Offener Brief an Rolf Hochhuth
Sehr geehrter Herr Hochhuth,
Sie haben zu der Festschrift für Georg Lukács, die mir erst jetzt zu Gesicht kommt, einen Aufsatz1 beigesteuert, der wesentlich gegen mich polemisiert, vielleicht um mittelbar eine Kontroverse zwischen Lukács und mir fortzusetzen, die schon Jahre zurückliegt. »Unser modischer Chef-Theoretiker« – nach dem Zusammenhang muß ich vermuten, daß Sie damit mich meinen, obwohl ich nicht recht sehe, wer das Kollektiv sein soll, das in dem »unser« steckt. Eine Rolle dieser Art ist gemeinhin nur in totalitären Staaten vorgesehen; weder erhebe ich derlei Ansprüche, noch übe ich eine solche Wirkung aus: Mit der erweiternden Formel »seine Nachschreiber« bequemen Sie einem Cliché sich an, das meine philosophischen Intentionen neutralisieren will, indem Menschen, die bei mir allenfalls etwas gelernt haben, vorweg zu schwächlichen Imitatoren gestempelt werden; verdächtigt wird, was man sonst Philosophen ohne Zögern zubilligt, die Entstehung einer Schule. Aber nicht Gereiztheit deswegen veranlaßt mich, Ihnen zu antworten, sondern daß ich mich gründlich mißverstanden fühle und verzerrt, was ich denke. Strittig ist mehr als nur literarische Standpunkte.
Der Satz von Lukács, von dem Sie ausgehen: in der Literatur sei »der konkrete, der besondere Mensch das Primäre, der Ausgangs- und Endpunkt des Gestaltens«, dünkt mir nicht so selbstverständlich wie dem ungarischen Ästhetiker. Längst hat, auch in der Verfahrungsweise von Literatur, etwas wie die Ideologie des Besonderen sich formiert, eine Konzentration auf unverwechselbare Menschen, als ließe von ihnen noch so sich erzählen wie anno dazumal, während, nach Brechts Wort, das Wesentliche in die Funktionale rutschte. Lukács vergaß schwerlich, daß Hegel und Marx das Individuum nicht als Naturkategorie sondern als geschichtlich, nämlich vermöge der Arbeit erst Entspringendes bestimmten; das war das stärkste Motiv des Angriffs von Marx auf Feuerbach, gegen den er Hegel wieder zu Ehren brachte. Ist aber das Individuum ein Entsprungenes, so wacht keine Seinsordnung darüber, daß es nicht ebenso wieder vergehen könnte. Sperrt Lukács sich dagegen; erklärt er den besonderen Menschen zur Invariante der Literatur, so bezeugt das lediglich, daß im Bann einer zur Weltanschauung versteinerten Dialektik das dialektische Salz dumm ward. Bei Hegel heißt die Stufe der Individuation Selbstbewußtsein, weil Individualität nicht einfach das biologische Einzelwesen ist, sondern dessen durch Vernunft sich als ein Besonderes erhaltende Reflexionsform. In der großen Literatur fehlen nicht Belege dafür, daß der sich selbst bestimmende Einzelmensch keineswegs erst heute fragwürdig wurde.
Seine jüngste Krisis hat den Grund, daß die Qualitäten, welche die Gesellschaft einmal von ihm verlangte, womöglich die Kategorie des Qualitativen selber, durch die neuen Produktionsmethoden überflüssig werden; Horkheimer und ich haben, in mancherlei Varianten, das hervorgehoben. Daß die Menschen nach den Produktionsmethoden gemodelt werden, ist abscheulich, aber es ist so lange der Weltlauf, wie sie im Bann der gesellschaftlichen Produktion stehen, anstatt über diese zu gebieten. Da aber andererseits der Produktionsapparat nur um der Menschen willen da sein soll und zu seinem Zweck deren Befreiung, nämlich die von überflüssiger Arbeit hat, so wohnt dem Verfall von Individualität zugleich ein Widerspruchsvolles, wahrhaft Absurdes inne. Das nicht zuletzt zeitigt die von Ihnen wenig geliebte Literatur, für die das Wort absurd als Spitzmarke sich einbürgerte. Sie verkörpert ein richtiges Bewußtsein. Die Einsicht in das Zwangshafte eines Prozesses indessen ist nicht eins mit dessen Billigung. In diesem Entscheidenden haben Sie, verehrter Herr Hochhuth, mich schlicht mißverstanden. Verzeihen Sie mir, wenn ich, um Ihnen das zu zeigen, Eigenes zitiere, den letzten Satz der Arbeit über den Fetischcharakter in der Musik, die ich 1938 in der ›Zeitschrift für Sozialforschung‹ publizierte – sie ist wieder abgedruckt in den ›Dissonanzen‹. Dort habe ich gewisse anthropologische Erfahrungen zuerst angemeldet; ich wüßte an jenem Satz nichts zurückzunehmen: »Die kollektiven Mächte liquidieren ... die unrettbare Individualität, aber bloß Individuen sind fähig, ihnen gegenüber, erkennend, das Anliegen von Kollektivität noch zu vertreten.«2 Vorschlagen möchte ich, der Weisheit des Morgensternschen Überfahrenen, »daß nicht sein kann, was nicht sein darf«, nicht zu folgen, nicht Gedanken in Verruf zu bringen, die dem Bestürzenden sich stellen ohne den Trost, noch im äußersten Schrecken überlebe das Menschliche; gar zu leicht artet er in die Rechtfertigung jenes Schreckens aus. Mir will es scheinen, daß das, was Sie die »Rettung des Menschen« nennen – ich scheue vor der Formel zurück –, wofern es überhaupt möglich ist, voraussetzt, daß man das äußerste Unheil zu Ende denkt. An diesem hat auch das Individuum seine Schuld. Was heute über es ergeht, setzt seine Verhärtung und Kälte fort.
