Nach Steuermanns Tod
In New York ist er, zweiundsiebzigjährig, gestorben; an Leukämie. Die Nachricht hatte alles Grauen des Plötzlichen, um so mehr, als die, welche ihm nahe waren, vorbewußt spüren mochten, daß es schlecht um ihn stand, und versucht hatten, von sich zu weisen, was, als es geschah, längst gehegte Furcht bestätigte. Mit seinem Tod sich abzufinden, ist unmöglich; für die paar, die wußten, wer er war, wird das Leben nicht mehr dasselbe sein.
Eduard Steuermann stammte aus Polen; sein Vater war Advokat und Bürgermeister der Stadt Sambor. Die Familie gehörte zur jüdischen gentry, vom Geist geprägt wie kaum eine, die ich je kannte. Seine beiden Schwestern sind in der Jugend Schauspielerinnen gewesen. Kunst, ästhetischer Ernst hatte den Vorrang vor den besonderen Medien der Begabung, der Ernst aber nötigte ihn zur äußersten Konzentration auf sein Material. In jedem Augenblick seiner Existenz blieb er so frei vom Amateurhaften wie vom Fachmenschentum; Freund von Karl Kraus, bei dessen Lesungen er oft mitwirkte.
Seine frühe musikalische Ausbildung empfing er bei Wilem Kurz in Lemberg. Als er ein paar Jahre vor dem ersten Weltkrieg nach Berlin kam, muß er pianistisch wie kompositorisch schon weit fortgeschritten gewesen sein. Klavier studierte er bei Busoni. Noch in den letzten Jahren hat er, mit einer Treue, die für ihn exemplarisch war, auf einer Schallplatte (Contemporary, M 6501) eine emphatische Interpretation der sechs Elegien, der Toccata und zweier Sonatinen Busonis fixiert. Sein Kompositionslehrer sollte Humperdinck werden. Dieser fragte ihn in der ersten Stunde, ob er lernen wollte, auf die Wagnersche oder auf die Brahmsische Weise zu schreiben; Steuermann war von der künstlerischen Moral, die aus der Frage sprach, so schockiert, daß er nie wiederkam. Busoni machte ihn mit Schönberg bekannt. Er wurde nicht nur dessen Schüler, sondern sein geistig-musikalisches Dasein entschied sich durch die Beziehung.
Seine exzeptionelle pianistische Qualität prädestinierte ihn zum maßgebenden Interpreten des Schönbergkreises; nach dem ersten Weltkrieg trat der Geiger Rudolf Kolisch hinzu. Steuermann wurde, bei größter Selbständigkeit des Naturells, imprägniert mit der Konzeption der neuen Musik aus der zweiten Wiener Schule. Die betraf von Anbeginn auch das Verhältnis zur älteren, und wälzte die musikalische Interpretation überhaupt um. Kein Pianist der Epoche, Schnabel und Erdmann nicht ausgenommen, war näher an deren großer Produktion. Er hatte kein aufgeschlossen-rezeptives Verhältnis zur radikalen Moderne, sondern war Fleisch von ihrem Fleisch, leibhaftige Widerlegung jener Trennung aktuellen Komponierens und traditionalistischen Musizierens, die so verhängnisvoll ist wie eingeschliffen; es richtet Interpreten, wenn sie einer ihren eigenen Voraussetzungen ferner gerückten Musik sich näher fühlen als der, mit welcher sie die Voraussetzungen der geschichtlichen Stunde teilen.
