Vorworte, Vorreden und Vorbemerkungen zu den »Frankfurter Beiträgen zur Soziologie«
Von den 21 zu Lebzeiten Adornos erschienenen Bänden der »Frankfurter Beiträge zur Soziologie«, der von ihm und Walter Dirks, ab Band 19 von ihm und Ludwig von Friedeburg herausgegebenen Schriftenreihe des Instituts für Sozialforschung, enthalten 17 Bände Vorworte, die von Adorno unterzeichnet oder mitunterzeichnet sind. Während die Vorworte zu den Bänden 2, 9, 10 und 16 an anderen Stellen der »Gesammelten Schriften« abgedruckt werden (s. Bd. 9. 2, S. 127ff., ibd., S. 395ff., ibd., S. 404 sowie den vorliegenden Bd. 20, S. 178ff.), folgen hier die übrigen.
Sociologica. Aufsätze, Max Horkheimer zum sechzigsten Geburtstag gewidmet. Frankfurt a.M. 1955. (Frankfurter Beiträge zur Soziologie. 1.)*
Der Plan, eine größere Anzahl von Aufsätzen zu einer Festschrift »Sociologica« zu vereinen, ist erst sehr spät gefaßt worden. Viel zu kurz war die Zeit, um all denen, die Horkheimer sich geistig verbunden wissen, es möglich zu machen, rechtzeitig einen Beitrag uns zukommen zu lassen. Nur eine kleine Zahl der in- und ausländischen Gelehrten aus einem wissenschaftlichen Freundeskreis konnte etwas beisteuern. Wir sind ihnen ganz besonders dankbar, nicht bloß für die Aufsätze selbst, sondern auch für die Raschheit ihrer Reaktion: bis dat qui cito dat. Zahlreiche Manuskripte, unter ihnen solche von Hans Gerth, Adolf Löwe, Joseph Maier, C. Wright Mills, Felix J. Weil und anderen, konnten leider nicht mehr aufgenommen werden, wenn der Termin des Erscheinens sich nicht ungebührlich über den Festtag hinaus hätte verzögern sollen. Diese Beiträge werden bei nächster sich bietender Gelegenheit veröffentlicht werden.
Den improvisatorischen Charakter der Sammlung möchten wir nicht verleugnen: bezeugt er doch auch einiges von der Spontaneität, mit der das Ganze zustande kam. Ein gewisser Mangel an thematischer und theoretischer Einheitlichkeit ist offenbar. Doch glauben wir, daß gerade die Vielfalt der Interessen, die in den Beiträgen sich offenbart, etwas von der überlegenen und intensiven Breite des Geistes widerspiegelt, dem die Beiträge gewidmet sind, und dem es stets, noch in der detailliertesten Kleinarbeit, ums Ganze geht.
Wir hatten zunächst die Absicht, die Form strikt periodischer Veröffentlichungen wieder aufzunehmen, und die »Sociologica« entsprechen in vieler Hinsicht etwa einem Zeitschriftenjahrgang. Aus mancherlei Gründen jedoch haben wir uns dazu entschlossen, fürs erste auf ein termingebundenes Verfahren zu verzichten. Der Druck, zu bestimmten Zeitpunkten publizieren zu müssen, ist der Entfaltung wissenschaftlicher Arbeit in einem noch im Aufbau befindlichen Institut nicht durchaus günstig; vor allem aber ist das Forschungsmaterial, das im Institut seit seiner Wiedererrichtung anfiel, von solcher Art, daß keineswegs alles in kurzen Zeitschriftenaufsätzen sich würde bewältigen lassen; vieles verlangt mehr Raum.
Hierher gehört insbesondere der zweite Band der »Frankfurter Beiträge zur Soziologie«, der gleichzeitig mit den »Sociologica« herauskommt. Er ist ein Studienbericht über das Gruppenexperiment, das vom Institut vor einigen Jahren durchgeführt und dann unter den verschiedensten Gesichtspunkten qualitativ und quantitativ ausgewertet wurde. Der dritte Band wird den gedrängten Bericht über eine weitschichtige Industrie-Untersuchung des Instituts enthalten.
Die Schriftenreihe soll weiterhin ebenso empirische wie theoretische wie auch didaktische Publikationen aus dem Arbeitskreis des Instituts bringen, in dem ja Aufgaben der Lehre und der praktischen sozialwissenschaftlichen Ausbildung keine geringere Rolle spielen als solche der Forschung. Daran aber zu arbeiten, daß die Konzeption einer Theorie der Gesellschaft und die empirischen Ergebnisse gegenseitig sich durchdringen, rechnen wir zu den vordringlichsten Aufgaben, die der Sozialwissenschaft heute gestellt sind. Noch klaffen beide Bereiche vielfach auseinander, und keineswegs aus bloß äußerlichen Gründen der wissenschaftlichen Organisation, sondern vermöge tief reichender sachlicher Spannungen. Es gilt, weder diese Spannungen zu verleugnen noch bei ihnen im Sinne bloßer Arbeitsteilung sich zu bescheiden, sondern sie auszutragen. Die Einheit des Mannigfaltigen, aus dem die »Sociologica« gebildet werden, ist eben der Versuch, zu jener Aufgabe etwas beizutragen.
Fußnoten
* Von Adorno und Walter Dirks unterzeichnet.
Betriebsklima. Eine industriesoziologische Untersuchung aus dem Ruhrgebiet. Frankfurt a.M. 1955. (Frankfurter Beiträge zur Soziologie. 3.)
In gedrängtester Form werden hier die Ergebnisse einer Untersuchung des Instituts für Sozialforschung vorgelegt, die sich mit dem ›Betriebsklima‹ in Werken der Montan-Industrie befaßte. Was mit jenem Begriff gemeint ist, wird im Text klargestellt. Hier sollen nur einige Grunddaten über das Forschungsprojekt angeführt werden.
Der Bereich der Studie war die Mannesmann-AG. Die Forschungsinstrumente, die das Institut entworfen hatte, wurden zur Erprobung einem Vorversuch unterzogen. Er setzte sich aus Interviews und Diskussionen in zwei Werken – Remscheid und Consolidation 1/6 – zusammen und fand in der Woche vom 6. bis 13. Juli 1954 statt. Die Hauptuntersuchung selbst währte vom 27. Juli bis 13. August 1954. Durchgeführt wurden 1176 Einzelinterviews, sowie 55 Gruppendiskussionen mit insgesamt 539 Teilnehmern. Die Hauptuntersuchung erstreckte sich auf fünf Werke:
die Zechen Consolidation 3/4/9 und Unser Fritz in Gelsenkirchen und Wanne-Eickel; beschäftigt sind fast 6000 Arbeiter und Angestellte;
Huckingen, ein ›gemischtes‹ Hüttenwerk an der Peripherie von Duisburg; mit einer Belegschaft von fast 8000 Personen;
Grillo-Funke, ein kleines Hüttenwerk in Gelsenkirchen;
beschäftigt sind rund 1900 Arbeiter und Angestellte;
Rath, ein Röhrenwerk am Rande von Düsseldorf; mit rund 5000 Arbeitern und Angestellten;
Kronprinz-Ohligs, ein weiterverarbeitendes Werk für Lastwagen- und Personenwagenräder und Rohre, gelegen in Solingen-Ohligs; rund 1700 Personen Belegschaft.
Einen ersten Überblick über die Ergebnisse der Untersuchung vermittelte ein Rohbericht, der im Januar 1955 vorlag. Der endgültige Bericht wurde im Juni 1955 abgeschlossen und dem Vorstand der Mannesmann-Obergesellschaft übergeben. Die vorliegende Publikation basiert auf diesem Bericht; das Zustandekommen der Einzelergebnisse ist an Hand der darin enthaltenen detaillierten Angaben zu überprüfen.
Die Leitung der Studie lag in den Händen von Ludwig von Friedeburg. Mitarbeiter der Studie in all ihren Sektoren bis zur abschließenden Redaktion waren: Egon Becker, Walter Dirks, Volker von Hagen, Lothar Herberger, Armin Höger, Christian Kaiser, Margarete Karplus, Werner Mangold, Christoph Oehler, Diedrich Osmer, Ingeborg Ptasnik, Manfred Teschner, Erhard Wagner, Friedrich Weltz.
Die technische Durchführung der Umfrage, des Codens der Interviews und der Grundauszählung war dem Deutschen Institut für Volksumfragen in Frankfurt am Main (DIVO) übertragen.
Unser Dank gebührt zunächst dem Vorstand der Mannesmann-AG, der uns die Möglichkeit zu dieser Untersuchung gab, und den Werks- und Betriebsleitungen und Arbeitervertretungen, die uns bei Organisation und Durchführung der Umfrage und der Diskussionen aufs nachhaltigste unterstützt haben. Wer die technischen, vor allem aber auch die psychologischen Schwierigkeiten kennt, denen Untersuchungen dieses Typus ausgesetzt sind, weiß, daß ohne ihre vom Vertrauen in wissenschaftliche Objektivität getragene Hilfe das Ganze sich nie realisiert hätte.
Nicht geringer aber ist unsere Dankbarkeit denen gegenüber, die sich interviewen ließen und an den Gruppendiskussionen teilnahmen. Die Ergebnisse der Untersuchung sind nichts anderes als die begriffliche Verarbeitung dessen, was sie uns gaben.
1. August 1955
Soziologische Exkurse. Nach Vorträgen und Diskussionen. Frankfurt a.M. 1956. (Frankfurter Beiträge zur Soziologie. 4. )*
Der vierte Band der »Frankfurter Beiträge zur Soziologie« geht letztlich auf Manuskripte zu kurzen Vorträgen zurück, die in den Jahren 1953 bis 1954 vom Hessischen Rundfunk aufgenommen und in französischer Sprache im Rahmen der Université Radiophonique Internationale, Radiodiffusion Française, übertragen wurden. Sie sind vielfach ergänzt und durch eine Reihe anderer erweitert worden. Der lose, improvisatorische Charakter der Gelegenheitsarbeit blieb jedoch gewahrt.
Der Band ist didaktisch, nicht im Sinne des bündig vorgetragenen Lehrstücks, sondern dem einer imaginären Diskussion, wie sie etwa an Referate über ausgewählte soziologische Stichworte sich anschließen mag. Man darf beim Ganzen vielleicht an ein Proseminar über soziologische Begriffe erinnern, wie es seit Jahren im Institut für Sozialforschung regelmäßig stattfindet. Auch dort wird der Schein systematischer Geschlossenheit und Vollständigkeit mit Bedacht vermieden. Es werden Einzelbegriffe ebenso wie Einzelgebiete herausgegriffen, um an ihnen eine erste Vorstellung von der Soziologie zu entwickeln. Darstellung, Referat, geistige Reflexion durchdringen sich dabei. Das bedarf kaum der Rechtfertigung in einem Bereich, der schon nach Max Webers Einsicht droht, auseinanderzufallen in bloß formale Begriffsbildung auf der einen Seite und begriffslose Anhäufung von Stoff auf der anderen. Durchweg wird versucht, das informatorische Element und das der kritischen Selbstbesinnung in jene Beziehung zu setzen, nach der die soziologische Wissenschaft als solche ebenso verlangt wie das Bewußtsein derer, die mit ihr befaßt sind.
