Die gegängelte Musik
Müßig könnte es scheinen, kulturpolitische Maßnahmen in der sowjetischen Einflußsphäre und gar offizielle Richtlinien von dort sachlich zu erörtern. Jeder weiß, daß man jenseits des Eisernen Vorhangs Kultur von vornherein als Herrschaftsmittel einschätzt, daß alle kulturellen Sorgen, die man geflissentlich beredet, sich in Wahrheit nur auf Fragen der propagandistischen Wirksamkeit oder der Gleichschaltung mit der Generallinie beziehen. Einmal hieß Ideologie falsches Bewußtsein. Heute wird im sowjetischen Machtbereich der Ausdruck Ideologie positiv verwandt, etwa so wie die Nazis von Weltanschauung redeten, und damit unfreiwillig zugestanden, daß man den Geist zu eben dem entwürdigt, was man einmal am Geist kritisierte, als man Ideologie den bloßen Überbau realer Interessen nannte.
Das nachzuweisen, genügt aber nicht die abstrakte Versicherung, die allzuleicht zur selbstgerechten Beteuerung einer starren Gegenthese verkommt. Man muß schon, was dort als Kultur ausgeboten und oktroyiert wird, beim Wort nehmen, mit dem eigenen Maßstab vorgeblich höheren Bewußtseins messen, um übers ohnmächtige Verdikt hinauszukommen. Überdies ist auch darum eindringende Erkenntnis gefordert und nicht die Art abfertigender Polemik von oben her, wie sie gerade jenseits der Zonengrenze geübt wird, weil die Maßnahmen, welche die östlichen Kulturvögte im Gefolge der nazistischen verhängen, nur extremer Ausdruck einer Tendenz sind, die über die ganze Welt sich verbreitet. Allerorten droht unerbittliche Nivellierung des Bewußtseins. Man lauert auf Opfer und stürzt sich mit Vorliebe auf die moderne Kunst. Wer wissen will, was es mit den Klagen über deren Abseitigkeit, Substanzlosigkeit, Isoliertheit, Heillosigkeit, Dekadenz auf sich hat, von denen auch die nichttotalitäre Welt widerhallt, muß zusehen, worauf solche Klagen hinauslaufen, wenn sie von Diktaturen zu Leitsätzen erhoben werden. Schließlich aber verrät die Kulturpolitik der Ostsphäre Entscheidendes über diese selbst. Während die Kultur, die man da verordnet, keiner ernst nimmt, zittert man doch vor jeder unreglementierten Regung, jeder Dissonanz, jedem spontanen Ausdruck von Leiden. Alles soll positiv, eitel Harmonie, Bestätigung des Daseins sein. Es bedarf nicht der Psychoanalyse, die ja drüben ebenfalls verfemt ist, um den Argwohn zu wecken, die tödliche Angst vor jeder Unbotmäßigkeit des Geistes, die Ächtung der Freiheit, die zu verwirklichen man doch immer noch vorgibt, entstamme dem Bewußtsein, das reale Leben selbst, dem sie den Aufbau des Sozialismus nachrühmen, werde sonst seiner eigenen Unwahrheit geziehen. Kunst darf nicht frei sein, weil sie als freie ausspräche, daß die Menschen es nicht sind; Kunst darf nicht negativ sein, weil sie sonst von der Negativität der gesellschaftlichen Existenz selber zeugte. Man redet in der Sowjetzone viel vom Erbe, mit dem man den bösen Formalisten zu Leibe rückt. Zu solchem Erbe aber gehört ein Distichon Hölderlins, das man sich hinter den Spiegel stecken sollte. Es lautet:
»Immer spielt ihr und scherzt? Ihr müßt! o Freunde! mir geht diß
In die Seele, denn diß müssen Verzweifelte nur.«
Die Scherze sind freilich meist unfreiwillig. Aber ich möchte mich nicht an die Kaisers-Geburtstags-Lyrik des Herrn Becher halten und nicht an die Erntedankmalerei. Ich ziehe ein Dokument vor, für das ich technisch zuständiger bin und das überdies sorgsam und mit viel Intelligenz formuliert ist, offenbar im Bestreben, Intellektuelle einzufangen. Wohlweislich wird vermieden, ihnen die Knute zu zeigen. Der »2. Internationale Kongreß der Komponisten und Musikkritiker«, der vom »Syndikat der tschechischen Komponisten« in Prag organisiert wurde, hat einstimmig eine Proklamation und eine Resolution angenommen. Sie will gesellschaftliche Kritik am herrschenden Musikbetrieb, sachlich-musikalische Maßstäbe und die Politik jenes Herrn Shdanow, der bekanntlich die russischen Komponisten terrorisierte, vereinen. Das geschieht nicht nur mit großem taktischen Geschick, sondern auch, indem man Elemente der Wahrheit in den Dienst der Ideologie stellt. Angeknüpft wird an Phänomene wie die Kommerzialisierung der Musik durch die bestehende Kulturindustrie und die innere Gefährdung der fortgeschrittenen Produktion durch ihre gesellschaftliche Isoliertheit. Gerade weil ich als Exponent der neuen Musik deren unausweichliche gesellschaftliche Problematik aufs stärkste hervorgehoben habe, halte ich mich für verpflichtet, dem Mißbrauch solcher Motive im Dienste von Reaktion und Unterdrückung auch dann entgegenzuarbeiten, wenn diese mit einem progressiven Vokabular sich tarnen.
