Zum Rundfunkkonzert vom 22. Januar 1931

Sie werden heute abend Werke der Schönbergschule hören. Dieser Schule und zumal ihrem Haupte Arnold Schönberg geht der Ruf der Schwerverständlichkeit voraus; es ist die verbreitete Meinung, die von einer bequemen Kritik genährt wird, hier habe man es mit Produkten eines einsamen und eigentbrötlerischen Artisten zu tun, der auf Grund irgendwelcher abstrakten Theorien eine ebenso abstrakte Musik verfertige, die nur er selber und ein enger Kreis Eingeweihter verstehe; über den darum auch die Zeit hinweggegangen sei, die zwar seine Anregungen aufgenommen habe, aber nicht seine verstiegenen Konsequenzen ziehe, sondern sich der Gemeinschaft der Hörenden, ihrem Bedürfnis und ihrem Verständnis weitgehend anpasse. Diese Vorstellungen über Schönberg und die Stellung seiner Musik in der Zeitsituation, wie sie den meisten von Ihnen geläufig sein mögen, sind falsch. Es kann freilich nicht die Schwierigkeit seiner Werke selber bestritten werden. Sie sind so schwierig wie alle Kunst, die ohne Rücksicht auf vorgegebene Normen sich nach ihrem eigenen Maß zu realisieren trachtet. Aber einmal ist diese Schwierigkeit nicht das Produkt theoretischen Spintisierens, nicht der Beweis mangelnden ursprünglichen kompositorischen Vermögens: sondern sie ist unabweislich gefordert, nicht bloß durch Schönbergs individuelle Entwicklung und die Beschaffenheit seiner Kompositionen in sich, sondern auch durch den strengen Gang der musikalischen Geschichte, als deren Vollstreckung heute die gleichen Leistungen Schönbergs erkennbar sind, die man einmal als Akte privater Willkür verfemte. Dann aber sind diese Schwierigkeiten nicht unüberwindlich: sie weichen, sobald man die Notwendigkeit und Stimmigkeit der Schönbergischen Verfahrungsweise einmal erkannt hat.

Von Schönberg selbst hören Sie ein Jugendwerk: die Lieder op. 6. Wenige seiner Werke könnten Sie in seinen Stil besser einführen als gerade diese Lieder. Denn sie enthalten alle die Momente, die sein kompositorisches Verfahren tieferhin bestimmen, bereits vollständig ausgebildet in sich; aber in einem melodischen und akkordischen Material, das noch aus dem herkömmlichen ohne weiteres abgeleitet werden kann. Die musikalische Evolution dieser Lieder vollzieht sich gleichsam unter der Hülle der üblichen Tonalität. Die Schlagworte, unter die man Schönbergs Musik zu bringen beliebt: Atonalität, Aufhebung des Gegensatzes von Konsonanz und Dissonanz, Quartenakkordik, linearer Kontrapunkt und wie sie alle heißen mögen, finden auf diese Lieder keine Anwendung. Ihr Angriff vollzieht sich in einer tieferen Schicht. Ich greife zwei der Lieder heraus, die mir die fortgeschrittensten und kühnsten scheinen. Zunächst das Lied »Lockung«, dies Verführungslied, das in der Knappheit der Formulierung, dem unmittelbaren, erbarmungslosen Zugriff zum schlagendsten gehört, was der junge Schönberg überhaupt geschrieben hat. Es hat eine ganz kurze, gejagte Klavierintroduktion, die verfliegt, ehe Sie sie nur ganz erfaßt haben. Aber diese paar raschen Takte sind nicht etwa – wie es in der heute tagesüblichen ›motorischen‹ Musik üblich ist – aus einem Rhythmus erzeugt, der multipliziert, beliebig wiederholt würde und in seiner primitiven Deutlichkeit die Form zusammenhielte; sondern schon diese wenigen Takte sind aus drei verschiedenen, scharf kontrastierenden Motivgruppen gebildet, nach Schönbergs Ausdruck aus drei thematischen »Gestalten«, die gerade durch den Kontrast sich zur Einheit zusammenschließen. Dieser Reichtum an – meist sehr knappen – melodischen Gestalten macht eine der