Musik im Hintergrund
In unserem unmittelbaren Leben ist kein Platz mehr für Musik. Wer, als Einzelner, auf der Straße laut singen wollte, der liefe Gefahr, als Störer der Ordnung festgenommen zu werden; wer stumm in sich hineinsummt, abgezogen vom Auswendigen, der kann mit jedem Augenblick in ein Auto laufen; und wie traurig verkrampft schauen nicht die drei Wandervögel aus, die sich auf den Marktplatz stellen und zu falschen Gitarrenakkorden singen, als wären sie fahrende Spielleute, sie, die Unterprimaner. Einzig die politische Aktion vermag vielleicht für kurze Stunden die Wirklichkeit des Gesanges leibhaft zu entbinden. Weit sind wir von Neapel, nicht bloß dem Raum sondern auch der Zeit nach; wenn dort noch alle Rede zum Gesang hinüberschwingt, wenn der Früchtehändler, der sein Gut auf heidnischem Altar-Wagen mit sich führt, davor Hymnen singt, so sind bei uns die Straßenverkäufer längst wandelnde Plakate geworden. Wer Musik will, muß hinaustreten aus dem Raum des unmittelbaren Lebens, weil es keines mehr ist, und die verlorene Unmittelbarkeit sich holen, wo sie Entree kostet, in der Oper, im Konzert.
Dennoch ist sie nicht ganz vernichtet. Gewiß, Drehorgeln und Hofmusikanten sind archaische Reste; sie haben ihr eigenes Gesetz und ihre eigene Geschichte, quer genug zur Gesellschaft, und ihre obskure Existenz zählt für diese nicht. Die Inseln der Hausmusik liegen schon nahe am schimmernden Eismeer der bewußten Kunstübung. Bleibt die vertriebene Musik selber, gedrängt an den Rand des Daseins, dort aber treu beharrend: Musik als Hintergrund.
Es ist, nach dem Tode des stummen Films und seiner Trösterin, des Kino-Orchesters, die Musik der Caféhäuser oder, wie man heute kultisch es zu nennen liebt, der Vergnügungsgaststätten. Sie hat die Radios überstanden, auch ohne äußerliche Nachhilfe; allemal sind Lokale mit eigener Kapelle besser besucht als solche mit bloßem Lautsprecher. Sie kostet den Hörer kein Geld; das ist in die Preise des Kaffees, der Schokolade, des Wermuths einkalkuliert, kaum merkt er wie; wenn er es selbst bemerkt, fühlt er sich gehoben als Besucher der teuren Stätte. Die Musik gehört dazu; verscheucht zwar von der Straße, doch nicht weitab in der Distanz geprägter Kunst, sondern die Anwesenden begleitend, die Müden beim anspornenden Getränk, die Geschäftigen bei der Verhandlung, auch die Zeitungsleser; auch die Flirtenden, wenn es die noch gibt.
Vorab bezeichnet es die Hintergrund-Musik, daß man nicht zuzuhören braucht. Keine Stille legt sich als Isolierschicht darum; sie sickert ins Gesumm der Gespräche. Schmettert ein unseliger Tenor seine italienischen Kanzonetten, empfindet man ihn als zudringlich. Das Schweigen hält nur die paar Sekunden bis zur nächsten Bestellung. Kunstverständige, die pst rufen – hier enthüllen sie unerbittlich sich als komisch.