Die Proklamation geht davon aus, daß Musik und Musikleben unserer Zeit in einer tiefen Krise stünden. Längst ist in Europa der Begriff der Kulturkrise in Mode. Wer vom wahren Grund des Unheils ablenken will, verweist darauf, die Kultur sei in Unordnung. Man orientiert sich dabei an Vorstellungen von gesund und krank. Das Ideal gesunder Kultur aber, wie es selbst Nietzsche nicht verschmähte, will, daß das Schwache zugrunde gehe. Was man als erkrankte Kultur brandmarkt, ist Stimme des Schwachen und Unterdrückten, auch wenn es selbst nichts davon verspürt. Die unnütze und zerbrechliche Schönheit, wie sie bei Kollektivisten jeglichen Schlages heute als Dekadenz, Ästhetizismus, l'art pour l'art geächtet ist, meint – sei es auch im falschen Bewußtsein – den Protest gegen eine verhärtete, verdinglichte Gesellschaft. Deren Partei dagegen ergreift die Rede von der Kulturkrise, gebunden an das Wunschbild von Geschlossenheit, Allgemeinverbindlichkeit und Harmonie. Ihr zufolge soll Kunst »unproblematisch« sein, ungefährdet in sich, gefahrlos dem Einverständnis. Einzig, wenn der Gesamtzustand prinzipiell sanktioniert, nicht als widerspruchsvoll vorgestellt wird, läßt Allgemeinverbindlichkeit als kulturelle Norm sich aufrichten; einzig wenn Kultur bestätigen soll, was ist, hat sie dem Kriterium der Harmonie zu gehorchen. Daher soll unbeirrtes Denken, sich von grandiosen Phrasen über Kulturkrise nicht einlullen lassen. Der Begriff der Krise läßt sich nicht von der Ökonomie auf die Kultur übertragen. Ziel wäre eine krisenlose Gesellschaft, nicht eine krisenlose Kultur; und jener kann heute ihr ästhetisches Recht bloß in kritischer Kunst werden. Die Herstellung eines spannungslosen Zustands des Bewußtseins, und von Produkten, die diesem entsprechen, würde nur die Verblendung verstärken.
Was es mit dem Begriff der Kulturkrise auf sich hat, zeigt sich in der Empfehlung der Proklamation an die Musiker, sie sollten einen Ausweg finden aus ihrer Neigung zu extremem Subjektivismus. Denn die vergeßlichen Nachfahren Hegels glauben, eine Tendenz objektiv-gesellschaftlich bestimmten Wesens lasse durch bloße Gesinnung, einen Willensakt des einzelnen Künstlers sich verändern. Meinen sie im Ernst, das Verhalten des Künstlers sei Sache des Entschlusses, sei nicht vorgezeichnet durch seinen Bewußtseinsstand, in dem die ganze Gewalt des historischen Zuges sich umsetzt in das, was ihm möglich und was ihm nicht möglich ist? Man könnte aus dem wohlmeinenden Rat, doch Vernunft anzunehmen und den extremen Subjektivismus aufzugeben, das Entsetzen heraushören, das in totalitären Staaten bereits der Gedanke an Subjekte auslöst, die überhaupt noch von sich aus reagieren, anstatt Befohlenem blind sich anzupassen. Denn nichts wäre falscher, als die Subjektivität mit dem individuell Zufälligen, Privaten zu verwechseln. Ein einziges richtiges Bewußtsein, ein richtiges Subjekt, das sich nicht dumm machen läßt, ist nicht weniger objektiv als tausend falsche, verblendete, und sicherlich objektiver als die Ukasse, die Herr Shdanow ausheckte. Als Erkennendes vermag das Subjekt an einer Objektivität teilzuhaben, die von Terror und Propaganda Umnebelten versperrt ist, und von solcher Erkenntnis wird auch die Praxis mitbetroffen, die vielleicht das Verhängnis wenden könnte.