Das Buch ist so disponiert, daß zunächst einige soziologische Begriffe – kaum die wichtigsten, aber solche, an denen der Unterrichtete etwas von der Problematik des Gesamtbereichs wahrnehmen kann – ausgewählt und diskutiert werden, und dann einige Materialbereiche und inhaltliche Komplexe besprochen. Die Zweiteilung des Aufbaus entspricht dem Bruch in der gegenwärtigen Gestalt der Soziologie selber, in der theoretische Überlegung und empirische Einlösung vielfach auseinanderweisen und keineswegs durch Maßnahmen wie die sogenannte ›Integration‹ zusammenzubringen sind. Weder ist dieser Bruch zu verbergen, noch zu verabsolutieren. Ihm ist Rechnung zu tragen, indem kein Kontinuum vorgetäuscht wird, das da vom Einzelbefund bis zu den obersten Aussagen über das System der Gesellschaft sich erstreckte, während doch, soweit es nur möglich ist, die Behandlung der Einzelphänomene vom Gedanken an ihren Zusammenhang zehren soll.
Kein deutsches ›textbook‹ der Soziologie also ist zu erwarten, kein Leitfaden, nicht einmal eine Einführung, und es ist auf keinen Wettstreit mit den Büchern solcher Intention abgesehen, die während der letzten Jahre herauskamen. Weder wird etwas wie eine wie immer auch rudimentäre Theorie der modernen Gesellschaft vorgebracht, noch eine zuverlässige Übersicht über die wichtigsten Teilgebiete der gegenwärtigen soziologischen Forschung; nach Systematik ist so wenig zu suchen wie nach Vollständigkeit des Materials, und was an Stoff hineingezogen ward, bleibt den Zufälligkeiten unterworfen, welche sie Entstehung der Vorträge mit sich brachte. Was geboten wird, sind Materialien und Betrachtungen, die sich auf einzelne Begriffe und Sachgebiete beziehen und in ihrer Konstellation doch eine gewisse Vorstellung vom Ganzen vermitteln mögen.
Die Autorschaft des Buches gebührt dem Institut für Sozialforschung als Ganzem. Bei der Ausarbeitung der Vorträge haben seine Mitglieder allesamt geholfen. – Der Aufsatz über Soziologie und empirische Sozialforschung übernimmt zahlreiche Formulierungen aus dem vom Institut bearbeiteten Artikel »Empirische Sozialforschung«** im »Handwörterbuch der Sozialwissenschaften«; dem Verlag ist für die Erlaubnis dazu besonders zu danken. Teile des Vortrags über das Problem des Vorurteils*** wurden gedruckt in den »Frankfurter Heften«, siebenter Jahrgang (1952), Heft 4. Der Ideologieaufsatz**** ist die erweiterte und vielfach modifizierte Fassung eines Referats auf dem Deutschen Soziologentag in Heidelberg 1954, das im Heft 3/4 des sechsten Jahrgangs (1953/54) der »Kölner Zeitschrift für Soziologie« erschien. Vieles an Materialien haben Heinz Maus und Hermann Schweppenhäuser beigetragen. Vor allem aber stellte Ernst Kux eine reiche und systematische Sammlung von Belegen in Monaten intensiver Arbeit zusammen. Die abschließende Redaktion und Druckeinrichtung besorgte Johannes Hirzel.
Fußnoten
* Von Max Horkheimer und Adorno unterzeichnet.
** Vgl. jetzt GS 9.2, s. S. 327ff.
*** Vgl. jetzt GS 9.2, s. S. 360ff.
**** Vgl. jetzt GS 8, s. S. 457ff.
Freud in der Gegenwart. Ein Vortragszyklus der Universitäten Frankfurt und Heidelberg zum hundertsten Geburtstag. Mit Beiträgen von Franz Alexander u.a. Frankfurt a.M. 1957. (Frankfurter Beiträge zur Soziologie. 6.)*
An dem Zustandekommen der Freud-Vorlesungen an der Frankfurter und Heidelberger Universität im Sommersemester 1956 war das Institut für Sozialforschung in Frankfurt, neben Alexander Mitscherlich in Heidelberg, wesentlich beteiligt. Die Organisation der Vorträge wurde in Gemeinschaft mit dem Dekan der Philosophischen Fakultät, Gottfried Weber, vom Institut durchgeführt. In Heidelberg lud die Medizinische Fakultät ein.
Seit seiner Gründung in der Zeit vor 1933 hat das Institut die Psychoanalyse in seine Arbeit einbezogen, und zwar in ihrer strengen Freudischen Gestalt. Von Anbeginn war dem Institut eine psycho-analytische Abteilung angegliedert, die von Karl Landauer, dem in Bergen-Belsen umgekommenen Schüler Freuds, geleitet wurde. Die »Zeitschrift für Sozialforschung« enthielt in ihrer ersten Nummer einen programmatischen Aufsatz über die Aufgaben einer analytischen Sozialpsychologie. Damals, im Schatten der unmittelbar drohenden Hitlerdiktatur, stand uns der Widerspruch zwischen den handgreiflichen Interessen der Massen und der faschistischen Politik vor Augen, für die sie sich enthusiastisch einspannen ließen. Wir sahen, daß der ökonomische Druck sich in sozialpsychologischen unbewußten Prozessen fortsetzte, welche die Menschen dazu bringen, eben diesen Druck, unter dem sie stehen, auch noch zur eigenen Sache zu machen und den Verlust der Freiheit in Kauf zu nehmen. In zahlreichen theoretischen Arbeiten des Instituts wurde versucht, die Wechselwirkung von Gesellschaft und Psychologie weiter zu verfolgen. Stets freilich haben wir den gesellschaftlichen Druck – das, was Freud selbst »Lebensnot« nannte – als das Primäre betrachtet.
Das Thema des Ineinanderspielens gesellschaftlicher Autorität und psychischer Verdrängung hat dann über Jahre hinaus auch in den empirischen Untersuchungen des Instituts eine wesentliche Rolle gespielt. Der 1935 in Paris erschienene Band »Autorität und Familie« nahm in theoretischen Entwürfen, in Erhebungen und in monographischen Einzeldarstellungen sowohl die analytische Beschreibung und Erklärung des autoritätsgebundenen Charakters wie die Erkenntnis gesellschaftlich entscheidender sozialpsychologischer Kategorien, etwa der der Verinnerlichung der Autorität zur Arbeitsmoral im bürgerlichen Zeitalter, in Angriff. In den später, während der Emigration, gemeinsam mit der Berkeley Public Opinion Study Group durchgeführten Forschungen, die in dem Band »The Authoritarian Personality« 1950 in New York veröffentlicht wurden, sind Gesichtspunkte und Kategorien des älteren Werkes auf ein breites empirisches Material bezogen und vor allem an die Erhellung eines der dunkelsten Massenphänomene der Gegenwart, der auf Minoritäten gelenkten Verfolgungssucht gewandt worden. Diese Studien sind ohne den Impuls der Freudischen Psychologie nicht zu denken und machen vielfältig von Freudischen Begriffen Gebrauch.
Wenn freilich Freud den Anspruch erhob, Soziologie sei insgesamt nichts anderes als angewandte Psychologie, so scheint uns das daran vorbeizusehen, daß die Gesetze der Gesellschaft nicht solche der puren Inwendigkeit der Menschen sind. Diese Gesetze haben sich vergegenständlicht. Sie treten den Menschen und der Einzelpsyche selbständig gegenüber und widersprechen ihnen in Entscheidendem. Je mehr sich das erweist, desto mehr ändert sich die Funktion dessen, was der Ausdruck »Sozialpsychologie« deckt. Wollte diese vor fünfundzwanzig Jahren verfolgen, wie der gesellschaftliche Zwang bis in die feinsten seelischen Verästelungen des Individuums hineinreicht, das da wähnt, für sich selber zu sein und sich selbst zu gehören, so wird heute die Reflexion auf sozialpsychologische Mechanismen vielfach gerade dazu benutzt, von jener Gewalt der Gesellschaft abzulenken. Schwierigkeiten und Konflikte des gegenwärtigen Zustandes werden verharmlost, sobald man sie unvermittelt auf den Menschen, auf bloß inwendige Vorgänge reduziert.
Darum scheint uns weniger eine Synthese aus Soziologie und Psychologie an der Zeit, als die insistente aber getrennte Arbeit in beiden Bereichen. Davon bleiben auch gewisse Lehren Freuds nicht unberührt. Er neigte in seiner Spätzeit dazu, das seelische Wesen des Menschen gegenüber den Bedingungen seiner Existenz zu verabsolutieren. Das von ihm positiv vertretene »Realitätsprinzip« kann dazu verleiten, die Anpassung an den blinden gesellschaftlichen Druck entsagend zu sanktionieren und schließlich den Fortbestand des Druckes zu rechtfertigen. Freilich macht diese Intention nur eine Seite der Freudischen Gedanken aus. Sie ist nicht zu trennen von der anderen, seiner todernsten Erfahrung der Last, unter der die Menschheit sich dahinschleppt – jener Erfahrung, die der Freudischen Lehre ihre unversöhnliche Tiefe und Substantialität verleiht.
In einigen Beiträgen des ersten Bandes unserer Schriftenreihe, den »Sociologica«, sind Erwägungen solcher Art ausgeführt. So sehr diese aber auch einer Psychologisierung der Theorie der Gesellschaft widerstreiten, so wenig ist mit ihnen andererseits eine Soziologisierung der Psychologie gemeint. Der psychoanalytische Revisionismus der verschiedensten Schulen, der den angeblichen Freudischen Übertreibungen gegenüber stärkere Berücksichtigung sogenannter gesellschaftlicher Faktoren advoziert, hat nicht bloß die großartigsten Entdeckungen Freuds, die Rolle der frühen Kindheit, der Verdrängung, ja den zentralen Begriff des Unbewußten, aufgeweicht, sondern er hat sich darüber hinaus mit dem trivialen Menschenverstand, dem gesellschaftlichen Konformismus verbündet und die kritische Schärfe eingebüßt. Die Rückbildung der Freudischen Theorie in eine Allerweltspsychologie wird auch noch als Fortschritt ausgegeben. Nachdem die alten Widerstände gegen die Psychoanalyse scheinbar überwunden sind, wird Freud durch Herrichtung zum zweiten Mal verdrängt, wobei der mythologisierende Obskurantismus und der mit Oberflächenphänomenen der Ich-Psychologie zufriedene Positivismus mühelos sich verständigen.
