Glosse über Sibelius
Wer in der deutschen oder österreichischen Musiksphäre aufgewachsen ist, dem sagt der Name Sibelius nicht viel. Wenn er ihn nicht geographisch mit Sinding, phonetisch mit Delius verwechselt, so ist er ihm gegenwärtig als Autor der Valse triste, eines harmlosen Salonstücks, oder es sind ihm im Konzert einmal Füllnummern wie die Okeaniden und der Schwan von Tuonela begegnet – kürzere Programmusiken von etwas vager Physiognomie, auf die sich zu besinnen schwer fällt.
Kommt man nach England oder gar nach Amerika, so beginnt der Name ins Ungemessene zu wachsen. Er wird so häufig genannt wie der einer Automarke. Radio und Konzert hallen von den Tönen aus Finnland wider. Toscaninis Programme sind Sibelius offen. Es erscheinen lange Essays, gespickt mit Notenbeispielen, in denen er als der bedeutendste Komponist der Gegenwart, als echter Symphoniker, als überzeitlich Unmoderner und schlechterdings als eine Art Beethoven gepriesen wird. Es gibt eine Sibeliusgesellschaft, die seinem Ruhm dient und sich damit befaßt. Grammophonaufnahmen seines œuvres an den Mann zu bringen.
Man wird neugierig und hört sich einige der Hauptwerke, etwa die vierte und fünfte Symphonie an. Zuvor studiert man die Partituren. Sie sehen dürftig und böotisch aus, und man meint, das Geheimnis könne sich nur dem leibhaften Hören erschließen. Aber der Klang ändert nichts am Bild.
Das sieht so aus: es werden, als »Themen«, irgendwelche völlig unplastischen und trivialen Tonfolgen aufgestellt, meistens nicht einmal ausharmonisiert, sondern unisono mit Orgelpunkten, liegenden Harmonien und was sonst nur die fünf Notenlinien hergeben, um logischen akkordischen Fortgang zu vermeiden. Diesen Tonfolgen widerfährt sehr früh ein Unglück, etwa wie einem Säugling, der vom Tisch herunterfällt und sich das Rückgrat verletzt. Sie können nicht richtig gehen. Sie bleiben stecken. An einem unvorgesehenen Punkt bricht die rhythmische Bewegung ab: der Fortgang wird unverständlich. Dann kehren die simplen Tonfolgen wieder; verschoben und verbogen, ohne doch von der Stelle zu kommen. Diese Teile gelten den Apologeten für beethovenisch: aus dem Unbedeutenden, Nichtigen eine Welt schaffen. Aber sie ist derer würdig, in der wir leben: roh zugleich und mysteriös, abgegriffen und widerspruchsvoll, altbekannt und undurchsichtig. Wieder sagen die Apologeten, das eben bezeuge die Inkommensurabilität des formschaffenden Meisters, der keine Schablonen gelten lasse. Aber man glaubt dem die inkommensurablen Formen nicht, der offensichtlich keinen vierstimmigen Satz auszumessen vermag: man glaubt dem nicht die Überlegenheit über die Schule, der mit schülerhaftem Stoff operiert, nur daß er ihn nicht nach der Regel zu handhaben weiß. Es ist die Originalität der Hilflosigkeit: vom Schlag jener Amateure, die fürchten, Kompositionsstunden zu nehmen, um nicht ihr Eigentümliches zu verlieren, das selbst nichts ist als der desorganisierte Rückstand dessen, was vor ihnen war.
Über Sibelius als Komponisten wären so wenig Worte zu verlieren wie über solche Amateure. Er mag sich um die musikalische Kolonisierung seines Heimatlandes erhebliche Verdienste erworben haben. Man kann sich gut vorstellen, daß er nach seinen deutschen Kompositionsstudien dorthin mit berechtigten Inferioritätsgefühlen zurückkam, wohl bewußt der Tatsache, daß ihm weder einen Choral auszusetzen, noch einen ordentlichen Kontrapunkt zu schreiben vergönnt war; daß er sich ins Land der tausend Seen vergrub, um vor den kritischen Augen seiner Schulmeister geborgen zu sein. Wahrscheinlich war keiner erstaunter als er zu entdecken, daß sein Versagen als Gelingen, sein Nicht-Können als Müssen gedeutet wurde. Schließlich hat er es wohl selbst geglaubt und brütet nun jahrelang über der achten Symphonie, als ob es die Neunte wäre.