Kunst ist aber nichts anderes als eine Gestalt solcher Erkenntnis. Je strenger die Künstler dem sachlich als richtig Erkannten sich überlassen, um so eher dürfen sie hoffen, des Zufälligen und Nichtigen sich zu entäußern, das als Last des verfallenden Individualismus unter den gegenwärtigen Bedingungen zwangsläufig ihnen auferlegt ist. Nie sollte Kunst Ruhe und Ordnung garantieren oder spiegeln, sondern das unter die Oberfläche Verbannte zur Erscheinung zwingen und damit der Oberfläche, dem Druck der Fassade widerstehen. Gäbe sie solchen bestimmten Widerspruch auf, so verlöre sie mit dem kritischen Element ihr ästhetisches und würde zum nichtigen Spiel erniedrigt. Sie darf nicht durch eine Disziplin, die sie der Gesellschaft abborgt, deren Krise vertuschen, sondern ihre eigene Disziplin muß die reale enthüllen. Dazu muß sie noch des Restes jener gefälligen Ideale sich entledigen, wie sie hinter der Rede von der Musikkrise als Norm stehen. Denn sie taugen einzig noch dazu, die universale Gleichschaltung zu rechtfertigen; die edle Form ist zum Schandmal von Verstümmelung entartet.
Die Proklamation klagt über den schlechten Zustand der Kultur. Sie wendet das auf die ernste Musik an mit der These, ihr Inhalt werde stets individualistischer und subjektiver – als ob das dasselbe wäre –, ihre Form stets komplizierter und mechanischer konstruiert. Über die Schwierigkeiten, in der Musik den Inhalt von der Form zu trennen, setzt die Proklamation sich souverän hinweg. Indem die Begriffe dogmatisch vorgebetet werden, gewähren sie die Möglichkeit, unter dem Titel Inhalt etwa für den Ausdrucksgehalt, soweit dieser überhaupt »Inhalt« heißen darf, die poetisierende Darstellung äußerer Begebenheiten, das Ideal der Programmusik aus dem neunzehnten Jahrhundert, einzuschmuggeln. Nach einer derartigen Inhaltsästhetik steht musikalische Schlachtenmalerei höher, als wenn es einem Musikstück gelingt, eine verwehende seelische Regung festzubannen. Daß der Ausdruck solcher Regungen heute überall auf der Erde den Massen ohne deren Schuld entfremdet ist, gibt kein Recht, diese Entfremdung als Werk des bösen Willens derer auszuschelten, welche die Regung haben oder gestalten. Vielmehr liegt in dem gespaltenen Zustand der Appell, einen zu verwirklichen, in dem jeder Mensch am Zartesten und Differenziertesten teilhaben kann. Statt dessen aber wird von der Proklamation den Künstlern ein Verhalten nahegelegt, das, gemessen am Stand ihrer eigenen Produktivkräfte, auf Rückbildung hinausläuft und auf die Verleugnung dessen, was man besser weiß.
Während die Proklamation über den Bewußtseinsstand der fortgeschrittenen Künstler mit einem Federstrich hinweggeht, fetischisiert sie dafür den gewiß nicht minder gesellschaftlich bestimmten Bewußtseinsstand der Massen, das Erbe ihrer Unfreiheit, und unterschiebt deren geistiges Endprodukt als Kriterium volksdemokratischen Geistes. Gerade die Kunstwerke, die ihrem objektiven Wesen nach die gesellschaftliche Wahrheit darstellen, die in der Tat dem Laut geben, was in und über den Menschen ist, ohne daß diese selber solchen Lautes mächtig wären, jene wahren Kunstwerke sind durch unerbittliche Mechanismen vom Bewußtsein der Massen und von der Wirkung auf diese abgetrennt. Umgekehrt ist, was Wirkung ausübt, meist nur der manipulierte und technisierte Abhub veralteter Bewußtseinsformen des gleichen Individualismus, gegen den das Feldgeschrei geht. Wenn man überhaupt sinnvoll Kunst mit dergleichen Forderungen präsentieren könnte, dann stünde an erster Stelle nicht die nach unmittelbarer Wirksamkeit, sondern die, daß Kunst den gesellschaftlich produzierten Mechanismus der Verblendung durchschlagen hilft, der ihr die Wirkung verwehrt, und daß sie damit ihre wahre Wirkung erlange. Eine solche Forderung aber läßt sich nicht isoliert an die Kunst richten. Sie wäre nicht Sache einer ästhetischen Proklamation.