Unter der Direktion Schönbergs und Scherchens hat Steuermann als erster den Klavierpart des Pierrot lunaire gespielt, und seitdem alles Wichtige, was Schönberg für Klavier oder mit Klavier schrieb; noch das Konzert hat er, mit Stokowski als Dirigenten, uraufgeführt. Nahe liegt, mit Hinblick auf seine Stellung in der musikalischen Bewegung der zweiten Wiener Schule, der Gedanke an Hans von Bülows Bedeutung für Wagner. Doch muß er diesen übertroffen haben durch produktive Kraft und humane Weite; auch durch tiefere Einsicht in große traditionelle Musik. Ihr Dokument ist seine um 1930 in der Universal Edition erschienene Brahmsausgabe. Ihre ungemein knappen Erläuterungen verbinden bescheidenste Loyalität den Texten gegenüber mit unerschöpflicher künstlerischer Phantasie. Sein konstruktiver Tiefblick hatte an der Schönbergschen kompositorischen Praxis sich gebildet. Die kompromißlose Strenge in der Darstellung musikalischer Texte war bei ihm eins mit der einer künstlerischen Gesinnung, welche jedes Einverständnis mit dem herrschenden hedonistischen Musikbetrieb ausschloß. Ich erinnere mich, wie er nach einem Konzert der Berliner Ortsgruppe der Internationalen Gesellschaft für neue Musik, in dem es 1929 Arbeiten von ihm und von mir zu hören gab, befriedigt konstatierte, in dem ganzen Programm sei kein Dreiklang vorgekommen; die paar versprengten aus Schönbergs Georgeliedern, die mit Steuermann als Begleiter Margot Hinnenberg sang, hat er dabei großmütig überhört. Gegen die Kompromißströmungen, welche in einem Umfang, den sich die junge Musikergeneration kaum mehr vorstellen kann, zwischen den beiden Kriegen den Platz der Moderne usurpierten, war er unnachgiebig. Mit Grund hat Webern eines seiner asketischsten Werke, und das einzige für Klavier allein, die Variationen op. 27, ihm gewidmet. Unbeirrbare Kraft und bis zur Selbstentäußerung zarte Sensibilität fanden in Steuermann zur paradoxen, doch bruchlosen Einheit.
Durch Berg bin ich 1925 mit Steuermann bekanntgeworden und nahm bei ihm Unterricht im Klavierspiel; die Freundschaft dauerte mit großer Kontinuität bis zu diesem Tag. Worte reichen nicht heran an das, was ich ihm verdanke. Als er mich auf einen Motivzusammenhang im h-moll-Capriccio von Brahms aufmerksam machte, den ich übersehen und darum beim Spielen vernachlässigt hatte, wurde mir ganz bewußt, wie sehr die bis zur Analyse artikulierte Erkenntnis darzustellender Musik die Voraussetzung ist für richtige Wiedergabe. Das spezifische Moment dieser mittlerweile durchgedrungenen Einsicht bei Steuermann, wie in der Schönbergschule insgesamt, wird man am besten in der Abgrenzung von Heinrich Schenker aufsuchen. Sie besagt, daß von der tragenden Analyse nicht Reduktion auf ein mehr oder minder Allgemeines, aus den Kategorien der Tonalität Abzuleitendes, keine Orientierung an der »Urlinie« als Skelett zu fordern sei, sondern die Durchleuchtung der besonderen Struktur des konkreten Stücks. Was für die Schenkersche Analyse sekundäre Ausfüllung eines schließlich doch abstrakten Rahmens bleibt, ein Akzidens, wird zum Wesentlichen, wie wenig auch die Konkretion von dem umfassenderen musikalischen Idiom äußerlich abgetrennt werden kann. Damit verknüpft sich das Steuermannsche analytische und interpretative Verfahren der kompositorischen Moderne, in der die strukturelle Stimmigkeit des Gebildes sich gegen die nachgerade überalterte Allgemeinheit der Tonalität durchsetzte. Solche Erfahrung der Moderne reißt die traditionelle Musik in sich hinein, die längst ein Kraftfeld war zwischen dem kompositorischen Jetzt und Hier und jener Allgemeinheit. Die grundsätzlich neue analytische Blickrichtung hat unabsehbare Konsequenzen fürs Interpretieren. Genannt sei nur, zur simpelsten Illustration, die Tendenz, Auftakte, sogenannte Nebennoten oder »harmoniefremde« Bestandteile, vor allem aber Dissonanzen nicht fallenzulassen, sondern hervorzuheben, in schroffem Gegensatz zu Schenkers Rat. Das impliziert weithin den Vorrang der