Opernprobleme

Glossiert nach Frankfurter Aufführungen

Intermezzo

Man sollte, Straussens jüngstem Bühnenwerk gerecht zu werden, endlich von der privaten Seite der Angelegenheit absehen. Nicht daß sie gleichgültig wäre: denn der Zusammenhang zwischen dem Bürgerlichen, das selbst so hier sich benennt, und dem Privaten ist evident genug und symbolisch zugleich. Jedoch bezeichnet jener Zusammenhang allenfalls das Endziel der Kritik und darf nicht ihr Beginn sein. Kritik hebt an mit der Erfassung der Gehalte eines Werkes, die zu gewinnen der psychologische Regreß auf seine Genesis eher verwehrt als hilft. Die Frage nach dem Ursprung, die an die Erkenntnis der Gehalte sich anschließt, mag denn auch recht sehr verschieden sein von der billigen psychologischen Analyse, die daraus, daß Strauss im Intermezzo sein Familienleben reproduziert habe, den Charakter dessen herleiten will, was als Gebilde sich ablöste von ihm. Was nun begab sich mehr, als daß ein Strauss in einen Storch fruchtbar sich wandelte? Gewiß, die Wandlung betrifft nur den Namen, mit Strauss selber hat sich nichts Neues zugetragen und wer historische Ohren hat, kann im »Intermezzo« die flatternde Sinnlichkeit und feuchte Gemütlichkeit aus der Domestica wiederfinden, das entzauberte Parlando aus der Ariadne, aus dem Rosenkavalier merkbar den Walzer und sogar dort, wo die keifende Christine dem kleinen Baron seinen Abschied gibt, etwas von dem stillen und reifen Abschied, den die Marschallin sich nahm. Und trotzdem ist die Wandlung des Namens ein Zeichen, nicht sowohl für Straussens Schicksal als für das der Form, deren tragische Geschichte er dort noch bezeugen muß, wo seine eigene in eiliger Versöhnung sich neigte. Wie das phantastische, hochbeinige und flüchtige Tier einem bedächtigen, familiären und deutschen Vogel weichen muß, dessen hohe Beine nur dazu noch nützen, daß er ausdauernd auf einem stehen bleibe, so ergeht es im »Intermezzo« der romantischen Oper, die doch so wenig sich änderte wie nur der Komponist Richard Strauss. Dem entzauberten Parlando, das Wagners Sprechgesang ironisch verdrängt, entspricht Entzauberung insgesamt. Zauberei war durchaus das Wesen der romantischen Oper, und wenn die Drastik des Weberschen Samiel von Wagners symbolisch erhellter und mythologisch totaler Konstruktion sublimierend erfaßt wurde, so ist in Wahrheit nichts gegen die Zauberei geschehen, sondern vielmehr versucht, ihren Herrschaftsanspruch vollständig zu begründen. Denn hier wie dort ist Natur ausschließend gesetzt und der Geist, der sie zu bändigen unternimmt, als gleichen Stammes wie sie selbst, darum ihr verfallen: das abstrakte Philosophem der Götterdämmerung ist in seiner Abstraktheit das Apriori aller romantischen Opern. Es ist identisch mit Zauberei. Die Macht des bloß natürlichen Geistes über Natur ist Beschwörung bloß, gebunden an Natur und darum Schein. Wenn Strauss als Vollender des Scheins in der Musik angeredet wurde, so sollte er damit ins Bereich der zaubernden Romantik eingeordnet sein. Ihr Zauber tritt auf als Spruch einer blinden Inwendigkeit über das stumme Außen. Er enthüllt sich als vergeblich und scheinhaft, indem das stumme Außen Macht gewinnt über die blinde Inwendigkeit, der es sich fügen sollte. Wotans Verneinung des Weltwillens, die Abdikation des herrschenden Geistes vor dem verlassenen Element, spricht dies Verhältnis aus, wie es in der Musik sich ausspricht als Sieg der expressiven Häufung über die ursprünglich geforderte Konstruktion. Das Schicksal, das in der Oper »Götterdämmerung« Gegenstand ward und sie durchschneidet, wurde bei Strauss zum Schicksal, dem die Oper selbst erliegt. Die mythische Macht, der Wotan sich beugt, ist im »Intermezzo« die Macht der Dinge über Musik und damit Entzauberung der Oper. Gleichwohl hat jene Entzauberung geringere geschichtsphilosophische Dignität als sich denken ließe. Die Dinge, die da Macht gewinnen, sind selbst schon verloren. Zwar sie wären es ohnehin. Aber da sie nur, eine in sich gestaltete soziale Umwelt, die eindeutig Menschen bestimmt, waltend als Schein in Aktion treten, müssen sie erst beschworen werden und der Naturalismus ist auf dieser Stufe der Operngeschichte bereits wieder Romantik. Danach erst läßt sich der Ort jenes bürgerlich Privaten ausmachen. Der bürgerlichen Dingwelt kam Macht zu über das psychologische Ich, dem sie angemessen war. Als totale ist sie zerfallen und die Privatheit, die einmal gerade die Totalität bürgerlich-liberaler Gesellschaftsordnung garantierte, ist abgesprungen, zu fragmentarischen Resten zersetzt. Sie deckt sich mit der Privatsphäre des Künstlers, der auf sie sich bezieht, um zu ersetzen, was an Geltung einer objektiv vorgezeichneten und ästhetisch konstitutiven Bürgerlichkeit schwand. So bezeichnet denn die Stunde, die eine naturalistischpsychologische Oper hervorbrachte, die Situation, in der die surrealistische Oper aktuell ward. Man muß in Augenblicken die Fremdheit der Rodelschlitten und der Skatpartie und des Teetisches im »Intermezzo« erfahren haben, um zu erkennen, was an Zauber noch blieb und an neuem angelegt ward. Daß das Opernsujet in die Familie als naturhafte Monade zurückgeschoben wird, ist in der Tiefe der objektiven Intention schwer auszudenken. Es bewahrt sich darin noch etwas vom mythologischen Ursprung der Oper. Das letzte geschichtsphilosophische Problem des »Intermezzo« wäre die Verwandlung des Orpheus. Sie auch ist der Trost in der furchtbaren Stummheit jener Musik.