Demgegenüber schien der Versuch geboten, das lebendige Bewußtsein von Freud in Deutschland wieder herzustellen; zu zeigen, wie wenig überholt seine Theorien, wie aktuell sie gerade angesichts dessen sind, was man aus ihnen gemacht hat. Dazu war Einblick in Aspekte der Arbeit bedeutender moderner Psychologen zu eröffnen, die spezifisch mit Freud zusammenhängen. Nicht sollte die Freudische Theorie als solche bloß rekapituliert, wohl aber ihre Kraft an Einzelfragen, die meist mit gesellschaftlichen zusammenhängen, wie in Brennpunkten dargetan werden. Diese Kraft beschränkt sich keineswegs bloß auf die Beiträge dezidierter Anhänger seiner Schule, sondern kommt auch in anderen, in gewisser Hinsicht von ihm abweichenden, zutage.
Das etwa gehört zum Verständnis der Publikation der Freud-Vorträge. Allen Autoren ist herzlich dafür zu danken, daß sie ihre Texte freigaben. Selbstverständlich finden sich Motive dieser Texte jeweils auch in anderen Arbeiten der betreffenden Autoren. Nirgends wurde durch gewaltsame Redaktion ein einheitlicher, konsistenter Zusammenhang dort hergestellt, wo es sich um eine Vielheit von Lehrmeinungen über oftmals kontroverse Gegenstände handelt. Auch Überschneidungen konnten nicht durchweg getilgt werden.
Dank gebührt weiter dem Klostermann-Verlag, der die Texte des ›Festaktes‹ zum Abdruck freigegeben hat. Welche Verdienste sich die Länder Württemberg-Baden und Hessen, die Stadt Frankfurt und die Ford-Foundation um den Freud-Zyklus erwarben, hat Helmut Coing in seiner Ansprache hervorgehoben; es darf an dieser Stelle wiederholt werden.
Die Redaktion der Vorlesungen und Vorträge, durchweg auf Bandaufnahmen basierend, lag in den Händen einer Gruppe von Mitarbeitern, die auch an der Organisation der Veranstaltungen selbst hervorragend mitgewirkt haben: Otti Bode, Norbert Altwicker, Hermann Schweppenhäuser.
Fußnoten
* Von Max Horkheimer und Adorno unterzeichnet.
Paul W. Massing, Vorgeschichte des politischen Antisemitismus. Frankfurt a.M. 1959. (Frankfurter Beiträge zur Soziologie. 8.)*
Mit dem Werk von Paul Massing über den politischen Antisemitismus im Kaiserreich bringen die »Frankfurter Beiträge zur Soziologie« erstmals eine Studie, die während der Emigrationsjahre im Institut für Sozialforschung an der Columbia-Universität zu New York entstand. Das Original erschien unter dem Titel »Rehearsal for Destruction« im Rahmen der »Studies in Prejudice«, die Max Horkheimer und Samuel Flowerman herausgaben. Dem American Jewish Committee, dessen Forschungsabteilung damals mit dem Institut aufs engste zusammenarbeitete, ist für die Bewilligung des Drucks der deutschen Fassung zu danken. Ergänzt wird das Buch durch die hier entstandene soziologische Dissertation von Eleonore Sterling, welche die Vorgeschichte des deutschen politischen Antisemitismus noch weiter zurückverfolgt, bis zum Beginn des neunzehnten Jahrhunderts. Sie wurde im Verlag Chr. Kaiser, München 1956, unter dem Titel »Er ist wie du« veröffentlicht.
Zur Publikation des Massingschen Werkes bewog uns indessen nicht nur der Wunsch, die Kontinuität zwischen der amerikanischen Produktion des Instituts und seinen Forschungen in Deutschland seit 1950 hervorzuheben. Es dünkte uns an der Zeit, daß Untersuchungen, die sich auf spezifisch deutsches Material bezogen und die einem so zentralen Komplex wie der Vorgeschichte des Antisemitismus gelten, auch in Deutschland bekannt werden. Ohne Einsicht in diesen Komplex bliebe das Verständnis des kaum Vergangenen verbaut. Die Abwehr der Erinnerung an das Unsägliche, was geschah, bedient sich eben der Motive, welche es bereiten halfen.
Wahr ist, daß die Gabe der Erinnerung in der rasch sich ändernden Gesellschaft unter dem Zwang, zeitgemäßere Fähigkeiten zu entfalten, sich zurückbildet. Die Reflexion der Völker auf ihre Geschichte ist seit je der herrschenden Richtung gefolgt; heute bleibt ihnen zu solcher Reflexion keine Zeit. Ohne lohnende Funktion im Zweckzusammenhang der Gegenwart hat Vergangenheit, private wie historisch relevante, wenig Aussicht, im Bewußtsein zu erscheinen, sie ist ›past history‹, totes Kapital. Um Zinsen zu tragen, müßte es als Element sozialer Integration, als Instrument der Ausrichtung brauchbar, zumindest für einen Augenblick politisch passend sein. Das ist die Aussicht der Ermordeten, im Bewußtsein wieder aufzustehen, seien es Polen, Juden, Deutsche oder wer je in der Geschichte Freiwild war. Seit den ersten Nachkriegsjahren hat die Chance der geopferten Juden auf solches Eingedenken in Europa abgenommen und ist auf die Wenigen angewiesen, deren Wille zur richtigen Zukunft mit der Absage an die Wiederholung sich die Analyse des Vergangenen auferlegt. Massings Buch kann ihnen eine Hilfe sein.
Soweit heute auf den finstersten Aspekt des Nationalsozialismus, den mörderischen Rassenwahn, in Deutschland reflektiert wird, stellt er zumal dem traditionalistischen Kulturglauben als eine von außen bereitete Katastrophe sich dar; als wäre Hitler wie ein Dschingis Khan in das Weimarer Deutschland eingebrochen und hätte ein Fremdes, gänzlich Unvorhersehbares verübt. Noch die entsetzte Rede von dämonischen Kräften dient insgeheim der Apologie: was irrationalen Ursprungs sein soll, wird der rationalen Durchdringung entzogen und zu einem schlechterdings Hinzunehmenden magisiert. Denkt man an Wurzeln des totalitären Antisemitismus, so sind intellektuelle Wortführer wie Langbehn, Lagarde, Gobineau, allenfalls Chamberlain, das Wagnerische Bayreuth, schließlich Lanz von Liebenfels gemeint; selten die eigentlich politisch-soziale Sphäre. So kulturfremd nun aber auch in der Tat Hitler sich ausnimmt, so tief reichen doch die geschichtlichen Ursprünge seiner Untat. Sie stecken keineswegs bloß in den Theoremen einiger paranoider Querköpfe.
In den ersten Hetzblättchen aus den Tagen des Fries und jenes Jahn, der heute bei den Fronvögten der Ostzone in hohen Ehren steht, war schon der totalitäre Antisemitismus angelegt; schon ihre Sprache wollte auf den Mord hinaus, und auch Schichten, die sich als Elite oder als Fortgeschrittene fühlten, waren, wie in Massings Buch sich zeigt, nicht gegen jenes Potential gefeit. Es überlebt, und darum ist die Analyse des Antisemitismus heute, da er nach der Ausrottung der Juden nicht gar zu offen sich vorwagt, so dringlich wie je – und die Bedingungen für ihre Aufnahme mögen günstiger sein, als wenn offener Haß die Regung der Vernunft überschreit.
Keineswegs ist der totalitäre Antisemitismus ein spezifisch deutsches Phänomen. Versuche, ihn aus einer so fragwürdigen Entität wie dem Nationalcharakter, dem armseligen Abhub dessen, was einmal Volksgeist hieß, abzuleiten, verharmlosen das zu begreifende Unbegreifliche. Das wissenschaftliche Bewußtsein darf sich nicht dabei bescheiden, das Rätsel der antisemitischen Irrationalität auf eine selber irrationale Formel zu bringen. Sondern das Rätsel verlangt nach seiner gesellschaftlichen Auflösung, und die ist in der Sphäre nationaler Besonderheiten unmöglich. In der Tat verdankt der totalitäre Antisemitismus seine deutschen Triumphe einer sozialen und ökonomischen Konstellation, keineswegs den Eigenschaften oder der Haltung eines Volkes, das von sich aus, spontan, vielleicht weniger Rassenhaß aufbrachte als jene zivilisierten Länder, die ihre Juden schon vor Jahrhunderten vertrieben oder ausgerottet hatten. In der von Massing behandelten Periode war der Antisemitismus in Frankreich – dem der Dreyfus-Affaire und Drumonts – kaum weniger virulent.
Wer den totalitären Antisemitismus begreifen will, sollte sich nicht dazu verleiten lassen, dessen Erklärung einer gleichsam naturgegebenen Notwendigkeit gleichzustellen. Wohl sieht retrospektiv alles so aus, als hätte es so kommen müssen und nicht anders sein können. Man wird unter den Berühmten der deutschen Vergangenheit bis hinauf zu Kant und Goethe nur wenige nennen können, die von judenfeindlichen Regungen ganz frei waren. Aber indem man auf solche Universalität insistiert und die Fatalität des Geschehenen im Begriff nochmals wiederholt, macht man sie in gewissem Sinn sich selbst zu eigen. Den Spuren des heraufdämmernden Verhängnisses in der deutschen Vergangenheit ist allerorten auch deren Gegenteil gesellt, und die Weisheit, ex post facto zu dekretieren, was von vornherein das Stärkere gewesen sei, macht es sich allzu leicht, indem sie das Wirkliche als das allein Mögliche unterstellt. In Frankreich hatten einige der tapfersten Dreyfusards, wie Zola und Anatole France, in ihre Romane zuweilen Darstellungen von Juden eingefügt, die jenen Clichés ähneln, gegen deren Konsequenz sie sich einsetzten. Zur Erfahrung von Geschichte gehört auch das Bewußtsein des Nichtaufgehenden, Diffusen, Vieldeutigen.