Diese macht den Versuch, den widerspruchsvollen Zustand der Musik, den keiner leugnen wird, der der umfassenderen Widersprüche sich bewußt ist, technisch zu konkretisieren. Das sieht dann so aus:
»Die Elemente der ernsten Musik haben die Proportion zueinander verloren: entweder herrschen die rhythmischen und harmonischen Elemente exzessiv auf Kosten des melodischen Elements vor, oder die Elemente von Form und Konstruktion werden so überbetont, daß dabei Rhythmus und Melos vernachlässigt werden; schließlich gibt es Stile in der zeitgenössischen Musik, in denen formloser melodischer Fluß und quasi-ästhetische Nachahmung älterer kontrapunktischer Stile an Stelle logisch-musikalischer Entwicklung traten, ohne daß dabei die Armut der Erfindung in der Mehrheit der Fälle verdeckt werden könnte.«
So sachverständig das klingt, so wenig läßt es sich halten. Manches ist ganz unsinnig; dunkel bleibt, woran bei dem »formlosen Fluß der Melodie« gedacht wird, der da mit der Imitation älterer kontrapunktischer Stile, dem Neoklassizismus, sich verbinden soll. Ebenso unklar ist, wo Form und Konstruktion auf Kosten von Rhythmus und Melodie sich vordrängen, während die Verfasser des Manifestes recht wohl wissen müssen, daß in der Schönbergschule, auf die sie hier offenbar zielen, die Konstruktion die rhythmische und melodische Gestaltung in sich einbegreift. Gerade in der traditionellen Musik trat gemeinhin jeweils ein Element auf Kosten der anderen hervor: das hat ihre Auffassung erleichtert. Erst die gescholtene neue Musik geht auf die Identität der herkömmlicherweise divergenten Elemente aus.
Aber es kommt gar nicht so sehr darauf an, daß fachmännische Redensarten aufgeboten werden, um Fachleute zu düpieren, ohne daß dem strenge Sachverhalte entsprächen. Entscheidend ist, daß in Wahrheit die Mißverhältnisse zwischen den einzelnen musikalischen Elementen zwar auch in der neuen Musik keineswegs überwunden wurden, so heroisch sie sich darum bemüht, daß sie aber so alt sind wie die gelobte Musik des bürgerlichen Zeitalters selbst, also zumindest dreihundertundfünfzig Jahre. So bedeuten die höchsten Anstrengungen der großen Komponisten von Bachs »Kunst der Fuge« über Beethovens letzte Quartette bis zu Schönberg den Versuch, durch Polyphonie, durch das kunstvolle Ineinanderpassen gleichzeitiger Stimmen, die Trägheit des formelhaften Zusammenklangs zu überwinden, Vertikale und Horizontale, Harmonik und Melodik, die durch die Jahrhunderte auseinanderweisen, in eins zu setzen. Hätte in der Vergangenheit wirklich Einheit der musikalischen Elemente existiert, so hätte es nicht jener verzweifelten Versuche bedurft: ihre Größe mißt sich an der Tiefe, mit der die Komponisten die unausrottbaren Widersprüche ihres Materials gewahrt haben. Schreibt man daher der modernen Musik die willkürliche Zerstörung einer Einheit zu, die in Wahrheit nicht bestand und im zerspaltenen Ganzen auch nicht bestehen konnte, so heißt das nichts anderes, als das Vertraute, Eingeschliffene, Herkömmliche, die Mauer vor den eigentlichen musikalischen Ereignissen zur Sache selbst machen. Die modernen Komponisten, die aus dem Umkreis der längst konventionalisierten Musiksprache ausbrechen wollen, werden von der Proklamation mit der Schuld an dem zuinnerst Fragwürdigen der herkömmlichen Musiksprache belastet, deren Konventionalismus einzig die Kehrseite ihres Brüchigen ist: denn nur weil es nicht gelang, die allgemeinen und getrennten Elemente der Komposition in das spezifische Leben jeder einzelnen einzuschmelzen, sind jene zu Formeln geronnen. Daß auch die im Osten denunzierte avantgardistische Musik bis heute die ästhetischen Widersprüche auf höherer Ebene erneut hervorbringt und abermals etwas von jenem mechanischen und verdinglichten Wesen zeitigt, das der traditionellen Musiksprache eignet, ist fraglos. Das rechtfertigt aber nicht, Musik auf dem Verordnungsweg auf das frühere, krudere Niveau zurückzuschrauben.