Hauptschwierigkeiten bei Schönberg aus; eine viel größere als die dissonanten Akkorde, deren sich ja mittlerweile die umgänglichsten Komponisten bedienen. Die Bequemlichkeit des Ohres, sich mit einem musikalischen Ereignis, dem ›Thema‹, zufrieden zu geben und nichts anderes zu erwarten als dessen Wiederholung oder Verarbeitung, wird empfindlich gestört von einer Technik, die unausgesetzt Neues bringt und zudem dies Neue durch die reichsten Beziehungen verknüpft. Sie werden also Schönberg dann am besten hören, wenn Sie nicht einzelne Themen festhalten und deren Wiederholung erwarten, sondern versuchen, unmittelbar die Zusammenhänge zu verfolgen, die durch die Verknüpfung des ständig wechselnden Materials gestiftet werden. Es ließe sich das auch in der Form ausdrücken, daß in dieser Musik alles thematisch ist; daß Sie also in jedem Augenblick mit der gleichen Energie das neu Erscheinende auffassen müssen wie beim Beginn. Diese Auffassung wird erleichtert dadurch, daß ja nicht beliebig Neues an Neues gereiht ist, sondern daß die Kontraste sich zu höheren Ganzheiten – Teilganzen nach der Sprache der neuen Psychologie – zusammenschließen und daß sie allesamt durch die Motivkonstruktion so miteinander verklammert sind, daß keines aus dem Zusammenhang herausfällt. Sie müssen also einmal in jedem Augenblick die frische thematische Produktion verfolgen, auf der anderen Seite den Zusammenhang des Ganzen, der ja zudem in den Liedern durch die strophische Disposition verdeutlicht wird. Das gilt freilich nur für die extremsten Stücke der Gruppe, also etwa die »Lockung«, während andere Lieder, wie »Verlassen«, der herkömmlichen Liedtechnik, mit Durchführung eines wiederholten Begleitmotivs, noch nahestehen. Sie werden sogar das Wagnerische Mittel der ›Sequenz‹, also der stufenweisen, ansteigenden oder fallenden Versetzung einer Motivgruppe, in den meisten der Lieder und selbst in der »Lockung« wiederfinden. Allein hier besteht ein Unterschied, der ebenfalls zu den Schwierigkeiten des Verständnisses beiträgt. Denn diese Sequenzen sind nicht einfach Versetzungen, die das betreffende Motiv solange wiederholen, bis es auch dem Widerstrebendsten eingehämmert ist. Sie bedient sich vielmehr der ständigen Variation. Neben dem thematischen Gestaltenreichtum zählt die Variationstechnik zu den wichtigsten und eigentlich charakteristischen Mitteln der Schönbergschule; die heutige Zwölftontechnik, von der Sie als von einer erschreckenden Mathematik vernommen haben werden, ist nichts anderes als eine bis zur letzten Konsequenz getriebene und über den gesamten kompositorischen Organismus ausgedehnte Variationstechnik. Von den Liedern bis zum Zwölftonverfahren ist freilich ein weiter Weg. Die Variation der Sequenzgruppen hat vor allem harmonische Gründe. Ich muß mich hier auf Andeutungen beschränken. Während die Wagnersche und nach-Wagnersche Harmonik im Sinne einer reichen Chromatik, also eines Systems von ineinander führenden Halbtonschritten durchgebildet ist, hat Schönberg von Brahms her gegen diese Chromatisierung Widerstände übernommen und selbständige, eigenwertige Stufen im harmonischen Fortgang betont, die nicht in dem Fluß der kleinsten Intervalle aufgehen; allerdings nun nicht mehr wie Brahms nur innerhalb der leitereigenen Töne der Tonleiter, sondern unter Einbeziehung der chromatischen Zwischentöne, die Wagner erschlossen hatte; aber diese chromatischen ›Nebenstufen‹ werden nicht durch Rückung miteinander verbunden, sondern selbständig in die Konstruktion eingestellt. Die Wagnerische getreue Sequenz aber war möglich nur durch chromatische