Im Piano will die Musik ganz verschwinden. Dann wird das Klappern der Löffel und Tassen vernehmbar, verschmilzt mit dem Glockenspiel, vielleicht dem hohen Klavier; verloren fallen die Phrasen des Cellos herab. Im Forte steigt die Musik als Rakete hoch, und ihre Bögen überglänzen die Zuhörer, ehe sie wieder verlassen dasitzen, im Grau ihrer Zigarettenwolken. Sie sind kein Publikum. Kaum je wird einer über die Qualität der gebotenen Musik urteilen. Sie sind auch nicht musikalisch gestimmt. Die Musik trifft kaum ihre inwendigen Regungen. Vielmehr: sie ist ein objektiver Vollzug zwischen, über ihnen. Die Kälte von Tisch zu Tisch; die Fremdheit zwischen dem jungen Herrn und dem unbekannten Mädchen gegenüber, das auf seine Blicke wartet, um beleidigt sein zu dürfen: das wird von der Musik beileibe nicht aufgehoben, aber aufgefangen und gebunden. Der Herr wird gewiß nicht wagen, das Mädchen anzusprechen, hier, in der teuren Vergnügungsstätte. Aber Kälte, Begier, Fremdheit der Nähe zwischen den beiden, die Musik versetzt es mit jäher Geste in die Sterne, wie den Namen der verlassenen Ariadne. Die Angeredeten selber brauchen keine Notiz davon zu nehmen. Sobald es zu laut wird, entziehen sie ihre Leiber dem astralen Vollzug mit dem Ruf: Kellner, zahlen! und schlagen ans Glas mit dem Löffel. Das ist aber zugleich der Klang der Café-Musik.
Hat einmal einer diesen Klang abgehört? Kenner wissen zu unterscheiden zwischen Pariser Besetzung, Salonbesetzung und mancher anderen. Die Unterschiede sind recht interner Art. Der Klang ist gemeinsam: Hindemith hat ihm in der ersten Donaueschinger Kammermusik sein würdiges Denkmal gesetzt. Von Orchester kann keine Rede sein; die Unendlichkeit der chorischen Streicher, die Holzbläserfarben, die Resonanz des Blechs fehlen. Also Kammermusik, denkt man und wird sofort der Unmöglichkeit inne. Hier gibt es nicht das verschlungene Spiel wechselnd hervortretender Instrumente. Es gibt bloß Oberstimmenmelodik: der Solist präsentiert sich als ›Stehgeiger‹. Das Klavier ist nicht kammermusikalisch als Klavier gesetzt; es ist der ›Conductor‹, mit Fundament und Harmonie, vielleicht der letzte Erbe des ausgeführten Generalbasses in der europäischen Musik. Dieser aufgemachte Klang hat etwas glanzvoll Schäbiges. Er ist bunt wie Flitter; aber er zerreißt in der Hand. Er will Orchester vorstellen und ist doch vom Klavier beherrscht; kaum anderswo wird der Forderung des ›Materialgerechten‹ heute noch so unbedenklich gespottet wie hier. Er posiert, als Stefanie-Gavotte, kammermusikalische Finessen: und meint doch nur den Stehgeiger, denn die Pizzicati gehen verloren. Nirgends ist die Musik so ganz Schein geworden wie im Café. Aber im Schein wird sie bewahrt. So emanzipiert von allem menschlichen Ernst und aller Echtheit der künstlerischen Gestalt muß sie wohl sein, um von den Menschen inmitten ihrer täglichen Verrichtung noch geduldet zu werden, ohne sie zu erschrecken; ihr Schein aber ist es, der ihnen leuchtet. Nein: der sie beleuchtet. Sie werden nicht anders darin, aber ihr Bild ändert sich. Es ist heller, schärfer, konturierter. Schweigt die Caféhausmusik, dann klingt es, wie wenn ein geiziger Kellner ein paar elektrische Birnen auslöscht. Die Hintergrund-Musik ist eine akustische Lichtquelle.