Die gesellschaftlich vorgezeichnete Entfremdung der Musik, die sie stets wieder mit Starre in sich selber bedroht, läßt sich nicht dadurch aus der Welt schaffen, daß die Musik Verbundenheit mimt. Will Musik nicht der Reklame für die Welt verfallen, so muß sie der eigenen Widersprüche und Unzulänglichkeiten sich bewußt werden und trachten, es besser, konsistenter, substantieller zu machen, ohne dabei auf das Muster irgendeiner ihr fälschlich als Ideal vorgehaltenen Vergangenheit zu schielen. Sie kann nicht auf musiksprachliche Elemente zurückgreifen, die heute nur darum organisch scheinen, weil sie in den letzten Jahrhunderten durch Ausscheidung alles Abweichenden die Selbstverständlichkeit zweiter Natur angenommen haben.
Das gilt insbesondere für den Ruf nach der Melodie, in dem die Proklamation mit den Wünschen des Amüsierphilisters sich begegnet. In großer Musik war und ist Melodie dasselbe wie Form, der Inbegriff aller in der Zeit sich entfaltenden, sukzessiven Beziehungen der Musik. Dafür unterschiebt die Proklamation stillschweigend die klischeehafte, heruntergekommene Form des Melodiösen. Diese verdankt ihre Faßlichkeit lediglich den Eckpunkten und Formeln der gewohnten Harmonik, nicht der Notwendigkeit ihrer eigenen Bewegung. Ein etwa von Tschaikowsky abgezogenes melodisches Ideal ist nicht so sehr ein Heilmittel gegen die asozialen Ausschreitungen der modernen Musik, als daß es sich genau jener Welt der Schlager annähert, über welche an anderer Stelle die Proklamation scheinheilig sich empört. Sie stellt den künstlerischen Sachverhalt auf den Kopf: die Bestrebungen, welche sie als melodiefeindlich verurteilt, sind genau die, denen es auf die Emanzipation des Melos, auf die Befreiung des musikalischen Sinnzusammenhangs vom eingespielten Kommerz des Geistes ankommt, und was ihr Melodie heißt, ist einzig der tote Abguß eines selbst engen und beschränkten Typus von Melodik.
Daß die Proklamation die Mißverhältnisse und Widersprüche zwischen den musikalischen Elementen der Moderne zuschreibt und nicht dem geschichtlichen Prozeß, dem die Versöhnung von Allgemeinem und Besonderem mißlang, und dessen Charakter in der Kunst sich spiegelt, ist kein zufälliges Fehlurteil. Man bedarf des quid pro quo aus triftigen taktischen Gründen. Es erlaubt soziologische Konsequenzen, die der Proklamation nur allzugut ins Konzept passen:
»Je mehr diese Unangemessenheit in der sogenannten ernsten Musik offenbar wird, um so subjektiver werden ihre Inhalte und um so komplizierter ihre Form, und das verursacht eine Abnahme des Umfangs der Zuhörerschaft: sie wendet sich an kleinere und immer kleinere Kreise.«
Aber das Auseinandertreten von musikalischer Produktion und Publikum ist keine »Schuld« der Komponisten, welche diese nach dem Satz des ertappten Portokassenjünglings: »Und werde ich mich bemühen, meinen Charakter Ihrem Wunsch gemäß zu ändern«, abzubüßen hätten. Die Gründe liegen bei der gesellschaftlichen Totalität; weder beim Publikum, das sich der Arbeitsteilung nicht erwehren kann, noch bei denen, die, wie immer ohnmächtig, dem Druck der Verhältnisse widerstehen.