Sie sträuben sich heftig gegen die Annahme, »daß der Mensch in der Masse kein Individuum mehr sei«, so als ob, wer darauf deutet, dazu beitrüge, während die Entwicklung es dahin brachte. Ihnen, dem Künstler, ist aber fraglos eine Erfahrung offen, die Ihnen anmeldet, welche Bewandtnis es mit dem Individuum heute hat. Der Satz Rilkes vom eigenen Tod, auf den Sie sich berufen, ist zum blutigen Hohn auf die geworden, welche in den Lagern ermordet wurden oder in Vietnam fallen. Die Äußerungen von mir, die Sie schockieren, möchten die Opfer vor diesem Hohn behüten, nicht, wie Sie es mir zutrauen, die schmähen, welche der Weltlauf an der Individuation verhindert. Sie stellen sich immer noch vor, daß man eine faszinierende Szene aus Stalin und Truman in Potsdam machen könnte, die nur einige Nebensätze der Waffe des Genocids widmen, nachdem der Tenno die Kapitulation seit zehn Tagen angeboten hat. Beiläufig werde der überflüssige Entschluß gefaßt, die Bombe über Hiroshima abzuwerfen. Ich kann mir nicht helfen: ich fände diese Szene auf dem Theater nicht faszinierend, sondern eher das, wofür der amerikanische Slang über das Wort phoney verfügt, das die Worte hohl oder scheinhaft nur unvollkommen übersetzen. Vor vielen Jahrzehnten, schon vor dem Ausbruch des Faschismus, hat Ortega y Gasset beobachtet, Weltgeschichte werde um ihrer eigenen Publizität willen eigentlich nur noch gespielt, und Karl Kraus erkannte in den ›Letzten Tagen der Menschheit‹ das ganze Grauen darin, daß die gespielte Geschichte das Allerrealste ist und womöglich den Menschen noch Ärgeres antut als früher die minder veranstaltete. Hitler war ein Schmierenkomödiant der Untaten, die er beging, und gar kein Individuum. Lassen Sie mich noch einmal zitieren, diesmal aus der ›Dialektik der Aufklärung‹, die Horkheimer und ich 1947 veröffentlichten: »Zur Kultur der Stars gehört als Komplement der Prominenz der gesellschaftliche Mechanismus, der, was auffällt, gleichmacht, jene sind nur die Schnittmuster für die weltumspannende Konfektion und für die Schere der juristischen und ökonomischen Gerechtigkeit, mit der die letzten Fadenenden noch beseitigt werden.«3 Solche Schnittmuster sind vollends Diktatoren auf der Bühne. Brecht hatte schon einen richtigen Instinkt, als er in ›Furcht und Elend des Dritten Reiches‹ dessen Unwesen an den Bevölkerungen zeigte, nicht an den Herren. Dafür mußte er das traditionelle Pathos der Tragödienform preisgeben und zur Episode greifen, vielleicht auf Kosten des eigentlich Dramatischen, Konsequenz der phoneyness, die des Subjekts sich bemächtigt hat, seines gesellschaftlichen Scheins. Nur ist Brecht, indem er das politische Drama von dessen Subjekten auf die Objekte verschob, vermutlich noch nicht weit genug gegangen. Sie sind unvergleichlich mehr zu Objekten geworden, als er es sichtbar werden läßt. Unter diesem Aspekt sind die Beckettschen Menschenstümpfe realistischer als die Abbilder einer Realität, welche diese durch ihre Abbildlichkeit bereits sänftigen.