Verschiebung. Sobald der Funktionswert der Stufen gegeneinander verschieden wird, muß auch die Beschaffenheit der Gruppe entsprechend dem wechselnden Stufensinn geändert werden. Das ist der Grund der Schönbergischen Variationstechnik in der harmonischen Anlage seiner Musik, über welche sie dann freilich weit hinausgreift. Ein gutes Beispiel für variierte Sequenz bietet in der »Lockung« etwa die Stelle »Nur zwei Zehen breit noch zu gehen«. – Charakteristisch für den evolutionären Stil des jungen Schönberg ist weiter vor allem das erste Lied, »Traumleben«. Zunächst durch die Art seiner Melodiebildung. Hier liegt die dritte Hauptschwierigkeit fürs Verständnis. Das Ausdrucksbedürfnis, das gleichsam als Kraftzentrum die Evolution des frühen Schönberg in Bewegung setzt, bringt es mit sich, daß die kleinen Intervalle – insbesondere das kleine Sekundintervall, das im Tristanstil Träger des Ausdrucks gewesen – nicht mehr zureichen. Die Intervallbögen werden immer weiter gespannt und sprengen die Oktavgrenze, in der sie sich bis dahin immer bewegt: die großen Schritte sind Träger der großen Ausdrucksspannungen. So etwa bei der Stelle »Es ruht auf meinem Munde ein Frühling jung und warm«, in deren Melodie die aufsteigende kleine Non cis-d und die absteigende dis-cisis unmittelbar aneinandergefügt sind und eine Eindringlichkeit der Linie erreichen, wie sie in solcher Weise vorher kaum je bestand. Es kommt hier – also gleich im ersten Lied – für den Hörer vor allem darauf an, diese großen Melodieschritte gleichsam mitzuvollziehen, zu füllen, in der melodischen Gestalt zu hören. Sobald er das nicht vermag, zerfällt eine solche Melodie in eine Folge zusammenhangloser Töne. Aber der Hörer muß sich von der Erwartung frei machen, nur Intervalle innerhalb eine Oktav könnten eine Melodie bilden. Die Gleichberechtigung der großen Intervalle mit denen innerhalb der Oktav ist die Grundvoraussetzung der Schönbergischen Melodik. Aber um Melodik handelt es sich bei ihm, und nur als Melodien sind diese Lieder wahrhaft sinnvoll. – Weiter ist hier auf ein harmonisches Moment hinzuweisen. Das Lied »Traumleben« ›schwankt‹, wie der übliche Ausdruck lautet, zwischen zwei Tonarten: E-Dur und F-Dur. Diese beiden Tonarten sind nun aber nicht etwa bloß nebeneinander gestellt oder chromatisch miteinander verbunden. Sie sind konstruktiv ineinander verklammert. Schönberg nutzt die sogenannte Funktion des neapolitanischen Sextakkordes aus: daß in Dur anstelle des normalen Sextakkordes der zweiten Stufe – in E-Dur: a-cis-fis – einer mit erniedrigter Terz und erniedrigter Sext – in E-Dur: a-f-c – treten kann, der in der Kadenz dieselbe Funktion hat wie der normale Sextakkord der zweiten Stufe. Dieser neapolitanische Sextakkord in E-Dur ist aber zugleich der Sextakkord der ersten Stufe von F-Dur. In der Ausnutzung dieser seit zwei Jahrhunderten bekannten Beziehung für die Modulation als solche liegt nun nichts Neues. Aber Schönberg baut den neapolitanischen Sextakkord gewissermaßen zu einer neapolitanischen Sext-Tonart aus, einem ganzen F-Dur, das doch selbst dauernd in die Kadenzverhältnisse von E-Dur eingeschaltet bleibt. Die Funktion der neapolitanischen Sext ist zu einer Nebentonart erweitert, die konstruktiv vom herrschenden E-Dur eingeschlossen wird. Mit der größten Kunst vor allem der wechselnden Deutung des melodischen Materials werden alle Beziehungen zwischen der Haupt- und der Nebentonart ausgenutzt. Der Sinn dieses Verfahrens ist wieder der der selbständigen, stufengerechten Verwendung der chromatischen Skala anstelle ihrer schematischen leittonmäßigen Handhabung.