Hier vielleicht trägt Massings Buch Entscheidendes bei. Es hilft, den Knoten des Zufälligen und Notwendigen, auf selber rationale Weise, zu entwirren. Während er das amorphe, immer gegenwärtige, aber auch nie ganz wahre Potential des Judenhasses in den Bevölkerungen visiert, ohne doch daraus die Katastrophe abzuleiten, trifft seine Forschung den Bereich, an dem sich erkennen läßt, warum jenes Potential sich durchsetzte. Er zeigt an den geschichtlichen Tatsachen mit großer Evidenz, daß im Bismarckschen Deutschland der Antisemitismus politisch manipuliert und, je nach der Forderung des Tages der damaligen Interessen, an- und abgestellt wurde. Jene spontanen Volkserhebungen des Dritten Reiches, die auf ein Signal wohlorganisiert aufflammten, haben ihre Vorform in den Bewegungen der Stoecker und Ahlwardt, über die man opportunistisch verfügte, und die man mit vornehm-konservativem Gestus ebensogut zur Ruhe und Ordnung verhalten wie gegen die Sozialdemokratie loslassen konnte. Ohne daß die Rezeptivität der Masse für derlei Reize verkannt würde, ist doch zugleich auch ihr Maß an Schuld relativiert: die nach Opfern schreien, offenbaren sich als Opfer selber, als von der politischen Macht hin- und hergeschobene Schachfiguren. Der Antisemitismus hat seine Basis in objektiven gesellschaftlichen Verhältnissen ebenso wie im Bewußtsein und Unbewußtsein der Massen. Aber er aktualisiert sich als Mittel der Politik: als eines der Integration auseinanderweisender Gruppeninteressen; als die kürzeste und ungefährlichste Art, von einer Lebensnot abzulenken, zu deren Beseitigung andere Mittel verfügbar wären.
Massing bleibt nicht bei dieser generellen These stehen; er behauptet sie nicht einmal. Aber an dem Material, das er in minutiöser soziologischer und historischer Arbeit zusammengebracht hat, leuchtet sie ein. Besonnene wissenschaftliche Objektivität läßt hinter sich, was irgend die polemische Phantasie auszumalen vermöchte.
Ganz besonderer Dank gebührt Dr. Felix J. Weil, dem treuen Freund des Instituts, dem es sein Dasein verdankt. Er hat nicht nur Massings Text ins Deutsche übersetzt, sondern unermüdlich an der Vorbereitung der Publikation mitgewirkt.
Sommer 1959
Fußnoten
* Von Max Horkheimer und Adorno unterzeichnet.
Alfred Schmidt, Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx. Frankfurt a.M. 1962. (Frankfurter Beiträge zur Soziologie. 11.)*
Alfred Schmidts Arbeit gibt sich als ein Stück Marx-Philologie. Aus den verschiedenen Lebensperioden des Autors des Kapitals werden die Stellen aufgesucht und interpretiert, die sich auf den Begriff Natur beziehen. Soweit wir sehen können, gab es bisher keine gründliche, dem Stand der Problematik angemessene Darstellung des Naturbegriffs bei Marx. Um sie zu leisten, war es aber nicht genug, die Stellen zu sammeln, in denen von Natur gesprochen wird. Auch wo Natur nicht Thema ist, in den Theorien über Arbeit, Wert und Ware, sind Konzeptionen von Natur impliziert. Deshalb werden durch die verantwortliche Darstellung des Naturbegriffs auch andere Partien der Theorie erhellt. Die Version etwa, daß zwischen idealistischer und materialistischer Dialektik ein radikaler Gegensatz bestehe, wird von Schmidt zurechtgerückt und damit auch das oft zitierte Marxsche Wort, daß sein Verfahren mit der Dialektik bloß kokettiere.
Indem der Verfasser für sein Thema bisher kaum herangezogene Texte, etwa die als »Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie« 1953 publizierten Marxschen Vorarbeiten, im Hinblick auf den Naturbegriff durchgeht, wird der Marxsche Materialismus näher bestimmt. Die Auflösung aller Realität in bloße Natur, in atomare Partikel, oder was nach dem Stand der Wissenschaft jeweils als letzte Komponenten gilt, ist selbst keineswegs unbedingt. Nicht unähnlich der Kantischen Lehre, daß alle Erkenntnis auf die Leistung ordnender Funktionen des Subjekts zurückgeht, hängt sie bei Marx mit menschlicher, freilich realer gesellschaftlicher Arbeit zusammen. Damit ist der Naturbegriff des physikalischen Materialismus relativiert. Ihn absolut zu setzen, wäre ›vulgär‹. Die quantifizierende Vorstellung von Natur, wie sie in Laboratorien heute herrschen muß, kann nicht unmittelbar dieselbe sein wie der Naturbegriff einer nicht mehr in sich gespaltenen, in Natur nicht durchaus mehr verstrickten Menschheit.
Mit dem vulgär-materialistischen verschwindet auch das pragmatistische Mißverständnis der Marxschen Lehre. So wenig wie ein anderer Philosoph hat Marx je gefordert, daß die Gestalt des Gedankens der Praxis sich anmessen solle, auf Kosten der Wahrheit nach praktischen Erfordernissen zuzuschneiden sei. Über Gelehrte, die einem praktischen thema probandum, irgendeinem Effekt zuliebe, von ihrer Erkenntnis etwas sich abhandeln lassen, hat Marx verächtlich geredet: er hat sie Lumpen genannt. Politische Marx-Studien pflegen im Osten der inneren Gleichschaltung, der Ausrichtung der Jugend, der Mission in fremden Ländern zu dienen, die der Kolonisation den Weg bereitet; im Westen nicht selten der Defensive gegen das neue aggressive Evangelium. Allzu oft wirkt äußere Rücksicht selbst im Westen auf die Behandlung des Themas, ja darauf zurück, daß man sich überhaupt mit ihm beschäftigt. Durch die bescheidene philologische Fragestellung hat Schmidt solcher Versuchung sich entzogen. Mit der Entfaltung des zentralen Begriffs, den die Arbeit zum Gegenstand hat, treten andere als die traditionellen Konsequenzen hervor. Das legitimiert die Veröffentlichung der als Dissertation entstandenen Arbeit in unserer Reihe.
Fußnoten
* Von Max Horkheimer und Adorno unterzeichnet.
Peter von Haselberg, Funktionalismus und Irrationalität. Studien über Thorstein Veblens »Theory of the Leisure Class«. Frankfurt a.M. 1962. (Frankfurter Beiträge zur Soziologie. 12.)
Die im wissenschaftlichen Fortschritt unvermeidliche und vielfach produktive Arbeitsteilung zwischen den Disziplinen hat, wie in den letzten Dezennien bis zum Überdruß hervorgehoben wurde, auch ihre negativen Aspekte. Diese bestehen nicht nur in der Gefahr, daß der Sache nach Zusammengehöriges durch die voneinander getrennten Methoden auseinandergerissen wird. Sondern der Wahrheitsgehalt der Einzelwissenschaften in sich wird durch die Trennung gemindert. Unverkennbar ist das im Verhältnis von Soziologie und Ökonomie. Seit den Zeiten, da die Soziologie als besondere Wissenschaft sich einzurichten begann, pocht sie apologetisch auf ihre Eigenständigkeit, will sich als ›rein‹ beweisen und aus sich ausscheiden, womit andere, in der Universitas litterarum ältere Disziplinen sich beschäftigen. Dadurch hat sie eine bis heute fortwirkende Neigung entwickelt, am gesellschaftlich Entscheidenden, dem Lebensprozeß der Gesellschaft selbst, der Bewegung ihrer produktiven Kräfte und Produktionsverhältnisse, sich zu desinteressieren und sie der Ökonomie zuzuspielen. Sie konzentriert sich auf jene ›zwischenmenschlichen Beziehungen‹, die sekundär über jenen tragenden Strukturen sich erheben. Tendenziell wird solche Soziologie auf Sozialpsychologie reduziert. Die Volkswirtschaftslehre jedoch hat in ihrer jüngsten Phase die Analyse der tragenden gesellschaftlichen Verhältnisse ebenfalls als ein ihrem Begriff Fremdes abgewehrt. Sie beschied sich zunehmend bei dem Studium ökonomischer Prozesse innerhalb der bereits voll entwickelten Tauschgesellschaft, ohne deren Grundkategorien selbst, und ihre Verflechtung mit Gesellschaft und Geschichte, noch thematisch zu machen. Kaum ist es übertrieben, daß beide Disziplinen, indem sie durch solche Resignation für Anforderungen der unmittelbaren Praxis disponibel sich machen, ihr eigentliches Interesse versäumen. Die Zone, die beide im akademischen Betrieb nur höchst ungern betreten, ist die gleiche, in der in Wahrheit die ökonomischen wie die soziologischen Entscheidungen fallen.
Die Arbeit von Peter von Haselberg tastet sich in jene Zone. Sie ist stets zugleich auch gefährdet durch Züge des outsiderhaft Improvisatorischen, welche ihr von der Situation wissenschaftlicher Arbeitsteilung aufgeprägt werden. Der gewählte Gegenstand aber paßt in diese nicht hinein. Veblen, der von der Ökonomie herkam, hat die im engeren Sinn ökonomische Analyse in eine institutionell-soziologische umgebildet. Die ökonomische Kategorie des Eigentums erscheint ihm wesentlich unter dem Aspekt gesellschaftlicher Macht. Vergeudung und ostentatives Nicht-Arbeiten gelten ihm gleichsam als neurotische Symptome einer Gesellschaft, die unter der traumatischen Erfahrung von Gewalt steht. Sein Versuch, einen Indifferenzpunkt zu erreichen, auf dem Wirtschaft und Gesellschaft noch nicht gegeneinander verselbständigt erscheinen, entspringt einem sozialkritischen Impuls. Ihm entspricht sein sardonischer Darstellungsstil.
Während die Arbeit Haselbergs, der entscheidend an der Übertragung von Veblens Hauptwerk, der »Theory of the Leisure Class«, mitgewirkt hat, zu den ersten rechnet, welche die in Amerika höchst folgenreiche Konzeption Veblens – die gesamte Technokratie basiert auf ihr – in Deutschland zugänglich macht, bescheidet sie sich nicht dabei, sondern ist selbst kritisch: sucht Veblen, durch Reflexion seiner eigenen Motive, über sich hinauszutreiben.