Von Interesse ist die Wirkung. Wie ist es möglich, daß ein Autor Weltruhm und eine wie immer auch manipulierte Klassizität erlangt, der nicht bloß hinter dem technischen Standard der Zeit völlig zurückgeblieben ist – denn das wird ihm gerade als Verdienst angerechnet –, sondern der dem eigenen Standard keineswegs gewachsen sich zeigt und von den herkömmlichen Mitteln, vom Baumaterial bis zur großen Konstruktion, unsicheren, ja stümperhaften Gebrauch macht? Der Erfolg von Sibelius ist ein Störungssymptom des musikalischen Bewußtseins. Das Erdbeben, das in den Dissonanzen der großen neuen Musik seinen Ausdruck fand, hat die altmodische kleine nicht verschont. Sie ist rissig und schief geworden. Aber während man vor den Dissonanzen flüchtet, hat man bei den falschen Dreiklängen Zuflucht gesucht. Die falschen Dreiklänge: Strawinsky hat sie auskomponiert. Er hat durch hinzugesetzte falsche Noten demonstriert, wie falsch die richtigen geworden sind. Bei Sibelius klingen schon die reinen falsch. Er ist ein Strawinsky wider Willen. Nur hat er weniger Talent.
Davon wollen seine Anhänger nichts wissen. Ihr Lied hört auf den Refrain: »'s ist alles Natur, 's ist alles Natur.« Der große Pan, je nach Bedarf auch Blut und Boden, stellt prompt sich ein. Das Triviale gilt fürs Ursprüngliche, das Unartikulierte für den Laut der bewußtlosen Schöpfung.
Kategorien solcher Art weichen der Kritik aus. Daß die Naturstimmung ans ehrfürchtige Schweigen gebunden sei, ist die herrschende Überzeugung. Aber wenn der Begriff der Naturstimmung schon in der Realität nicht unbefragt passieren dürfte, dann gewiß nicht in Kunstwerken. Symphonien sind keine tausend Seen: auch wenn sie tausend Löcher haben.
Für die Darstellung von Naturstimmungen hat die Musik einen technischen Kanon ausgebildet: den des Impressionismus. Im Gefolge der französischen Malerei des neunzehnten Jahrhunderts hat Debussy Verfahrungsweisen entwickelt, den Ausdruck und das Ausdruckslose, die Belichtung und die Schattierung, das Bunte und das Verdämmernde der sichtbaren Welt in Klängen zu bergen, hinter denen das poetische Wort zurückbleibt. Diese Verfahrungsweisen sind Sibelius fremd. Car nous voulons la Nuance encor – das klingt wie Hohn auf das stumpfe, steife und zufällige Orchesterkolorit. Es ist keine Musik en plein air. Sie spielt in einer unordentlichen Schulstube, wo während der Pause die Halbwüchsigen ihre Genialität unter Beweis stellen, indem sie die Tintenfässer ausgießen. Keine Palette: alles nur Tinte.
Auch daraus wird ihm ein Verdienst gemacht. Nordische Tiefe soll sich zwar einerseits mit der bewußtlosen Natur intim einlassen, andererseits aber nicht frivol an deren Reizen freuen. Es ist eine verkniffene Promiskuität im Dunkeln. Die Askese der Impotenz wird als Selbstzucht des Schöpfers zelebriert. Wenn er es mit der Natur hat, dann bloß innerlich. Sein Reich ist nicht von dieser Welt. Es ist das der Emotionen. Ist man einmal bei diesen angelangt, so ist man jeglicher weiteren Rechenschaft enthoben. Läßt sich der Inhalt der Emotionen so wenig bestimmen wie ihr Grund in den musikalischen Ereignissen selber, so gilt das als Index ihrer Tiefe.