Für das Unechte, Scheinhafte an ihr ist das zuständige technische Wort: Arrangement. Es werden keine Originalkompositionen gespielt; kein Stück so, wie es gedacht ist; alles in Einrichtungen fürs Salonorchester, das sie verfälscht und verändert; das groß Geplante ins Intime mildert, das Zarte mit Tremolo und Vibrato aufbläht. Die Werke zerfallen darin, und zerfallene Werke, solche ehemals berühmter, dann abgesunkener Meister, sind zur Hintergrund-Musik die rechten. Frage nur, ob es beim Zerfall bleibt. Im Zerfall verstummen die Werke. Hier werden sie nochmals laut. Nicht freilich sie selber, in der gefügten Gestalt. Aber die Trümmer ihres Klanges sind aneinandergefügt zu einer zweiten, sonderbar transparenten Form. Das Klavier ersetzt nicht einfach die fehlenden Hörner; die Fülle von ehemals selber ist schäbig geworden und wird darum dem Klavier überantwortet. Der Primgeiger macht nicht die edle Melodie ordinär mit seiner solistischen Aufdringlichkeit; sie hat ihr Edles verloren und gibt darum dem Stehgeiger sich preis. Die wahrhaft Edle wird wie ein Stern aus dem Hintergrund herausleuchten: man hört sie als Musik.
Sonst aber arrangiert das Caféhaus Buketts aus toten Blumen. Die Fugen zwischen dem brüchigen Klang, zu dem sie geschichtet wurden, sind nicht fest geschlossen. Durch sie dringt der rätselvolle, allegorische Schein, der aufgeht, wann immer Fragmente des Gewesenen zur unsicheren Oberfläche sich vereinen. Was für den vertikalen Klang gilt, gilt nicht anders horizontal, für den Zeitverlauf. Die Cafés sind der Ort der Potpourris. Sie sind aus den Scherben des Werkes: ihren beliebtesten Melodien gebildet. Aber sie erwecken die Trümmer zum zweiten, schemenhaften Leben. Verharrt unsere Kunstmusik im tröstenden Reiche des Orpheus – hier tönt ihr Echo aus Eurydikens Trauerregion. Ihr Glanz ist unterweltlich. Sie darf unbemerkt bleiben, weil sie unwirklich ist. Aber es ist kein schwarzer Schatten, sondern ein heller; wie Milchglas. Es läßt sich durch diese Musik gleichsam vag hindurchhören, hinüber in den nächsten Saal. Darum leuchtet sie.
Man sollte denken, Musik im Hintergrund, unbemerkte Musik müsse nicht anders sich geben denn als Begleitung: wie die guten Ballettmusiken, im Gegensatz zu Pantomimen, Rhythmen, Farben, Klänge beistellen und die Melodie aussparen für den Tanz oben auf der Szene. Aber weit gefehlt. Da im Café ja die Melodien als Gespenster umgehen, ist von ihnen keine Störung zu befürchten, und sind sie noch so sehr da; denn sie werden zitiert aus der unbewußten Erinnerung der Hörer, nicht ihnen vorgestellt. Je größer die Ekstasen, um so vollkommener die Seelenruhe derer, über denen sie verpuffen. Es gibt Meister – wahrhaft Meister –, deren Größe erst in dieser sonderbaren Versetzung des leidenschaftlichen Scheins ins kalte Behagen der Wirklichkeit ganz offenbar wird. Puccini ist der vornehmste von ihnen; man könnte glauben, Bohème, Butterfly, Tosca seien im Gedanken an imaginäre Potpourris entworfen, die erst aufstehen, wenn die letzte Träne vor den Opernkatastrophen versiegte. Aber auch Grieg ist mit Stücken wie »An den Frühling« nicht zu verachten. Tschaikowsky ist geeignet; natürlich Mignon und Margarete; Carmen spottet aller Gespensterei; vor Schubert wird die Caféhausmusik blasphemisch. Merkwürdig, daß auch die neuen Tänze nicht hinpassen wollen; ihre Funktion ist zu frisch, um zum Hintergrund schon sich herzugeben. Die besten sind die Melodien der großen, undurchbrochenen Bögen, wie die Arien der Butterfly und des Rodolfo. Wer, betroffen, doch aus Gespräch oder Gedanken aufschreckt und hinblickt, verwandelt sich in Georg Heyms Vorstadt-Zwergen; »er schaut hinauf zur grünen Himmelsglocke, wo lautlos ziehn die Meteore weit«.