Kompliziertheit an sich ist weder schlecht noch gut: ihr Recht oder Unrecht hängt von der künstlerisch zu realisierenden Sache ab. Die gegenwärtige Unfähigkeit der Massen jedoch, Kompliziertes zu verstehen, Erbschaft ihres Ausgeschlossenseins von der Bildung, wird heute von der Kulturindustrie verstärkt, die sie prägt, und von ihrer eigenen Mechanisierung im Arbeitsprozeß. In ihrer sogenannten Freizeit sind sie kaum fähig, etwas anderes aufzufassen, als was diesem Arbeitsprozeß gleicht, auf bloße Reflexe des Hörers und Betrachters abzielt und in ihrem Bewußtsein den Zustand nochmals hervorbringt, in dem sie ohnehin existieren. Der heute allgegenwärtige Haß gegen das Komplizierte an sich ist ein Symptom gesteuerter Rückbildung. Je weniger die Massen fähig und willens sind, die Anstrengung des Verstehens auf sich zu nehmen, um so unbarmherziger werden sie zu bloßen Registraturapparaten dessen herabgesetzt, womit die Büros sie füttern. In der scheinbar massenfreundlichen Forderung des Einfachen verrät sich unverschämte Geringschätzung der Massen, der hämisch-behagliche Glaube an ihre naturgegebene Primitivität, die doch selber nichts anderes ist als der Inbegriff alles dessen, was von je, und stets aufs neue, den Massen widerfuhr. Deren eigener Haß auf das Komplizierte aber birgt als innerstes Geheimnis die Empörung darüber, daß sie es sich verbieten müssen. Sie hassen, was sie nicht lieben dürfen.
Gerade dieser alles eher als natürlichen Primitivität aber sollen, der Proklamation zufolge, die Komponisten es gleichtun. Sie sollen, so heißt es darin,
»einen Ausweg aus ihrer Tendenz zum extremen Subjektivismus finden, so daß Musik der Ausdruck der neuen und großen fortschrittlichen Ideen und Emotionen der breiten Massen und alles dessen, was fortschrittlich in unserer Zeit ist, werde«.
Was unter den progressiven Emotionen zu verstehen sei, wird wohlweislich verschwiegen. Massenemotionen, die bewußtes Handeln durch blinde, unerhellte Identifikation mit Gruppe und Führerschaft ersetzen, sind auch dann als menschliche Verhaltensweisen rückschrittlich, Regressionen im psychologischen Sinn, wenn sie sich an fortschrittlich klingende Parolen anschließen. Man wird bei den Theoretikern, deren Namen man in den Oststaaten immer noch im Munde führt, vergebens nach »progressiven Emotionen« oder nach deren Lob suchen. Bewußte Rücksichtnahme auf unbewußte Triebtendenzen gehört zur faschistischen Technik der Menschenbehandlung. Die Vorstellung begeistert irgendwelche Flaggen schwenkender und irgendwelche Führer bejubelnder Massen spricht dem Gehalt der progressiven Ideen Hohn, in deren Namen die progressiven Emotionen losgelassen werden.
Davon abgesehen aber enthält die Ermahnung, die Komponisten sollten ihren Subjektivismus überwinden, um solche Emotionen und Ideen – wie, wird nicht gesagt – ausdrücken zu können, einen offenbaren Widerspruch zu den hochtönenden Erklärungen über die Notwendigkeit sachlich musikalischer Qualität. Erst wird so getan, als käme es auf die Musik an sich an, dann wird an ihrer Stelle die Wirkung substituiert, als wären beide unvermittelt dasselbe. Dabei kann es den Autoren der Proklamation kaum verborgen sein, daß die Konsequenz und Reinheit der Sache im gegenwärtigen Zustand mit der unmittelbaren Wirkung auf die Massen, der Anpassung an die Linie des geringsten Widerstandes unvereinbar ist. Wäre es der Proklamation ernst, so müßte sie das nach beiden Richtungen gleich verhängnisvolle Mißverhältnis zwischen sachlicher Qualität und Wirkung – oder, grob gesagt: Erfolg – offen, ohne Beschönigung, aber auch ohne Demagogie aussprechen und dann den Punkt bezeichnen, an dem die Möglichkeit von Kunst fragwürdig wird, sobald man ihrem eigenen Gesetz nicht mehr blind sich überlassen kann, während ihre Rezeption um den Preis ihrer eigenen Stimmigkeit erkauft wird. Statt dessen schleicht der Widerspruch unvermerkt, gegen den Willen der Proklamation sich ein und führt zu der leeren, bequemen und unrealisierbaren Empfehlung einer Musik, die der eigenen Logik genüge und doch den Massen gefalle.