Denn auf sie zielt die Absicht dieser Erörterung. Mag immer die Verlorenheit der Dingwelt selbst schon wieder in Debussys Boîte à joujoux, in Ravels L'enfant et les Sortilèges gefangen sein, während sie aus dem »Intermezzo« erst heraustritt: die Musik bestätigt sie verbindlich. Trügerisch vollkommen, mit einem geschlossen blanken Orchester, bleibt sie in sich, ohne sich nur verlassen zu wollen. Der Geschmack der gedämpften Apotheose ist bei Strauss ohne Beispiel. Im »Intermezzo« hört Routine auf, einzig psychologische Kategorie zu sein. Es ist die Macht des Draußen über das Drinnen eigentlich. Nicht Schönbergs technische Ökonomie, in der das Ich an den Sachen sich wiederfindet; ein Bild der Sachen vielmehr in abgelebter Starrheit, fahl geschmückt und pompös.

Otello

Daß Verdis »Otello« bis heute Popularität nicht erzwingen konnte, ist ein Hinweis, dem zu folgen sich verlohnt. Man scheut sich, die Qualitäten des Werkes zu rühmen, über die sich die Kritiker einig sind, ohne sie allerdings durchweg klar zu sehen, und die das Publikum anerkennt, um sogleich darauf die Oper zu verraten. Wichtiger schon wäre die Abwehr einiger banaler Einwände. Der nächstliegende behauptet, da nun einmal die dramatische Schlagkraft nicht, wie sonst üblich, bestritten werden kann, beim alten Verdi habe das melodiebildende Vermögen nachgelassen. Er verkennt, daß es vielmehr sich konzentrierte. Es ging über vom Thema auf das Motiv, dessen Plastik in zwei Takten oft zusammenfaßt, wozu in der »Aida« noch ein großer Bogen nötig war. Der Wagnerschen Motivtechnik ist die des alten Verdi, wenngleich von ihr angeregt, radikal entgegen. Bei Wagner gilt der Primat der Motive, aus denen, kontrapunktischer stets gedrängt, die Form wächst; bei Verdi der Primat der Form als Melodie. Nichts aber könnte die Größe des Meisters stichhaltiger legitimieren, als daß die Melodie seiner Kritik verfiel. In tieferem Sinne wird er damit der Forderung des Tages gerechter, als es durch den Anschluß an Wagner gelungen wäre, dessen Schein er nicht mied. Den totalen Oberflächenzusammenhang, dem Wagner unerbittlich zustrebt, erkennt Verdi als Trug, obwohl er ihm besser und vollständiger geschenkt war, denn als bloßer Oberflächenzusammenhang. Er zuerst vielleicht hat die Frage gestellt, die als Ausgangsgrund alle neue Musik von Gewicht trägt: was der Musik an Wirklichem verblieben sei. Er stellte sie vor Debussy und fand gleich ihm eine schmale Zone sinnlichen Materials vor, die soweit noch in der Kontinuität sich hält, um überpersonale Kraft zu binden, deren Wahl aber geknüpft ist an die Person. Dies Wählerische rückt ihn zu Debussy in der Tat enger als zu Wagner. So mahnt auch seine Art der Motivwiederholung deutlich an den Franzosen. Sie ist nicht Entwicklung, bezieht nicht Motive wandelnd funktionell aufeinander in dialektischer Absicht zur Totalität. Das Motiv, das letzte seiende Bestandstück solcher Musik, wird – wie bei Debussy – wiederholt, um es durch die Anlage der Gesamtform, ihre wechselnde Dynamik, das jähe Abbrechen als seiend zu bekräftigen im flutenden Licht einer zeitlichen Existenz, die es nicht zerstört.