Veblen zufolge, der freilich den Beweis seiner ethnologisch fragwürdigen These schuldig blieb, ist Besitz aus der Gewalttrophäe entstanden und bewahrt als Institution Züge dieses Ursprungs. Demgegenüber entwickelt Haselberg, daß Gewalt nicht im Zweck der Aneignung endet, sondern daß sie als ein »Schadenstiften« gerade auch den Besitz als verselbständigten Wert bedroht; sei es als Vergeudung, sei es als ritueller oder privater Exzeß, sei es als asketischer Verzicht, sei es schließlich als Verschleiß von Konsumgütern. Die Untersuchung trachtet, Veblens Begriff der ostentativen Faulheit, die jener lediglich als Manier oder Marotte auffaßt, in Zusammenhang mit der Theorie der Gewalt zu bringen. Die Attitüde des Schadenstiftens schlägt auf den Besitzer selbst zurück, dem irrationale Verhaltensweisen bis zur Selbstbeschädigung sozial auferlegt werden. Es eröffnet damit sich die Perspektive einer ebenso politisch-ökonomischen wie psychoanalytischen ›Urgeschichte‹ der Destruktionstendenzen innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft.
Veblen habe das Verhältnis von Gewalt und Besitz nicht konsequent durchdacht; sie weisen bei ihm unverbunden auseinander. Haselberg möchte die von der Gewalt herstammende Irrationalität bis in scheinbar rationale Verfahrensweisen der modernen Gesellschaft hinein verfolgen. Auch sie sollen von ritualen Elementen, und keineswegs bloß subjektiv psychologisch bedingten, durchsetzt sein. Als ihr Modell wird der Kultus des Lebensstandards behandelt. Die technokratische Zuversicht Veblens, institutionalisierte Vergeudung wäre ohne weiteres durch eine vernünftigere Ökonomie zu ersetzen, wird von Haselberg nicht geteilt. Sein Zweifel stammt aus tiefenpsychologischen Erwägungen, wie sie Freud im »Unbehagen in der Kultur« angestellt hat. Verwandte Intentionen zeichnen sich in der gegenwärtigen amerikanischen cultural anthropology ab.
Weiter behandelt Haselberg das bei Veblen sehr belastete Problem der Funktion der Kunst. Für Veblen wird Ästhetik, analog den Parolen der neuen Sachlichkeit, zu einer Art von Wegweiser aus der von ihm kritisierten ostentativen Gesellschaft. Sein Vorbild fürs Richtige ist das natürlich und zweckmäßig Schöne. Dies dogmatisch unterstellte Prinzip der Schönheit wird jedoch bereits bei der Analyse von Gebrauchsdingen deren immanenten ästhetischen Normen nicht gerecht. Gelegentlich fällt Veblens Begriff natürlicher Schönheit ins archaisierend Romantische zurück. Seine Lehre von der »ökonomischen Schönheit« ist nach Haselberg untauglich in einer Welt, in der anstelle des Werkzeugs Maschine und Apparatur getreten sind. Sie haben als neues Stilisierungsprinzip den technischen Standard ideologisch fixiert.
Die Endabsicht der Haselbergschen Arbeit richtet sich gegen den heute vorherrschenden Begriff des »Funktionierens«. Er spricht ihm die Rationalität ab: in ihm überlebe Aggression. Diese sei in der Technik keineswegs, wie Veblen noch annimmt, durch Gewöhnung an kausales Denken überwunden worden. Technik selber produziere Gewalttätigkeit als notwendige Haltung gegenüber dem Objekt und vollends gegenüber allen dessen Funktionieren störenden Faktoren. Die Idee der Nützlichkeit für die Menschen, das Regulativ von Veblens Angriff auf die Kultur, sei heute nicht mehr, wie noch um 1900, an der Behebung des existierenden Mangels in der Welt zu orientieren. Im Zeitalter der Überproduktion sei vielmehr der Begriff des Nützlichen selbst zur Ideologie geworden.
Die kritische Entfaltung der angedeuteten Gedanken an dem reichen und zugleich problematischen Material, das der bedeutende amerikanische Soziologe bietet, rührt an Denkgewohnheiten, die in einer zunehmend am Begriff des Funktionierens ausgerichteten Soziologie sich eingeschliffen haben. Das allein schon genügte, die Publikation der Haselbergschen Arbeit in einer soziologischen Schriftenreihe zu rechtfertigen.
Sommer 1962
Oskar Negt, Strukturbeziehungen zwischen den Gesellschaftslehren Comtes und Hegels. Frankfurt a.M. 1964. (Frankfurter Beiträge zur Soziologie. 14.)*
Negts Schrift befaßt sich mit dem sachlichen Verhältnis – nicht mit etwaigen genetischen Zusammenhängen – zwischen den der Gesellschaft geltenden Gedanken Hegels und der Comteschen Soziologie als Wissenschaft der Geschichte; ihrer Verwandtschaft wie ihrem Gegensatz. Das Interesse daran erschöpft sich nicht in bloßer Dogmengeschichte. Vielmehr erteilt die Untersuchung Aufschlüsse über die Stellung sozialen Denkens in der Wirklichkeit, an der es sich bildet. Und zwar weit über die Sachgehalte hinaus, deren Identität bei gleichzeitigen Autoren meist sich durchsetzt. Das läßt gerade an Denkern so verschiedenen Wesens und so divergenter Verfahrungsweisen wie Hegel und Comte sich feststellen. Jener war Protestant, dieser Katholik, und bei beiden hat die Religion ihrer Herkunft die Fiber ihres Denkens bestimmt, auch wo es als profan sich verstand. Jener war spekulativer Metaphysiker, dieser hat mit einer monomanischen Pedanterie, welche erst in der Wissenschaftsgesinnung des gegenwärtigen Zeitalters voll erblühte, Metaphysik und Spekulation verfolgt. Aber die Welt, der sie gegenüber sich fanden, ebenso wie die Position, die beide objektiv, und motiviert, in den gesellschaftlichen Kämpfen bezogen, haben sie zu Lehren gebracht, deren Inhalt zuweilen überraschend sich ähnelt. Beide sprachen fürs Bürgertum; Comte für eines, das bereits gesiegt hatte und zur Apologetik überging; Hegel für ein noch ohnmächtiges und politisch gegängeltes. Die Kraft seiner Konzeption drängte ebenso über den beschränkten Zustand hinaus, wie die reale Schwäche derer, die er vertrat, Halt suchte bei der etablierten, bürokratisch-halbabsolutistischen Ordnung. Aber beide waren bereits mit den sprengenden Tendenzen konfrontiert, welche sogleich die neue Ordnung bedrohten. Comte hatte bereits mit dem Proletariat und mit frühsozialistischen Theorien zu rechnen. In Hegels Deutschland waren sozialistische Tendenzen erst diesseits des entfalteten Klassengegensatzes, und darum in romantischer Gestalt erkennbar, etwa an Fichtes Staatslehre; um so leichter fiel es ihm, mit Hilfe der progressiven liberalen Nationalökonomie, sie zu denunzieren. Er sowohl wie Comte jedoch sahen sich vor der Aufgabe, die bürgerliche Dynamik, als eine der Befreiung der Produktivkräfte, zu fördern und gleichwohl, mit einem von Hegel gelegentlich verwendeten Ausdruck, als über sich hinaustreibende einzuschränken. Ihnen bangte vor dem Schreckbild einer Anarchie, das seitdem mehr den Bedürfnissen solider Herrschaft zugute kam als wahrhafter und stets gefährdeter Demokratie. Der geschichtlich-ökonomische Zwang in der Klassenlage war stärker als die sei's noch so unversöhnlichen philosophischen Differenzen, und verhielt sie zur Einheit wider Willen. Was bei Hegel Staat und Staatsgesinnung unmittelbar, soll bei Comte die staatlich institutionalisierte Wissenschaft, zuoberst die Soziologie leisten. Leicht war es, das Unzulängliche beider Rezepte zu bemängeln. Je mehr aber die Dynamik der Gesellschaft jenes Potential eines Besseren versäumte, das über das Rezept hinausgeführt hätte, desto mehr Gewicht gewinnen geistige Erfahrungen aus der Frühzeit des Prozesses, in denen sein späterer Verlauf vorweggenommen scheint. Hegel wie Comte haben, in jeglichem Betracht, die dialektische Verschränkung von Fortschritt und Reaktion ausgedrückt.
Das Buch von Negt hat das Verdienst, die vergleichende Analyse der Hegelschen und Comteschen Lehre von der Gesellschaft differenziert durchzuführen. Dabei ergibt sich viel von der gängigen Meinung Abweichendes. Damals schon ging die Gleichung nicht auf, welche den Positivismus auf die Seite emphatischen Fortschritts und die spekulative Philosophie auf die ideologische nimmt. Wie sehr auch die Hegelsche Rechtsphilosophie, deren pathetischer Staatskult ihm die bedenklichsten Sympathien und den bedenkenlosesten Haß eintrug, die Zustände seines in der industriellen Entwicklung zurückgebliebenen Landes reflektiert – seine Lehre von der Gesellschaft kennt zwar die Dialektik von Reichtum und Verelendung, aber als deren Opfer nur den Pauper –, das spekulative Element verleiht ihr doch kritische Freiheit gegenüber dem, was ist. Comte jedoch erkor die Anpassung an Bestehendes von Anbeginn zur Maxime und empfand den nicht willfährigen Geist einzig als Störenfried. Andererseits erweist sich gerade in der Hegelschen Konstruktion der sozialen Gegebenheiten als eines Sinnvollen ein latenter Positivismus, von dem seine positivistischen Feinde nichts ahnen. Die Bedeutung von Negts Buch liegt nicht zuletzt in solchen Perspektiven.
Parallelen wie Kontraste zwischen Hegel und Comte sind so auffällig, daß es erstaunlich ist, wie wenig die soziologische Wissenschaft bis heute damit sich einließ. Eine Ausnahme dürfte lediglich die Abhandlung »Comte ou Hegel« von Gottfried Salomon-Delatour bilden, publiziert in der Revue positiviste internationale, Paris 1935/36. Professor Salomon hat Oskar Negt während der Arbeit aufs freundlichste beraten; ihm galt auch unser Dank.
Sommer 1963
Fußnoten
* Von Max Horkheimer und Adorno unterzeichnet.
Heribert Adam, Studentenschaft und Hochschule. Möglichkeiten und Grenzen studentischer Politik. Frankfurt a.M. 1965. (Frankfurter Beiträge zur Soziologie. 17.)