Genau besehen handelt es sich um einen Kompromiß zwischen Spezialisten der Verwaltung und solchen des Handwerks. Man habe zwar saubere, gut komponierte, in sich einwandfreie Musik zu liefern, müsse aber in jedem Augenblick des Mandats derer eingedenk bleiben, für die sie geschrieben wird:
»Der Kongreß ruft die Komponisten der Welt dazu auf, Musik zu schaffen, welche das beste Handwerk, originelle und hohe Qualität mit echter Volkstümlichkeit verbindet.«
Wie wenn das durchs bloße Dekret sich durchsetzen ließe, was seit hundert Jahren den fähigsten und verantwortungsvollsten Künstlern sich versagte; wie wenn sie nur etwas von den Ansprüchen an sich selbst nachzulassen brauchten, es sich nur recht leicht zu machen hätten, um ins gelobte Land des seligen Einverständnisses mit der Gemeinschaft zu gelangen.
Daß tatsächlich, trotz der anspruchsvollen Diskurse über die Widersprüche zwischen den musikalischen Elementen, derartige Vorstellungen die Proklamation tragen, kommt an einer anderen Stelle zutage. Es wird da den Komponisten zur Pflicht gemacht, ihre Aufmerksamkeit »auch auf solche musikalischen Formen zu richten, die eines konkreten Inhalts fähig sind, wie Oper, Oratorium, Kantate, Chor, Lied usw.«. Demgemäß sei es eine der Aufgaben der »Internationalen Vereinigung fortschrittlicher Komponisten und Musikwissenschaftler«, »internationale Wettbewerbe für Opern, Kantaten, Chöre, Massenlieder und ähnliches zu veranstalten, die den in der Proklamation des Kongresses ausgedrückten Ideen entsprechen«.
Kaum bedarf es einer besonderen Empfehlung, Vokalmusik zu schreiben. Stets haben bedeutende Komponisten darum ebensosehr sich bemüht wie um instrumentale, auch die im Osten geächteten Modernen: Schönbergs Werk schließt alle Vokaltypen vom Sololied über Oper und Oratorium bis zum didaktischen Chor ein. Aber es wäre schwachsinnig, eine Werthierarchie aufzurichten nach der Gleichung: Menschliche Stimme = menschlich = sozial; Instrument = unmenschlich = formalistisch. Vielmehr verdankt der musikalische Humanismus Beethovens sich gerade dem, daß er das Instrumentale, das »Mittel«, gänzlich durchseelte und mit dem Zweck, dem Lautwerden des Menschlichen selber, versöhnte.
Das Menschliche durch das Dinghafte hindurch zu realisieren und nicht zu tun, als herrschten urtümliche, vorarbeitsteilige Zustände, ist einer der wesentlichen Aspekte der großen Musik nicht weniger als des realen Humanismus. In Beethovens Quartetten ist »der Menschheit Stimme« nicht schwächer als in dem mächtigen Rezitativ Leonores, dessen Textworte der Menschheit Stimme anrufen. Der »konkrete Inhalt« von Musik mißt sich überhaupt nicht an ihrem Text, sondern an ihrer eigenen Gestalt, dem, was in ihr selber konkret sich vollzieht. Der Text ist zunächst nicht ihr Inhalt, sondern ein ihr Auswendiges, an das sie sich anschließt und das sie in sich zu lösen sucht. Ob die Idee eines Textes in der Tat in den substantiellen Gehalt der Musik übergeht, liegt am Gelingen der Komposition, nicht an der Textwahl als solcher, so wesentlich diese auch stets wieder für die rein musikalische Qualität sich erwiesen hat.
Wenn die Proklamation mit planender Geste der Vokalmusik eine Art von Priorität zuspricht, so geht es ihr dabei nicht um die Überwindung irgendwelcher abgründiger Unstimmigkeiten der Musik, sondern um den Gedanken an die propagandistische Wirkung, der etwa im Begriff des Massenchors sich anzeigt. Die Musik soll diejenigen einfangen, deren grob stoffliches musikalisches Bewußtsein die geistige Leistung, die Sublimierung nicht zuwege bringt, absoluter Musik zu folgen, und die der Textkrücken bedürfen. Darum werden die Komponisten ermuntert, selbst geschichtlich heute tief fragwürdige musikalische Formen wie das Oratorium zu wählen. Die musikalische Produktion wird manipuliert, weil man die Menschen selber manipulieren will.