Damit ist die Unpopularität des »Otello« verstanden. Es ist die Esoterik eines, sei immer das Wort ohne Leichtsinn gewagt, modernen Werkes; die Esoterik Debussys und Schönbergs; die Reinheit eines Gebildes, das um seiner Wahrheit willen nichts sich vorgibt, als was es im Kleinsten eben noch in sich hat. Der sinnlichste aller Musiker hat die Apologie der strengen Reduktionen vorweggenommen, die jedem, der sie ernsthaft heute beginnt, vom nächstschlechten Schulmeister die Scheltworte eintragen, er sei blutleer und sündige wider den heiligen Geist musikalischer Natur. Daß freilich über der gewaltigen Einsamkeit des späten Verdi aus freundlicher Form die Form-Macht seines Volkes grüßt, ist sein unvergleichliches Glück. Ihm dankt man diesen letzten Otello-Akt, der das Geheimnis der Oper unmittelbar trifft, das im »Intermezzo« zum Grunde sank. In Musik löst sich die Stummheit der Natur, die in Schuld mordet und stirbt. Vorm Lied vom salce schwindet das Recht jeder ästhetischen Frage.

Ring des Nibelungen

Nur von der musikalischen und szenischen Neueinstudierung der Tetralogie soll gesprochen sein, nicht, unmittelbar, vom Werk. Man ist bis zum »Siegfried« gediehen, die »Götterdämmerung« wird bald folgen, und das Beginnen läßt sich nach seinen Hauptlinien überblicken. Es geht aus von der Erkenntnis, daß die Bayreuther Tradition, wenn sie überhaupt noch übrig ist, sich nicht mehr halten läßt. Zugleich aber ist man sich dessen bewußt, daß um seiner konstitutiven Struktur willen der »Ring« nicht völlig abgetrennt werden kann von jener Fassadenwelt, die in Bayreuth konserviert ward. Man muß die Notwendigkeit, mit dem »Ring« im Kompromiß sich zu einigen, aktuell jedenfalls anerkennen, wofern nicht eine Kritik des Werkes zu entschlosseneren Postulaten führt. Der Kompromiß nun ist in Frankfurt wohlgelungen. Die Bühnenbilder von Sievert lassen dem Werk soviel an Illusionstheater, wie die Idee des extensiven Scheins es befiehlt, die bloß als Schein der Wirklichkeit sich verwirklicht; und korrigieren das Illusionstheater soweit wieder, wie der Schein sichtbar bereits erlosch; wobei sich darüber streiten ließe, ob die Korrektur jenes Realitätsscheins durch dekorative Symbolik jenen an Scheinhaftigkeit nicht noch übertreffe. Die Rheintöchter also schwimmen, daß es eine Freude ist; der Feuerzauber lodert waschechter als das strahlende Schlußbild einer Revue, und der Drache ist ein so prächtiges Tier, daß man bedauert, ihn nicht in ganzer mythologischer Größe, sondern nur bis zum Ansatz des Rückens sehen zu dürfen. Im Erdinnern hatte man sogar Raum für bescheidenen Konstruktivismus. Über all dem hielt Clemens Krauss seinen Stab. Er nahm, in sicherer Übereinstimmung mit Bild und Regie, durchweg rasche, im »Rheingold« erstaunlich rasche Tempi und bot eine Mythologie, gehört durch ein Temperament.

1926