melodischen Linie über die Generalbaßfunktionen, übereinstimmend mit der polyphonischen Tendenz der neuen Musik. Die Legitimität solcher interpretativen Absicht jedoch erweist sich daran, daß sie mit eben den Impulsen spontaner Musikalität konvergiert, die vom schulgerechten Analysieren abgewürgt werden. Was freilich dabei vom Spielenden an Selbstkontrolle und Selbstkritik erheischt wird, geht nicht nur übers Gewohnte hinaus, sondern beinahe übers Erträgliche. Steuermann hat jene Fähigkeit gesteigert bis zu einem großartigen, wahrhaft Kafkaschen Defaitismus; wenn er im Grunde bei jedem seiner Schüler daran verzweifelte, ob er je richtig Klavier spielen lernen werde, so beseelte ihn dabei die oft geäußerte und sehr ernst gemeinte Frage, ob er selber es denn vermöchte. Sein Interpretationsideal hatte den Horizont der heraufdämmernden Uninterpretierbarkeit der Werke, so wie die Kafkaschen Parabeln inspiriert sind von der Verdunkelung der heiligen Texte. Bei Steuermann wurde daraus erhebliche Gehemmtheit; nur mit äußerster Energie, und einzig der Sache zuliebe, hat er ihr sein öffentliches Auftreten abgetrotzt. Am schönsten, freiesten musizierte er im kleinen Kreis, womöglich nachts, in Situationen, in denen sein Widerwille gegen Musikleben und offizielle Musikkultur keine Stütze fand. Auch dann war es nicht leicht, ihn zum Spielen zu bringen. Es empfahl sich, ein paar Takte eines schwierigen Stücks – den Anfang der Kreisleriana etwa – unverbindlich anzuschlagen. Dann ergriff ihn der produktive Widerspruchsgeist: zeigen, wie es richtig sei. Saß er einmal am Klavier, so vergaß er alles andere und hörte nicht mehr auf.
An ihn wie an keinen anderen Musiker läßt eine Definition der Dialektik denken, die Hegel Goethe gegenüber äußerte: sie sei organisierter Widerspruchsgeist. Allgegenwärtig war in Steuermann der Drang, die Verschalungen des konventionellen Bewußtseins zu durchbrechen, dem Verdeckten ans Licht zu helfen. Mit talmudischer Kraft verhielt er die Zeichen des Notentextes, wie durch Interlinearversion, zum Sprechen. Nicht geringer aber war sein expressionistischer Impetus. In wilder Eruption setzte der Pianist Steuermann den von den Tabus gefesselten Ausdruck frei. Ihr Gemeinsames aber hatten jene beiden Momente in seiner unerschöpflich sich aus sich selbst regenerierenden Phantasie. Sie war ebenso dem musikalischen Sinn als Ausdruck verschworen, wie sie noch im geronnenen Zeichen die Spur jenes Sinnes, die Beziehung der Momente auf den Zusammenhang, gewahrte. Daher hatte sein Spiel, bei größter Selbstvergessenheit, vollkommener Freiheit zum Objekt, sein Unverwechselbares. So wenig er je spielend sich zur Schau stellen wollte, so drastisch war er an jedem Takt: an jedem Einsatz, jeder Attacke, jedem Akzent zu erkennen. Der Spielmechanismus war kraftvoll und höchst virtuos; er hat indessen nie die Virtuosität ausgekostet. Dem Ausdruck und der Struktur zuliebe verzichtete er auf die Glätte, die ihn keine Anstrengung gekostet hätte; verschmähte jede Rücksicht auf mögliche Wirkung. Die musikalischen Oberflächenzusammenhänge polarisierten sich ihm nach zartester Differenziertheit und sprengender Energie. Die Gewalt der Kontraste verfremdete zumal die Romantik zur Moderne. Dem mit Chopin Aufgewachsenen mochte am tiefsten der frühe Schumann verwandt sein. Nicht zu schildern, wie unter seiner Hand in dieser Musik die Abgründe klafften, wie tröstlich das Licht des Eingedenkens in sie einströmte. Seine Imagination schoß in der Moderne zuweilen genialisch über das Komponierte hinaus; Schönberg bemängelte einmal, daß er den Walzer aus op. 23 nicht so spiele, daß der Himmel voller Geigen hängt, aber Steuermann hatte recht, als er jenen Geigen nicht vertraute, sondern dem Dunklen sich überließ, das in jenen Klängen überdauert, auch wo die Zwölftontechnik sie zu Materialien bändigt. Unmittelbar zeugt vom Pianisten die Platte (Columbia ML 5216), welche das gesamte Soloklavierwerk Schönbergs authentisch kodifiziert.
