Widerspruch

Die »Ost-Probleme« von 26. Oktober 1956 veröffentlichen die deutsche Übersetzung eines Aufsatzes von Georg Lukács, der nachdrücklich Bezug auf meine Arbeiten nimmt. Da ich des Ungarischen nicht mächtig bin, so kann ich nicht beurteilen, was sich bei der zweimaligen Übersetzung einzelner Zitate ereignet hat; einiges klingt sehr sonderbar. Fraglos aber hat Lukács mich positiv genannt.

Seine früheren Werke haben einmal auf mich, wie auf andere Intellektuelle meiner Generation, großen Eindruck gemacht. Während aber Lukács sein geistiges Prestige heute noch im wesentlichen jenen früheren Arbeiten verdankt, hat er sie längst feierlich widerrufen und die kulturelle Generallinie der Sowjetrussen befolgt. Es ist möglich, daß er nun mich heranzieht, um davon sich zu lösen oder wenigstens in den Augen freiheitlich Gesinnter die bislang von ihm gebilligten Thesen – solche einer durch den »sozialistischen Realismus« gegängelten Kultur – als von unabhängigen westlichen Theoretikern bestätigt hinzustellen. So froh ich indessen wäre, wenn Lukács der Zerstörung seiner eigenen Vernunft endlich sich widersetzte, so wenig kann ich es dulden, daß er den Inhalt meiner Musikphilosophie auf den Kopf stellt.

Er behauptet, ich hätte einen Aufsatz über den Verfall der dekadenten Musik geschrieben. Den widerlichen Ausdruck »dekadente Musik« – oder »dekadente Kunst« überhaupt – habe ich niemals in den Mund genommen; vielmehr habe ich in dem in dem Band »Prismen« enthaltenen Spengler-Essay den Begriff der Dekadenz aufs schärfste kritisiert und habe dann in der Arbeit »Die gegängelte Musik«, die erst im »Monat« veröffentlicht war und jetzt in die »Dissonanzen« aufgenommen ist, die Musikpolitik des Ostblocks samt der Gesamtanschauung, welche die Phrasen von Dekadenz und dekadenter Kunst zeitigt, unmißverständlich zergliedert.

Der Aufsatz, den Lukács im Sinn hat, ist offenbar »Das Altern der Neuen Musik«*. Er gilt gewissen Erstarrungsphänomenen der radikalen neuen Musik, Anzeichen eines inneren Spannungsverlustes, des beginnenden Konformismus. Was aber der Aufsatz vertritt, ist nicht ein Zurück zur Natur, zum Kollektiv, zur Primitivität, sondern im Gegenteil eine Radikalisierung des Musikstils, vor der den Verwaltern der gegängelten Musik Angst und Bange würde. Was immer mir als Musik heute möglich scheint, würde von ihnen als dekadent gebrandmarkt werden.

Lukács zitiert einen angeblichen Satz von mir: »Die Musik, d.h. die dekadente avantgardistische Musik, ist in unserer Epoche zum Untergang verurteilt, weil in den Komponisten die Authentizität, die Aufrichtigkeit dieser Furcht und dieses Schreckens im Aussterben begriffen ist.« Diesen Satz – oder irgendeinen auch nur entfernt ihm ähnlichen – habe ich niemals geschrieben, weder in der »Philosophie der neuen Musik«, noch im »Altern der Neuen Musik«. Er ist nichts als Galimathias und frei erfunden.

1956

Fußnoten

*Vgl. jetzt GS 14, s. S. 143ff.