Ich habe mit Absicht von diesem Werk, dem einfachsten der drei gebotenen, so ausführlich gesprochen, weil ich glaube, daß Sie die Schwierigkeiten besser an ihrem historischen und sachlichen Ansatzpunkt meistern lernen als in den letzten Resultaten. Die Werke von Winfried Zillig und Nikos Skalkottas knüpfen an die letzten Resultate Schönbergs an; vor allem an die Zwölftontechnik. Beide sind allerdings noch nicht in strengem Sinne Zwölftonkompositionen. Sondern sie bringen nur meist Themen, die – natürlich nicht in der Reihenfolge der chromatischen Tonleiter – alle zwölf Töne dieser chromatischen Skala in sich enthalten und die dann mehr oder minder frei verarbeitet werden. Diese Technik hat einmal ihren Grund in dem bereits charakterisierten Variationsprinzip: alle musikalischen Ereignisse müssen auf ein Ausgangsmaterial, nämlich die thematische Reihe, als ihre Einheit zurückführbar sein; andererseits aber unausgesetzt neue Gestalten bringen, so daß dies Ausgangsmaterial als solches nicht erkennbar wird. Das Stück von Zillig, von sehr reicher Faktur und weit belasteter als der Titel »Serenade« vermuten läßt, zeigt zumal in der Formanlage und der polyphonen Verklammerung Schönbergische Schule. Es ist aber zugleich bemüht, sich mit anderen Einflüssen produktiv auseinanderzusetzen. Im zweiten Satz mit den durchlaufenden Vierteln kann man einen geheimen Hindemith finden, im Finale mit der Tangoepisode und der geflissentlichen Banalität sogar etwas von Strawinsky; dabei ist das Wichtige, daß diese Elemente nicht willkürlich und isoliert auftreten, sondern streng in der thematisch-motivischen Konstruktion verbleiben. Man darf gerade hier eine sehr wichtige und längst fällige Tendenz der Entwicklung suchen. Am bedeutendsten und fremdesten, freilich auch am schwierigsten ist der Variationensatz, dessen abgeblendeter Blechklang zuweilen Bergs Wozzeck aufzurufen scheint. Der erste Satz ist wesentlich Introduktion des zweiten. Wenn ich Sie ermutige, den bedeutenden Anforderungen des Stückes zu folgen, so darum, weil ich glaube, daß der Gehalt des Werkes die Mühe wahrhaft lohnt. Ich rechne Zillig zu den stärksten jungen Begabungen: er ist einer, der Kraft genug hat, die bequemen Lösungen zu verschmähen, ohne seinen natürlichen Impuls darüber zu gefährden. – Leichter, ob auch harmonisch nicht minder emanzipiert, ist die »Suite« des Griechen Skalkottas. Sie ist eine Art Violinkonzert in Miniaturformat und bringt fünf kurze Sätze, deren Knappheit die Orientierung ungemein erleichtert. Ein spielerisches Allegro präludiert, ein kurzer getragener Teil bildet mit geschlossener Kantilene den Kontrast. Dann folgt abermals ein Allegro, von burlesker, scherzohafter Tönung, dann ein Andante mit liedmäßiger Zwölftonthematik, dessen Friede sich freilich als trügend erweist; zum Schluß ein lustig ausschlagendes Presto. Der konzertante Charakter herrscht vor; überall ist dem Soloinstrument Klangraum gelassen, das kleine Begleitorchester ist mit besonderer Ökonomie verwandt. Es steckt viel Sinn für Schlankheit, Durchsichtigkeit, bündige Konzentration in der Partitur. Wenn Sie dem instrumentalen Spiel des Soloinstrumentes und dem rhythmischen Verlauf folgen, wird das Werk sich Ihnen ohne große Widerstände erschließen.