Das Forschungsprojekt, für dessen Durchführung Heribert Adam verantwortlich war und über das er nun berichtet, wurde in einer Vorstandssitzung des Instituts für Sozialforschung im Mai 1960 von Professor Boris Rajewsky vorgeschlagen. Veranlaßt wurde die Untersuchung dadurch, daß in den letzten Jahren etwas an Stimmung und Haltung der Studentenschaft sich zu ändern schien, besonders greifbar in gewissen Schwierigkeiten zwischen der Studentenschaft einerseits, Rektor und Senat andererseits. Die Institutsleitung folgte dankbar der Anregung, den Komplex, dessen Bedeutung nicht nur für die Bildungssoziologie sondern ebenso für praktische Fragen der Universität unmittelbar evident ist, empirisch zu behandeln. Dabei war ebenso die objektive Gültigkeit jener Beobachtung zu überprüfen wie mögliche Ursachen zu ermitteln. Ins Zentrum rückte die Frage, inwieweit die Sprecher der studentischen Selbstverwaltung überhaupt Intentionen und Interessen der Studentenschaft vertreten, oder ob der Selbstverwaltungsapparat als Vehikel zur Durchsetzung von Gruppenzielen, womöglich egoistischen der Funktionäre, diene; weiter, ob Studentensprecher sich als potentielle Führungsschicht fühlen, elitäre Vorstellungen hegen und demgemäß auch sich verhalten. Vermutet wurde, daß, nachdem die Kriegsgeneration unter den Studenten, der es nicht nur auf spezialisierte Fachbildung angekommen war, ausschied, das sogenannte Konsumentenbewußtsein sich auch über die Studenten ausbreite und in ihren Repräsentanten verkörpere.
An der von Adam geleisteten Arbeit bewährte sich nun, daß empirische Untersuchungen, wofern sie hinlänglich eingegrenzten Problemen gelten, ihre Berechtigung erweisen können durch Befunde, die exakt genug sind, um Hypothesen zu verifizieren oder zu falsifizieren. Die Annahmen, die uns leiteten – wenn anders sie Hypothesen genannt werden dürfen –, haben sich nicht bestätigt. Das Buch von Adam ist ein Schulbeispiel dafür, wie empirische Untersuchungen fruchtbar werden, wenn sie zur Kritik auch an theoretisch plausiblen und einleuchtend beobachteten Annahmen führen. In den Befragungen von 173 Studentenvertretern aller westdeutschen Hochschulen zeigte sich, daß von verbreiteter Opposition innerhalb der Studentenschaft nicht die Rede sein kann; eher wunderten sich auch die befragten Professoren über ein nach ihrem Urteil zu zahmes Verhalten. Konflikte hatten teils in ungünstigen Studienbedingungen, meist in politischen Divergenzen ihren Grund; nicht in Renitenz.
Naturgemäß war die Studie primär subjektiv gerichtet; ebenso deshalb, weil sie sich auf die Mentalität der zu untersuchenden Gruppe bezog, wie auch deshalb, weil das Material über die objektive Rolle der Studentenvertretungen in der jüngsten Geschichte der deutschen Universitäten sichere Schlüsse nicht erlaubte. Daraus ergab sich die Gefahr, das Selbstverständnis der Studentenvertreter, oder anderer Befragter, werde anstelle der Einsicht in die tatsächlichen Verhältnisse, zumal das reale Verhalten der Studentenvertreter gesetzt. Im weiteren Fortgang der Studie wurde versucht, diesem Mangel durch zusätzliche Information so gut wie möglich abzuhelfen; das nicht zuletzt ist dafür verantwortlich, daß die Publikation sich hinauszögerte.
Adams Bericht erörtert zunächst die – keineswegs neu entdeckte – Gleichgültigkeit der Studenten gegenüber ihrer Vertretung, deren Index die geringe Beteiligung bei den studentischen Wahlen ist. Er zeigt, daß jene Apathie schon auf die Gründungsphase der studentischen Selbstverwaltung zurückdatiert. Diese wurde unmittelbar nach Kriegsende eingerichtet, und zwar im Zug von Bestrebungen außerhalb der Studentenschaft selbst, im Zusammenhang mit generellen Demokratisierungstendenzen und auch mit Bedürfnissen der damals sehr desorganisierten Universitätsverwaltung. Daß die Studentenvertretung bis heute in so weitem Maß Sache isolierter Funktionäre blieb, wird aus studienbedingten Organisationsschwierigkeiten erklärt, aber auch daraus, daß die Aufgabenstellung der Selbstverwaltung von den zentralen Interessen der Studenten doch zu weit ablag; schließlich auch aus Wandlungen in der Universität selbst, die von politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen determiniert sind.
Jenen Wandlungen geht Adam nach. Mit der Zeit wechseln die Ansichten von Professoren wie Studenten zur sogenannten ›universitären Demokratie‹. Die Kontroversen über die Form der Mitwirkung der Studenten an der akademischen Selbstverwaltung werden referiert und dabei kritisch die von Studenten geäußerte Ansicht analysiert, die Krise der Vertretung rühre von deren beschränkten Kompetenzen her. Während die Forderung nach ›Hochschuldemokratie‹ lediglich erweiterte studentische Mitbestimmung meinte, wie sie an einigen Universitäten auch, mit Sympathie vieler Professoren, realisiert wurde, bildete ihren Hauptinhalt rasch genug eine Rationalisierung des Universitätsbetriebs. Die Studentenvertreter sahen sich mehr stets als Objekte einer Entwicklung, welche die Autonomie der Universitäten gegenüber dem Staat verstärkte und dadurch, nach Auffassung der Studenten, den Professoren Privilegien garantierte, die eine Verbesserung der Studienbedingungen im Sinn der Studenten erschwerten. Deren Forderungen drängten auf rationelle Ausbildung; dadurch gerieten sie in Widerstreit mit der traditionellen Universitätskonzeption; mit der Furcht, die Anpassung der Universitätsorganisation an Prinzipien industrieller Leistungsfähigkeit müsse die letzten Reservate unabhängiger geistiger Entfaltung beseitigen. Soziologisch erblickt Adam, innerhalb jener Konstellation, die Funktion der Studentenvertretung darin, daß das Mitbestimmungsrecht der Studenten in den Organen der akademischen Selbstverwaltung Unzufriedenheit kanalisiere und zugleich den Prinzipien einer autonomen, sich selbst verwaltenden Körperschaft entspreche.
Nach den Befunden der Studie beeinträchtigten jedoch Differenzen über die Hochschulreform selten das gute Verhältnis zwischen Rektor und AStA-Vorsitzendem. Häufiger entstanden Konflikte aus der im engeren Sinn politischen Tätigkeit der Studentenvertreter. Typische Konfliktsituationen werden behandelt, die Argumente der verschiedenen Richtungen mit der herrschenden Praxis konfrontiert. Das ausgiebig belegte Fazit ist, daß die Rechtsaufsicht der Hochschulbehörden über die Studentenschaft in wachsendem Maß sich als Kontrolle der Zweckmäßigkeit politischer Betätigung der Studenten überhaupt auslege. In der traditionell unpolitischen Auffassung, welche die deutschen Universitäten von sich selbst hegen, wird der maßgebende Grund dieser Tendenz erblickt. Insgesamt scheinen die institutionellen Bedingungen an den deutschen Hochschulen politisches Engagement der Studentenschaft eher zu erschweren als zu fördern. Adam warnt erneut davor, auf Grund lokaler Kontroversen das oppositionelle Potential innerhalb der Studentenschaft, sowohl allgemein-politisch wie hochschulpolitisch, zu überschätzen. Viel eher läßt das vorherrschende Bewußtsein der Studenten nach wie vor als unpolitisch sich charakterisieren. Das wird, für die Gruppe der studentischen Funktionäre, detailliert erläutert am offiziellen Programm ihrer Organisation. Aus ihm zieht Adam den Schluß, daß die Studentenvertretung einer unpolitischen Versorgungsbürokratie sich annähere. Sie beharrt auf dem Subsidiaritätsprinzip, möchte Sozialeinrichtungen in eigener Regie unterhalten. Durch wachsende Beschäftigung mit Verwaltungsaufgaben und Mitwirkung in den Universitätsorganen werden die studentischen Funktionäre, nach dem Urteil von Adam, ähnlich wie die Betriebsräte in der Industrie allmählich in die institutionelle Hierarchie integriert.
Dies Verhalten wird jedoch nicht zu einer bloßen Sache ihrer Gesinnung gemacht oder gar den Funktionären, wie es so vielfach üblich ist, vorgeworfen: ihnen diktiere ihre Abhängigkeitssituation – die von Lernenden – und der Mangel an Unterstützung durch die Zwangsmitglieder der Organisation ihr Verhalten. Wenige Studentenvertreter verfügten nach den Befragungsergebnissen über die Einsicht, daß Interessenvertretung konsequenterweise identisch sei mit politischem Handeln, dessen Berechtigung nicht etwa aus einer besonderen Verwaltung der künftigen Akademiker sich legitimieren müsse.
Der eigentlich soziologische, den informatorischen Beitrag übersteigende Gehalt der Schrift besteht darin, daß sie dazu hilft, die Situation an der Universität als Moment eines weit umfassenderen gesellschaftlichen Prozesses zu begreifen.
Mai 1965
Adalbert Rang, Der politische Pestalozzi. Frankfurt a.M. 1967. (Frankfurter Beiträge zur Soziologie. 18.)
Das Pestalozzibuch von Adalbert Rang, dessen Ertrag weit hinausgeht über den bescheidenen Anspruch, mit dem es auftritt, ist vielleicht am besten zu charakterisieren durch einen darin geübten Verzicht. Der Begriff des Menschenbildes, der seit Jahren in der geisteswissenschaftlichen Pädagogik grassiert, wird strikt vermieden. Und nicht nur aus Antipathie gegen den Jargon, dem jenes Wort angehört. Vielmehr steht dahinter die Absicht, die heute vorherrschenden, an der gängigen philosophischen Anthropologie ausgerichteten Pestalozzideutungen zu revidieren; etwa die von W. Bachmann, der, fundamentalontologisch gerichtet, den »Standort« Pestalozzis als »überhaupt nicht in dieser Welt« ansetzen möchte. Im Gegensatz zu derlei Bestrebungen ist Rang darauf bedacht, Gestalt und Werk Pestalozzis in die konkrete Geschichte: in die Gesellschaft selber zurückzuholen. Seine Aufmerksamkeit gilt dem Politiker nicht weniger als dem Pädagogen. Ausgegangen wird vom Verhältnis Pestalozzis zur Französischen und Helvetischen Revolution. Dabei läßt die Untersuchung den individuell-biographischen Aspekt hinter sich: sie reflektiert ständig auf die ökonomisch-gesellschaftliche Situation der Schweiz um die Wende zum neunzehnten Jahrhundert. Pestalozzis privater Charakter wird auf den sozialen bezogen.