Er ist es nicht. Die Emotionen sind bestimmbar. Freilich nicht, wie es ihnen passen könnte, nach ihrem metaphysischen und existentiellen Gehalt. Den haben sie so wenig wie die Sibelius'-schen Partituren. Aber nach dem, was in den Partituren sie auslöst. Es ist die Konfiguration des Banalen und des Absurden. Alles Einzelne klingt alltäglich und vertraut. Die Motive sind Bruchstücke aus dem kurrenten Material der Tonalität. Man hat sie so oft schon gehört, daß man sie zu verstehen meint. Aber sie sind in einen sinnlosen Zusammenhang gebracht: wie wenn man die Worte Tankstelle, Lunch, Tod, Greta, Pflugschar mit Verben und Partikeln wahllos zusammenkoppelt. Ein unverständliches Ganzes aus den trivialsten Details produziert das Trugbild des Abgründigen. Man freut sich, daß man immerzu verstehen kann, und freut sich mit gutem Gewissen, indem man merkt, daß man eigentlich nichts versteht. Oder: das vollkommene Nichtverstehen, das die Signatur des gegenwärtigen musikalischen Bewußtseins ausmacht, hat seine Ideologie am Schein der Verständlichkeit, den die Sibelius'schen Vokabeln hervorbringen.
In den Widerständen gegen die vorgeschrittene neue Musik, in dem hämischen Haß, mit dem man sie diffamiert, tönt nicht bloß die herkömmliche und allgemeine Aversion gegen das Neue, sondern die spezifische Ahnung, daß die alten Mittel nicht mehr ausreichen. Nicht daß sie »erschöpft« wären: mathematisch lassen gewiß die tonalen Akkorde noch ungezählte neue Kombinationen zu. Aber sie sind scheinhaft und unecht geworden: sie dienen zur Verklärung einer Welt, an der nichts mehr zu verklären ist, und keine Musik hat mehr den Anspruch, geschrieben zu werden, die nicht den kritischen Angriff aufs Bestehende bis in die innersten Zellen ihres technischen Verfahrens vortrüge. Dieser Ahnung hofft man durch Sibelius auszuweichen. Das ist das Geheimnis seines Erfolgs. Die Absurdität, die die wahrhaft depravierten Mittel der traditionell-nachromantischen Musik in seinen Werken durch unzulängliche Handhabung annehmen, scheint sie aus ihrem Verfall herauszuheben. Daß man fundamental altmodisch und dennoch ganz neu komponieren könne: das ist der Triumph, den der Konformismus im Angesicht von Sibelius anstimmt. Sein Erfolg ist äquivalent der Sehnsucht, daß die Welt von ihren Nöten und Widersprüchen geheilt, »erneuert« werden könne und man doch behalte, was man besitzt. Was es mit solchen Erneuerungswünschen und ebenso was es mit der Sibelius'schen Originalität auf sich habe, das jedoch kommt zutage durch deren Sinnlosigkeit. Sie ist keine bloß technische: so wenig ein sinnleerer Satz bloß »technisch« sinnleer ist. Sie klingt absurd, weil der Versuch, mit den alten und verfallenen Mitteln Neues auszusprechen, selber absurd ist. Ausgesprochen wird überhaupt nichts.
Es ist, als ob bei dem bodenständigen Finnen alle die Einwände ihr Recht fänden, welche die Reaktion gegen den musikalischen Kulturbolschewismus geprägt hat. Wenn Reaktionäre sich vorstellen, daß die neue Musik ihr Dasein der mangelnden Verfügung über das Material der alten verdanke, dann trifft das auf keinen anderen zu als auf Sibelius, der sich ans Alte hält. Seine Musik ist in gewissem Sinn die einzig »zersetzende« aus diesen Tagen. Aber nicht im Sinn der Destruktion des schlechten Bestehenden, sondern dem der Calibanischen Zerstörung aller musikalischen Resultate der Naturbeherrschung, die sich die Menschheit teuer genug im Umgang mit der temperierten Skala erworben hat. Wenn Sibelius gut ist, dann sind die Maßstäbe der musikalischen Qualität als des Beziehungsreichtums, der Artikulation, der Einheit in der Mannigfaltigkeit, der Vielfalt im Einen hinfällig, die von Bach bis Schönberg perennieren. All das wird von Sibelius an eine Natur verraten, die keine ist, sondern die schäbige Photographie der elterlichen Wohnung. Zu seinem Teile trägt er in der Kunstmusik zum großen Verschleiß bei, in dem ihn doch die industrialisierte leichte spielend überbietet. Aber solche Destruktion maskiert sich in seinen Symphonien als Schöpfung. Ihre Wirkung ist gefährlich.