes auch dramatischer Sinn. Das Wichtigste aber die selbständige Durchformung der deutschen Folklore, die Humperdinck nicht bloß mit Geschmack, sondern aus tieferem Instinkt unternahm. Es mag seiner Musik als eigentliches Ziel die Versöhnung von Wagner und Brahms: von Farbe und Kontur, von Reichtum und Konstruktion, von Klang und Melos innewohnen, und wer die Geschichte der neuen Musik gründlich genug zu erkennen versteht, weiß, daß sie in dieser Spannung bis zu den verwegensten Resultaten sich vollzog. Nur hat Humperdinck nicht, wie es fällig gewesen wäre, die Brahmsischen Bauprinzipien aufs Wagnerische Chroma angewandt, sondern umgekehrt: Brahmsisch-folkloristische Thematik in neudeutschen Farben gedeutet und damit, schließlich, doch auch nur geschmückt, wo die entscheidende Auseinandersetzung zwischen dem einzelnen und seiner Tradition zu führen gewesen wäre. Aber trotzdem, wer aus seiner Zeit ist so weit gekommen, wer hat das zentrale Problem der nachwagnerischen deutschen Musik so rein auskristallisiert? Ohne Bedenken kann die Aufführung des wichtigen und eigenen Werkes angeraten werden, das der behenden Aneignung von Volksgut in vieler gegenwärtiger Musik zu Ernst und Besinnung verhelfen könnte. Zumal Augenblicke, wie das Niederfahren des Sterns zur Blume, dann die Vertreibung der Königskinder, die nur ein Kind erkennt, theatralisch höchst unverächtlich bleiben. – Sorgfältige Aufführung unter Seidelmann; die Inszenierung freilich allzu illusions-und anweisungsgetreu mit praktikablem Rauch und rinnendem Brunnen; sonderbar zumal, wenn man weiß, daß zur gleichen Zeit in Bayreuth das Illusionstheater preisgegeben wird; doch den Kindern zur Freude. Torsten Ralf als Königssohn verspricht einen zukünftigen Siegfried, sollte aber dazu sein Material noch sehr pflegen; Gertrud Riedinger sang gut die Gänsemagd; musikalisch und darstellerisch zeigte am meisten Profil die Hexe von Frau Spiegel; dem Spielmann als dem Erben Hans Sachsens lieh Herr Permann Humanität.

MÄRZ 1934

Vor den Toren von Wagners musikdramatischer Festung ist »Rienzi« angesiedelt: in den Ruinen der alten Großen Oper, deren Plan und deren Fensterhöhlen die Form des Werkes markieren, nicht anders als seine Vorgänge von den Ruinen des alten Rom überschattet sind. Daß Wagner dem rebellischen Tribunen und ästhetischen Randsiedler späterhin den Zugang in sein neues Reich verwehrte, braucht die Nachgeborenen, längst nicht mehr geborgen in dessen Mauer, nicht daran zu hindern, das seltsame Leben zu betrachten, das der päpstliche Legat zwischen Arien, Trompeten und einem heroischen Soprano führt. Stets noch gibt »Rienzi« sein Rätsel, vielleicht das seltsamste der Musikgeschichte, auf: wie ist es möglich, daß ein Genie als Routinier begann? Bleiben die Arien, selbst die des Friedensboten und Rienzis Gebet, die verblichen und erst im »Tannhäuser« gerettet sind, die Antwort schuldig; ist vollends die Hosenrolle des Adriano als dramaturgischer Einfall unverständlich ganz und gar, so helfen dafür am Ende die Trompeten weiter. Denn hier erweist sich der Ursprung Wagners in der Fanfare als des musikalisch noch gestaltlosen, szenisch-gestisch konzipierten Ausganges seiner Verfahrungsweise: des Indifferenzpunktes von Klang und Theater, aus dem späterhin das System der Identität von beiden aufsteigt. Kein Zufall, daß die Themen, die sich in Wagners Entwicklung dem Chromatisierungsprozeß entzogen, bis hinauf zum Parsifalmotiv allesamt Fanfaren geblieben sind. Die ganze Wagnersche Mythologie geht hervor aus der Einheit zwischen Oberton-Natur und theatralischer Ostentation, die in der Fanfare sich ankündigt; ja selbst die Zellenform des Wagnerschen Motivs mag in der Fanfarenkürze vorgedacht sein. Nicht Oper, nicht Drama: die Bühnenmusiken im prägnanten Sinne sind die Mütter Wagners; kennbar noch im Tannhäuser, sogar auf der Festwiese; offenbar aber zwischen den Rienzitrümmern in jener Banalität, die hier bloßes Ärgernis bleibt, um später im Ring wie aus dem Abgrund der Erinnerung beschworen zu werden. Natur und Schein als radikale Einheit: wenn diese Formel einiges vom Wagnerischen Geheimnis insgesamt treffen kann, dann trifft sie gewiß das Geheimnis der Rienzi-Routine, der Kapellmeister-Oper, jener Art Bühnenmusik, zu der unablässig Kämpfende, Fliehende, Siegende auftreten müßten. Unter solchem Aspekt wird das Werk begreiflicher. Er war es kaum, der die Frankfurter Aufführung beherrschte. Den Intendanten Meissner, der selbst inszenierte, mochten wohl vor allem die bewegten Massenszenen locken, die etwas hergeben und auch sehr drastisch herauskamen. Die Analogien aber zu gegenwärtigen deutschen Vorgängen, die mancherorts heute beim »Rienzi« konstruiert werden, scheinen mir zu vag, zu wenig durch die opern-konventionellen Aussagen über Vaterland und Freiheit gestützt, die der Rienzi enthält, als daß man ihnen größere Tragweite für die Aktualität des Werkes zutrauen könnte. Die wird vielmehr, vor einem naiven Publikum, von seiner derben Theatersicherheit garantiert. – Die Aufführung ist insgesamt rühmenswert. Der Dirigent steht vor der peinlichen Frage, ob er den Fanfarenton dämpfen will, dem Geschmack zuliebe und auf Kosten der Wirkung, oder ob er den Geschmack opfern und der Ur-Bühnenmusik ihren Triumph gönnen soll. Herr Zwißler vermittelte mit Takt und Umsicht. Von den Solisten holte sich Frau Spiegel durch ihre überragende Interpretation des Adriano mit Recht einen Sondererfolg auf offener Szene. Als Rienzi ein neuer Heldentenor, Herr Helm: theatergewandt und auch mit gesanglichen Möglichkeiten, aber im individuellen Umriß noch nicht ganz den Anforderungen gewachsen, die eine repräsentative Bühne stellen muß. Mit der wenig dankbaren Partie der Irene fand sich würdig Frau Kment ab. Die Bühnenbilder dürften sich unbedenklicher dem Ruinen-Charakter hingeben. Dröhnender Beifall.