Was mich bei Stücken über die Prominenz von heutzutage am meisten irritiert, ist, daß sie stillschweigend nach den Gebräuchen der Kulturindustrie sich richten, welche Prominenz als Kriterium des Wesenhaften und für die Menschen Wichtigen unterschiebt. Zwischen Soraya, Beatrix und den tatsächlich mächtigen Spitzen aller erdenklichen Organisationen ist dabei schon gar kein so großer Unterschied mehr. Überall wird personalisiert, um anonyme Zusammenhänge, die den theoretisch nicht Gewitzigten nicht länger durchschaubar sind und deren Höllenkälte das verängstigte Bewußtsein nicht mehr ertragen kann, lebendigen Menschen zuzurechnen und dadurch etwas von spontaner Erfahrung zu erretten; auch Sie sind nicht anders verfahren. Daß immer noch spontan Handelnde existieren, und ihre Darstellung, durch die ihrem Handeln entscheidender Einfluß bestätigt wird, ist aber zweierlei. Wollte man dagegen das Grauen an den Opfern darstellen, so überhöht es sich, ohne Durchblick auf die Machtverhältnisse, die es bedingen, in unausweichliches Schicksal; irre ich nicht, so hat das Sie zur Stoffwahl Ihrer Stücke gebracht. Aus dem Schreckenszirkel führt nichts hinaus. Es liegen dafür gleichsam experimentelle Proben vor. Menschen guten Willens haben versucht, dem Unheil zu widerstehen, indem sie an Prominente, wirkliche Schlüsselfiguren der Katastrophen oder jenen Nahestehende, Hilfe heischend sich wandten; wenn ich recht sehe, sind diese Versuche gescheitert. Dem Künstler, der weder dem Äußersten sich entziehen noch es gestalten kann, bleibt wohl nichts übrig, als bei den Opfern anzusetzen, ihre Darstellung jedoch den gewohnten Wirkungszusammenhängen des mittleren Lebens so fern zu rücken, daß an ihnen das Äußerste aufginge, ohne daß es thematisch würde; fast wagt Scham kaum es zu nennen. Das von Ihnen geforderte realistische Theater und die Absurdität mögen tatsächlich, wie es bei Ihnen durchscheint, konvergieren. Daß das allerdings gelinge, dazu bedarf es wirklich schon des Guernicabildes oder des Schönbergschen ›Überlebenden von Warschau‹ Keine traditionalistische Dramaturgie von Hauptakteuren leistet es mehr. Die Absurdität des Realen drängt auf eine Form, welche die realistische Fassade zerschlägt.
Hinter Ihrem Widerwillen gegen Massenverachtung bleibe ich nicht zurück. Keiner darf sich selbst, in elitärem Hochmut, der Masse entgegensetzen, deren Moment auch er ist. Als Gegenbegriff jedoch reicht der des Einzelnen nicht aus. Inhuman, finden Sie, sei es von mir gewesen, zu schreiben: »Bei vielen Menschen ist es schon eine Unverschämtheit, wenn sie Ich sagen.«4 Haben Sie denn wirklich nicht gemerkt, oder wollen Sie es gewaltsam nicht merken, daß damit nicht die zur Unmündigkeit Verhaltenen angeklagt sind sondern jener Machthaber, der schrieb »Ich beschloß, Politiker zu werden«, oder der Babbit, der über ein großes Kunstwerk zu urteilen meint mit dem Satz: »I like it«.
Ob, wie es Ihre Ansicht ist, das Theater am Ende wäre, wenn es je zugäbe, daß der Mensch in der Masse kein Individuum mehr sei, weiß ich nicht. Als ich vor fünfzehn Jahren Gides Dramatisierung des Kafkaschen Prozesses angriff, dachte ich ähnlich; unterdessen habe ich an späterer dramatischer Produktion gelernt, daß das Drama seine eigene Voraussetzung, die Freiheit des Subjekts, überleben, daß es dessen Niedergang ebenso darstellen kann und wohl muß, wie es einmal, in Athen, den Ursprung der Individualität, die dem Mythos sich entringt, behandelte. Aber hätten Sie selbst recht; wäre kein Drama mehr möglich, so dürfte man kaum den eingreifendsten Erfahrungen ausweichen, damit ja noch Drama sei. Gerade Sie, der das Ethos des Dramas so sehr urgiert, müßten darin mir zustimmen. Statt dessen proklamieren Sie: »Der Mensch ändert sich nicht von Grund auf. Eine Epoche, die das behauptet, nimmt sich zu ernst.