Es entfällt der fatale Anspruch, um jeden Preis die ›Einheit‹ von dessen Entwicklung zu demonstrieren. Eine solche wird so wenig unterstellt, wie die objektive Tendenz, an der Pestalozzi sich abarbeitete, einstimmig und bruchlos ist. Widersprüche im Leben und im Werk Pestalozzis werden in der Arbeit durch die Konfrontation von Äußerungen aus verschiedenen Lebensperioden überhaupt erst ihrer Tiefe nach sichtbar gemacht. Anstatt sie einzuebnen, einen ›uneigentlichen‹ Politiker dem ›eigentlichen‹ Pestalozzi der pädagogischen und kulturphilosophischen Schriften entgegenzuhalten, entziffert Rang die politischen Implikationen noch der späten, scheinbar autonom pädagogischen Arbeiten. Andererseits zeigen sich bereits in frühen Äußerungen Pestalozzis Motive seiner späteren politischen Abstinenz.
Soziologisch hat das Buch sein Gewicht als Beitrag zur konkreten Vermittlung geistiger Positionen durch deren gesellschaftliche Ursprünge und Gehalte. In den Rissen von Pestalozzis Entwicklung erkennt Rang den Ausdruck der objektiven Antagonismen, welche die damals politisch sich konstituierende bürgerliche Gesellschaft schon in ihrer Frühzeit durchfurchten. An einem würdigen Gegenstand wird jene Arbeitsteilung zwischen den Disziplinen überschritten, die auf Kosten der Fruchtbarkeit einer jeglichen geht. Das bedeutet zugleich, inhaltlich, eine energische Veränderung der Vorstellungen von Pestalozzi, dessen ungebärdige Kraft man so behend für autoritäre Ideologien zu verwenden wußte.
Regina Schmidt, Egon Becker, Reaktionen auf politische Vorgänge. Drei Meinungsstudien aus der Bundesrepublik. Frankfurt a.M. 1967. (Frankfurter Beiträge zur Soziologie. 19.)*
Während der letzten Jahre hat das Institut für Sozialforschung nach einigen hervorstechenden Ereignissen des öffentlichen Lebens sogleich Umfragen unter der Bevölkerung veranstaltet, um sich deren momentaner Reaktionen zu vergewissern. Der Eichmann-Prozeß, die Spiegel-Affäre und der Metallarbeiterstreik in Baden-Württemberg wurden zum Anlaß rasch vorbereiteter, im Umfang bescheidener Studien, im Researchjargon ›Quickies‹ genannt. Die drei Erhebungen leitete Egon Becker. Er half Regina Schmidt, als sie die zugleich undankbare und lockende Aufgabe übernahm, die Befunde, soweit es angeht, zu integrieren und aus ihnen herauszulesen, was dabei als empirischer Beitrag zur politischen Soziologie betrachtet werden mag.
Die Einwände gegen Quickies liegen auf der Hand; die Publikation ist ihrer sich bewußt. Um an die Daten zu gelangen, ehe sie sich mit den Reaktionen auf andere Ereignisse vermengen, wird die Vorbereitung improvisiert. An strenge, wiederholte Pre-tests ist nicht zu denken; der Anspruch an die Zuverlässigkeit des Forschungsinstruments muß sich bescheiden. Schwerer noch als die technische Insuffizienz wiegt eine im höheren Sinn wissenschaftliche. Da solche Studien auf aktuelle Ereignisse und Situationen sich zuspitzen, ist es schwierig, die Befunde auf strukturelle Zusammenhänge des Gesellschaftsprozesses zu beziehen; die zeitliche Beharrlichkeit der ermittelten Daten erscheint fraglich. Etwas vom Ephemeren des Anlasses teilt den Erhebungen selbst sich mit.
Dem jedoch stehen nicht zu verachtende Vorteile gegenüber. Zu den Regeln eines bedacht entworfenen Fragebogen- oder Interview-Schemas gehört es, soweit wie möglich vage, allgemeine Fragen zu vermeiden und das sie leitende Interesse zu konkretisieren. Diese Regel kommt freiwillig dem recht nahe, wozu das Quickie aus Not gezwungen ist. Die Tuchfühlung mit den Fakten, die Blickrichtung auf präzis gegenwärtige, spezifische Ereignisse, vermittelt eine lebendige, unfiltrierte Vorstellung von den Ansichten, vielleicht auch Verhaltensweisen der Befragten. Die ständige Alternative von Vor- und Nachteilen, die in der empirischen Sozialforschung gegeneinander abzuwägen sind, betrifft auch das Quickie: was den Resultaten an Verbindlichkeit abgeht, dafür entschädigt in gewissem Sinn, und in Grenzen, daß sie mehr von jenen Momenten der Erfahrung retten, die sich zu verflüchtigen drohen, sobald die Forschungsinstrumente methodisch geschliffen werden.
Die empirische Sozialforschung setzt sich vielfach, und nicht ohne Grund, dem Verdacht aus, durch ihren Zuschnitt auf Quantifizierung qualitative Differenzen einzuebnen und bei der bedeutungslosen Selbstverständlichkeit des Abstrakten zu stranden. Leicht wird darüber vergessen, daß sie ebenso das Umgekehrte zu bewirken vermag: die kritische Differenzierung theoretischer Erwartungen, sei es auch solcher von größter Plausibilität. Die Publikation bietet dafür einige Beispiele. So war die Studie über den Metallarbeiterstreik ausgegangen von der – analog zu amerikanischen Erfahrungen gebildeten – Hypothese, daß in den nicht zur Arbeiterschaft rechnenden Teilen der deutschen Bevölkerung ein Potential von Rancune gegen die Gewerkschaften und deren vorgeblichen Eigennutz vorhanden sei. Die Untersuchung hat diese Hypothese in ihrer ursprünglichen Gestalt nicht bestätigt. – Oder: die oft geäußerte Vermutung, gänzlich Unpolitische neigten eher zu autoritären Reaktionen als politisch Interessierte, war, nach gemeinsamer Interpretation der drei Studien, nicht aufrechtzuerhalten.
Ein prägnantes Ergebnis der drei Studien ist, daß zwar soziale Herkunft, vor allem die durch sie vermittelten Bildungschancen, nicht des Einflusses auf die politische Mentalität der deutschen Bevölkerung entraten, daß derlei Differenzen jedoch zurücktreten hinter auffälliger Uniformität in den politischen Reaktionen. In allen sozialen Schichten und Bildungsgruppen erwies sich die Reichweite politischer Interessen als begrenzt: soweit es nicht um krasse, durchsichtige Schichteninteressen geht, erscheint den meisten die Sphäre der Öffentlichkeit als ihrer individuellen Erfahrung entrückt; es lohne sich nicht, für sie sich zu engagieren. Sowohl bei der Spiegel-Affäre wie beim Metallarbeiterstreik spielten Schichtendifferenzen für das Urteil der Befragten keine erhebliche Rolle. Auch an der Eichmann-Studie ist hervorzuheben, daß das für antisemitische Vorurteile anfällige Potential sich relativ gleichmäßig auf alle Berufs- und Bildungsgruppen verteilt. – Zudem lassen sich wohl eher bei Angehörigen der oberen Mittelschicht und solchen aus Gruppen der sogenannten ›Gebildeten‹ – mit Abitur oder Hochschulabschluß – konkrete oder doch zumindest vage Vorstellungen von den veränderten Lebensbedingungen unter einer Diktatur vermuten. Aber auch hier ist der Anteil derer nicht unbeträchtlich, die politische Regierungsformen für auswechselbar halten, ohne der Konsequenzen eines etwaigen Umschwungs zugunsten totalitärer Herrschaft innezuwerden. Allerorten zeichnet sich die mangelnde Einsicht in die Verflochtenheit von privater Existenz und politischem Prozeß ab.
Die Synopsis der Untersuchungen dürfte, trotz aller Vorsicht beim Wägen der Resultate, den bescheiden angelegten Studien doch vielleicht einiges mehr an Relevanz verleihen, als jeder einzelnen zuzutrauen wäre.
Fußnoten
* Von Adorno und Ludwig von Friedeburg unterzeichnet.
Joachim E. Bergmann, Die Theorie des sozialen Systems von Talcott Parsons. Eine kritische Analyse. Frankfurt a.M. 1967. (Frankfurter Beiträge zur Soziologie. 20.)*
Das Bergmannsche Buch, eine Marburger Dissertation, wird nicht darum in die »Frankfurter Beiträge zur Soziologie« aufgenommen, weil sein Autor aus dem Institut für Sozialforschung hervorging und nach seiner Promotion dorthin zurückkehrte. Bestimmend ist seine Aktualität. Unverkennbar üben die Werke Talcott Parsons' erhebliche Attraktion auch auf die deutsche Soziologie, vor allem ihre jüngeren Exponenten, aus. Sie wird reflektiert noch von dem, was bislang in Deutschland Kritisches über Parsons publiziert wurde.
Das Interesse an Parsons' Theorie speist sich aus heterogenen Motiven. Zunächst wäre an ihre Funktion für die Fachdisziplin der Soziologie zu denken. Parsons beansprucht, mit seiner allgemeinen Handlungstheorie allen Sozialwissenschaften die gesicherte Grundlage zu geben, ihre Gegenstandsbereiche und ihre Grundkategorien systematisch aus den Bedingungen menschlichen Handelns abzuleiten. Er verspricht damit der Soziologie Eigenständigkeit und bestimmt ihr einen Platz innerhalb der akademischen Arbeitsteilung.
Vor allem aber erklärt sich das Prestige seiner theoretischen Arbeiten aus der Absicht, Gesellschaft als System zu begreifen. Parsons' Soziologie entfernt sich, anschließend an die europäische Tradition, an Durkheim, Max Weber und Pareto, erheblich von jenen Formen der Soziologie, die zumal in den Vereinigten Staaten Theorie mit Sätzen bestenfalls mittlerer Reichweite identifizieren. Mit einem Minimum an Grundkategorien entwirft Parsons ein ungemein weiträumiges Gehäuse, in dem die von der empirischen Forschung ermittelten sozialen Tatsachen ihren Ort und ihre Erklärung finden sollen. Ein durchsichtiger Begriffsapparat, nach den Gesetzen klassifikatorischer Logik konstruiert, soll zu inhaltlich Wesentlichem, zur Einsicht in die Bedingungen des gesellschaftlichen Zusammenhangs verhelfen.
Schließlich wird man die Wirkung seiner Theorie damit verbinden dürfen, daß sie Sicherheit im Gang der soziologischen Erkenntnis verheißt. Ihre Konstruktionsprinzipien orientieren sich in weitem Maße an den methodologischen Postulaten der analytischen Wissenschaftslehre. Sie will szientifische Objektivität wahren, die Möglichkeit bieten, partikulare Einsichten in die Totalität ohne spekulative Risiken einzuordnen. Schlüsselbegriffe wie der der Rolle scheinen zu theoretischer Erklärung geeignet, ohne daß, wer ihrer sich bedient, zunächst befürchten müßte, allzusehr ins Kontroverse sich zu verstricken. An das Bedürfnis nach Sicherheit wird auch insofern appelliert, als die Invarianz solcher Kategorien der der Gesellschaftsstruktur selbst zugutekommt.