Steuermann als Lehrer übte weitverzweigte und stets intensivere Wirkung erst in Wien, dann an der Juillard School in New York, schließlich auch wieder in Europa, in Salzburg und Kranichstein, obwohl er, dem die Forderung musikalischen Sinns unabdingbar blieb, gegen viele Tendenzen nach 1945 seine Reservate hatte und gelegentlich sich hintersinnig einen Konservativen nannte. Seine unmerklich, aber unwiderstehlich wachsende Autorität mochte nicht zuletzt daher rühren, daß seine Schüler nie darauf verfallen konnten, er strebe, sie zu beherrschen oder ihnen etwas aufzureden: Autorität durchs Gegenteil von autoritärer Gesinnung. Der Intransigente kokettierte mit seiner diplomatischen Finesse.
Die Kraftquelle, aus der er schöpfte, war fraglos das kompositorische Vermögen. Der Stand seines Bewußtseins hat seine Produktivität gesteigert, wie denn meist Künstler nur dann schlecht intellektuell sind, wenn ihre Intellektualität nicht weit genug reicht und mit rationalistischen Hilfskonstruktionen sich zufrieden gibt. Durch nichts ließ er vom Komponieren sich abbringen; in den letzten Jahren seines Lebens dominierte es. Obwohl viel von ihm aufgeführt wurde, dürfte kaum eine Note gedruckt vorliegen. Kritik, ungewohnten kompositorischen Phänomenen gegenüber tief unsicher, fertigt gern, was sie nicht zu erfahren vermag, mit usurpierter Überlegenheit ab. Wer so gut Klavier spielt, so operiert die Rancune-Logik, könne unmöglich ein rechter Komponist sein. Sobald endlich Steuermanns oeuvre im Druck allgemein zugänglich wird, dürfte ohne alle Propaganda solcher Unsinn sich zerstreuen; die Sache fordert für ihn, dessen Noblesse nie etwas für sich forderte. Natürlich schrieb er viel für Klavier, eine Sonate, Zyklen von Stücken, auch Lieder nach Gedichten von Hofmannsthal, von Brecht, von seinem Schwager Berthold Viertel; Chöre; Kammermusik: Quartette, darunter eine Folge, die er Walzer nannte, ein sehr bedeutendes Klaviertrio, ein Duo für Violine und Klavier. Am Ende wandte sein Interesse dem Orchester sich zu; es ist zu hoffen, daß er das weit Geförderte unter Dach und Fach brachte. All seine Arbeiten, teils frei atonal, teils zwölftönig, sind von außerordentlicher, jeder bequemen Subsumtion sich entziehender Originalität. Vieles vor Dezennien Komponierte schaut weit voraus: in der unbedingten Vorherrschaft der höchst ziselierten Struktur über den sogenannten Einfall, kraus wie in sich verschlingenden Schriftzügen; auch im nächtlich verfinsterten Ton, in gleichsam graphischer Schwärze. Objektiviert werden Steuermanns Werke nicht durch irgendwelche Anleihen bei von außen gesetzten Formen und Normen, sondern durch die Subjektivität hindurch, ihre unablässig produktive Kritik in der Sache selbst. Ihm eignete die Passivität der Stärke, die Fähigkeit zum Aushören, zum Verschwinden in der Folgerichtigkeit des einmal Konzipierten. Seine Musik war säkularisierte und damit verdüsterte Theologie. Der unerbittlich zarte Ironiker verkörperte das Gute, das in seiner Positivität versperrt ist. Er vollbrachte im falschen Leben ein richtiges, hauchte der aller Praxis fernsten Kunst seine lebendige moralische Kraft ein. Er war ein heimlich Gerechter der Musik.