« Der Glaube an die Unveränderlichkeit der Menschennatur ist aber, wie ein Blick auf die Vulgärsoziologie und -pädagogik von heutzutage Ihnen bestätigen würde, mittlerweile zu einem Stück eben der Ideologie geworden, gegen die Ihre Dramatik angeht. Auf Ihren Vorwurf, eine Epoche nähme sich zu ernst, welche eine »Veränderung von Grund auf« annimmt, entgegne ich, daß ein Ethos, das solcher Veränderung sich sperrt, nicht ernst genug ist. Mit einer der Thesen, die das Unauslöschliche der Individualität verteidigen sollen, geraten Sie in eben die Sphäre, der Ihr eigener Abscheu gilt: »Ein Snob, der übersieht, daß auch die Fabrikarbeiterin und ihre Geschwister, die nie ein Buch lesen, mehr sind und bleiben als ein großgezogener Wurf aus der Mietskaserne, nämlich Menschen mit ganz persönlichen Konstellationen, der soll nicht lamentieren, wenn er selbst von jenen, die den Terror durchs Megaphon anweisen, eines Tages der Anonymität und Numerierung überantwortet wird, weil die Schurken sich nur zu gern einreden ließen, ihre Opfer hätten kein Gesicht mehr, sie seien nur Stimmvieh und in geringerem Maße noch Einzelwesen als etwa die Städter des Mittelalters, denen nicht das Fernsehen, sondern der Pastor alltäglich in den Ohren lag.« Überhören denn wirklich Ihre Ohren, wie sehr das Schimpfen auf den Snob, der sich für etwas Besseres halte, jener Art Volksgemeinschaft in allen Ländern Zuspruch spendet, die über den Abweichenden herfallen möchte, der vermutlich noch am ehesten Ihrem Begriff vom Individuum entspricht, aber ex lex sein soll, weil er ausplaudert, was die offizielle Ideologie verschleiert und rechtfertigt? Sagt Ihnen Ihre geschichtliche Einsicht, die sich doch sonst von Illusionen freizumachen trachtet, nicht, daß unterm Faschismus die Berufung auf die unverlierbaren Werte des Individuums, die gegen die Vermassung zu schützen seien, mit der Praxis jener Vögte sich vortrefflich verstand, in deren Vokabular »einen fertig machen«, die Gleichmacherei zum Tode, ihren hervorragenden Platz besetzte? Was sie heute Vermassung nennen – ich selbst habe das Wort nie anders denn als Kritiker seines Gebrauchs verwandt –, wird den Massen von den sauberen Cliquen und Individuen angetan, die sie verwalten und dann als Masse schelten. Jede Zeile von mir meint den Widerstand dagegen. Ich möchte Ihnen nicht unterstellen, daß Sie mich mit dem massenfeindlichen Snob verwechselten; wer immer es aber sein soll, ich beneide Sie nicht um die Drohung, die Sie, offenbar nicht ganz ohne Genugtuung, ihm angedeihen ließen: er solle nicht lamentieren, wenn er selber, nach Ihren Worten, der Anonymität und Numerierung überantwortet wird, als ob wirklich er den Schurken eingeredet hätte, ihre Opfer wären keine Menschen mehr, während er nur, im Entsetzen davor, das Einverständnis zwischen dem Terror der Schurken und der Tendenz der Geschichte erkannte, welche die Menschen zu solcher Anonymität verdammt. Indem Sie um der Humanität willen sich dagegen verschließen, was aus dieser geworden ist – Valéry sah längst vor Auschwitz, die Inhumanität habe eine große Zukunft –, –, nähern Sie sich dem Inhumanen. Darauf möchte ich Sie nicht rhetorisch aufmerksam machen, sondern weil Humanität Sie dann wahrscheinlich doch in Ihrem Vertrauen auf die Unverlierbarkeit von Humanität beirrt. Daß es freilich im Mittelalter, in den von Lukács einstmals als sinnerfüllt gepriesenen Zeiten, nicht soviel besser bestellt war als heute; daß am Ende das Individuum nur deshalb zugrunde geht, weil seine Freiheit die ganze Geschichte hindurch mißlang, ist wohl wahr. Tatsächlich erhält eine Ontologie sich die Geschichte hindurch, die der Verzweiflung. Ist sie aber das Perennierende, dann erfährt das Denken jede Epoche, und zuvor die eigene, von der es unmittelbar weiß, als die schlimmste.
Ihr Theodor W. Adorno
Fußnoten
1 Vgl. Rolf Hochhuth, Die Rettung des Menschen, in: Festschrift zum achtzigsten Geburtstag von Georg Lukács, hrsg. von Frank Benseler, Neuwied, Berlin 1965, S. 484.
2 Theodor V. Adorno, Dissonanzen. Musik in der verwalteten Welt, 3. Ausg., Göttingen 1963, S. 45 [GS 14, s. S. 50].
3 Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Amsterdam 1947, S. 282 [GS 3, s. S. 270].
4 Theodor W. Adorno, Minima moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1962, S. 57 [GS 4, s. S. 55]..