Hier setzt Bergmann ein Fragezeichen. Die Intention seiner Arbeit ist die der immanenten Kritik des Anspruchs wissenschaftlicher Neutralität und Objektivität, den Parsons' Theorie erhebt. Demonstriert wird das an konkreten sozialen Phänomenen. Thematisch ist vor allem, was Parsons über den Faschismus, über soziale Schichtung und das Problem der Herrschaft ausführt. Kritik an der allgemeinen Theorie wird kraft kritischer Analyse ihrer Applikationen geübt. Der zentrale Einwand lautet, daß Parsons die Bedingungen des gesellschaftlichen Zusammenhangs durch Werte und Normen hinreichend definiert sieht, während durch normative Kategorien allein nicht fixiert werden kann, wann ein gesellschaftlicher Zustand als funktional zu gelten hat. Neuere systematische Analysen stimmen mit dieser Kritik überein: Habermas zufolge definieren Wertsysteme keine »Sollzustände« einer Gesellschaft; und gerade der neopositivistischen Kritik sind Parsons' Bestimmungen der »funktionalen Einheit« und der »inneren Konsistenz« sozialer Systeme suspekt.
Am Detail wird von Bergmann dargetan, daß der formale Charakter der Soziologie Parsons' weit mehr Inhaltliches impliziert, als ihr und ihren methodologischen Postulaten prima facie anzumerken ist. Die Vernachlässigung der materiellen Momente im gesellschaftlichen Zusammenhang, vor allem der ökonomischen Inhalte von sozialen Strukturen, läßt Werte und Normen zu regulativen Prinzipien des Gesellschaftsprozesses werden, die normativen Kategorien verwandeln sich in solche der Verwaltung der Gesellschaft. Parsons' Soziologie mißt gesellschaftliche Phänomene – etwa die Sozialschichtung – am Maßstab der Ideologie einer Gesellschaft. Die gesellschaftliche Ordnung, das soziale Gleichgewicht, gilt als problemlos, solange nur die nach jenen Kategorien behandelten Gesellschaften funktionieren, also fortfahren, sich selbst zu erhalten. Einigermaßen gleichgültig ist die strukturell-funktionale Theorie gegen den Preis dafür: sie sieht davon ab, ob die Logik der Selbsterhaltung sozialer Systeme menschlichen Zielsetzungen und Interessen gehorcht. Woran aber eine Theorie sich desinteressiert zeigt, der Abstraktionsmechanismus, dem ihre Begriffsbildung gehorcht, ist für den Inhalt der Erkenntnis nicht gleichgültig. Ob man den Faschismus aus der Reaktion gefährdeter sozialer Gruppen mit »abweichenden Motivationen« oder aus Entwicklungstendenzen der Gesellschaft ableitet, die Wahl also der Schlüsselbegriffe, mit welchen analysiert wird, steuert die Analyse selbst und ihre Resultate in bestimmter Richtung.
Die Fruchtbarkeit des Buches von Bergmann dürfte darin zu suchen sein, daß es solche Einsichten nicht allgemein, von oben her exponiert, sondern sie bis ins einzelne, und darum stringent, an einem so repräsentativen Modell wie dem Parsons'schen System entwickelt. Der Gegensatz zwischen einer positivistischen und einer dialektischen Konzeption von der Gesellschaft rückt mehr stets ins Bewußtsein und spitzt sich zu. Bergmann trägt dazu bei, daß die einander opponierenden Schulen nicht starr und dogmatisch sich hinter ihren Axiomen verschanzen, sondern daß ihre Argumente kraft genuiner Diskussion ineinandergreifen. Manche Fragen, die man vermeintlich letzten Grundpositionen zuzuschreiben geneigt ist, erweisen sich in einem solchen Verfahren als objektiv entscheidbar.
Juni 1967
Fußnoten
* Von Adorno und Ludwig von Friedeburg unterzeichnet.
Manfred Teschner, Politik und Gesellschaft im Unterricht. Eine soziologische Analyse der politischen Bildung an hessischen Gymnasien. Frankfurt a.M. 1968. (Frankfurter Beiträge zur Soziologie. 21.)*
Das Buch von Teschner möchte helfen, die theoretischen und praktischen Überlegungen zur Reform der politischen Bildung durch verläßliche empirisch-soziologische Informationen über die Wirkung des sozialkundlichen Unterrichts an höheren Schulen weiterzutreiben. Aufgabe war, Daten für eine ›Erfolgskontrolle‹ zu ermitteln: Einsicht in die Bedingungen zu geben, von denen eine politische Bildung abhängt, die erreicht, was sie soll, und schließlich die Resultate gesellschaftlich zu reflektieren. Durchgeführt wurden die Forschungen im Rahmen der bildungssoziologischen Arbeit des Instituts für Sozialforschung.
Die Studie nimmt einige Motive aus früheren Studentenuntersuchungen auf und verbindet sie mit Fragestellungen der Bildungssoziologie. Während »Student und Politik«** sich auf die Analyse des politischen Bewußtseins der Studierenden und der gesellschaftlichen Bedingungen von Beteiligung an Politik konzentrierte, sind bei Teschner die Bedingungen der politischen Bildung an den Gymnasien thematisch. Wie sie wirkt, wird an ihren Resultaten überprüft, den politischen Vorstellungen und Haltungen der Schüler und ihren institutionellen und personellen Voraussetzungen, der Unterrichtspraxis der Lehrer und deren Einstellung zum Fach Sozialkunde. Späteren Studien des Instituts über den politischen Unterricht an Volks-, Mittel- und Berufsschulen diente die Teschnersche als Vorbild; in ihr wurden die Instrumente und die analytischen Kategorien entwickelt, die modifiziert in die darauffolgenden eingingen.
Nicht beschwichtigt wird der Zweifel daran, daß politische Bildung an den Gymnasien ihre Absicht bislang nur unvollkommen erfüllt. Den Resultaten zufolge ist die Mehrheit der Schüler politisch desinteressiert, wenig informiert, und nur eine Minderheit hat dezidiert demokratische Auffassungen. Die Lehrer, politisch meist wenig engagiert und unzulänglich ausgebildet, verfügen nicht über angemessene Kategorien zur Interpretation politischer Vorgänge, um das Interesse der Schüler zu wecken. Da die Erhebungen schon einige Jahre zurückliegen, setzen derlei Befunde dem Einwand sich aus, sie würden der heutigen Situation nicht mehr gerecht. Das gilt allenfalls für die Ergebnisse der Schülerbefragung; nicht für die Analyse des Unterrichts. Wie neuere repräsentative Umfragen zeigen, besteht bei der Mehrheit der Jugendlichen, vor allem bei Oberschülern und Studenten, ein hoher Grad an Bereitschaft, sich an Demonstrationen und politischen Protesten zu beteiligen. Offensichtlich vollzogen sich während des letzten Jahres erhebliche Veränderungen in der Einstellung der Jugendlichen zur Politik. Gewiß ist freilich, daß diese Veränderungen nicht auf den politischen Unterricht in der Schule zurückzuführen sind.
Warum er bislang nur geringe Erfolge zeitigte, wird von Teschner dargelegt. Vor allem krankt die übliche Unterrichtspraxis daran, daß sie politische Phänomene aus ihrem gesellschaftlichen und historischen Zusammenhang löst, auf das Handeln von Einzelnen reduziert und ihren Bezug auf sogenannte individuelle Werte für Erklärungen hält. Kontroverse Themen werden ausgespart, Denkschemata aus dem Alltag mischen sich mit naiv-statischen Vorstellungen von der ›Natur des Menschen‹. Ein dergestalt entpolitisierter Unterricht wird leicht von Lehrern, die einer mittelständischen Ideologie anhängen, konservativ gesteuert. Das vorkritische Bewußtsein der Lehrer reproduziert sich in den Antworten ihrer Schüler. Politische Bildung solchen Stils schafft schwerlich mündige Staatsbürger; sie vermag nicht den engen Gesichtskreis der Schüler zu durchbrechen und sie zu eigenen spontanen Erfahrungen zu befähigen.
Teschners Analyse macht den inneren Zusammenhang zwischen Schule und Gesellschaft, die Übereinstimmung des vermittelten politischen Bewußtseins mit bestimmenden gesellschaftlichen Tendenzen transparent. Zugleich zeigt sie, daß die Chancen für eine wirksame politische Bildung größer sind, als gemeinhin, auch von den Lehrern, angenommen wird. Aus dem empirischen Material ergab sich, daß die vorgefundenen Differenzen in den Kenntnissen und Auffassungen der Schüler von der Art des erteilten Unterrichts verursacht sind; als die ›besten Klassen‹ erwiesen sich die mit einem soziologisch orientierten Unterricht, will sagen, einem, der sich nicht auf die Übermittlung der Kenntnis formaler Ordnungen und Verfahrensregeln beschränkt, sondern auf das lebendige gesellschaftliche Kräftespiel eingeht, das in den politischen Phänomenen sich ausdrückt. Die Folgerung, daß nur eine stärker sozialwissenschaftliche Ausrichtung der politischen Bildung Erfolg verspricht, drängt sich auf. Sie wird von Teschner in einem besonderen Kapitel diskutiert und präzisiert. Politische Bildung muß Motive der Ideologiekritik aufnehmen. Sie vermag die Kruste von Gleichgültigkeit und Desinteresse zu durchbrechen, wenn es ihr gelingt, politische Vorgänge auf die Struktur der sie tragenden Interessen zu beziehen und einen einsichtigen Zusammenhang herzustellen zwischen dem Zustand des Gemeinwesens und den persönlichen Belangen des Einzelnen. Die Hemmnisse der politischen Bildung erblickte die Pädagogik bisher meist in spezifisch deutschen obrigkeitsstaatlichen Traditionen oder auch einfach im allgemeinen Wohlstand. Indem Teschner aufzeigt, daß weder das eine noch das andere zutrifft, eröffnet er die Perspektive eingreifender Korrektur. Sie fügt der bestätigten Erkenntnis sich ein, daß politisch aufgeklärtes Bewußtsein abhängt von jener geistigen Autonomie, die herzustellen der allein legitime Sinn jeglicher Bildung ist.
Fußnoten
* Von Adorno und Ludwig von Friedeburg unterzeichnet.
** Vgl. Jürgen Habermas, Ludwig von Friedeburg, Christoph Oehler, Friedrich Weltz, Student und Politik. Eine soziologische Untersuchung zum politischen Bewußtsein Frankfurter Studenten. Neuwied 1961.