Das erklärt die groteske Rolle der Organisation in den beiden Dokumenten. Von ihr, einem den einzelnen Künstlern Äußerlichen und sie Kontrollierenden, wird gesprochen, als ob sie die Widersprüche, man muß schon sagen: schlagartig schlichten könnte, die in der Sache selbst heute nirgends sich schlichten lassen. Die Komponisten sollen es aufgeben, darum sich zu bemühen, und lieber den Schein eines Zustandes bereiten, in dem alles zum besten ist, im übrigen aber sich nicht nur der geistigen Verhaltensweise nach, sondern ganz buchstäblich der Verwaltungsapparatur, den Kontrollräten des Ostblocks überantworten. An Stelle der gesellschaftlichen Versöhnung tritt die Selbstliquidation der Subjekte. So heißt es denn wörtlich:
»Alle Teilnehmer haben einstimmig die Organisation des 2. Internationalen Kongresses der Komponisten und Musikkritiker durch das Syndikat tschechischer Komponisten begrüßt. Er hat den Weg für internationale Zusammenarbeit zwischen Komponisten und Musikwissenschaftlern auf der breitest möglichen Basis geebnet ... Der Kongreß ist überzeugt, daß diese neue internationale Assoziation fortschrittlicher Komponisten und Musikwissenschaftler und ihre bewahrende und bewußte Arbeit die Gefahr überwinden wird, die in einer langwährenden und tief verwurzelten musikalischen Krise liegt, und der Musik ihre wichtige und veredelnde Funktion in der Gesellschaft zurückgeben wird.«
Das Syndikat und die Richtlinien nämlich, nicht das verantwortliche Handeln derer, die da von nichts befreit werden als von der Verantwortlichkeit. Kein Zweifel wird daran gelassen, daß die Überwindung der sogenannten musikalischen Krise nicht durch die Lösung der objektiven Probleme, sondern durch straffe Organisation und Verwaltungsmaßnahmen gemeint ist. Wenn die Proklamation versichert, sie habe nicht die Absicht, die Komponisten zu gängeln, und verlautbart, jedes Land und jedes Volk müsse seine eigenen Mittel und Wege finden, so ist das bloße Phrase, an der nichts zählt als allenfalls die Betonung nationaler Differenzen, die mit dem neuen russischen Nationalismus und der Hetze gegen das Kosmopolitische zusammenhängt. Wer sich der Musikerfachschaft, die den Namen des Fortschrittlichen usurpiert, eingliedert, wird von vornherein auf die Beschlüsse des Kongresses vereidigt.
»Die Teilnehmer des Kongresses sind verpflichtet, aufs intensivste dafür zu arbeiten, daß die Gedanken, die in der vom Kongreß herausgebrachten Proklamation erarbeitet wurden, in Praxis umgesetzt werden.«
Zugrunde liegt die Vorstellung, daß der Zerfall der individualistischen Gesellschaft ohne weiteres auf Organisation als die höhere Form weise – auch dort, wo die Sache ihrem eigenen Sinn nach Freiheit und den Widerstand des Lebendigen gegen Organisation meint. Denn es war Aufgabe der Kunst, seit es überhaupt eine entwickelte Tauschgesellschaft gibt, der immer weiter fortschreitenden institutionellen Umklammerung des Lebens zu opponieren und ihr ein Bild des Menschen als eines freien Subjekts entgegenzuhalten. Im unfreien Zustand aber ist Kunst des Bildes der Freiheit mächtig nur in der Negation der Unfreiheit. Sie spottet des Aufrufs zum Positiven. Das kommandierte Unwillkürliche ist komisch. Funktion der Kunst ist es nicht, ein Zahnrad im Getriebe abzugeben, sondern eines Zustands sich zu erwehren, in dem alles nur für irgend etwas »funktioniert«. Unter administrativer Kontrolle, dem Eingriff ranküneerfüllter Zensoren ausgeliefert, wird Kunst gerade durch ihre vollendete Zweckmäßigkeit zwecklos, durch ihre reibungslose Vergesellschaftung gesellschaftlich falsch. Während die Resolution sich gebärdet, als liege ihr die Rettung der Musik am Herzen, wirkt sie daran mit, sie zu lähmen. Sie übt im Namen der Kritik am Individualismus eine Aufsicht aus, die schon vermöge ihrer eigenen Form als Aufsicht, den Künstlern gewalttätig gegenübertretend, den Fortbestand genau jener gesellschaftlichen Entfremdung, den Widerspruch von Einzelnem und Ganzem bezeugt und verewigt, den der Kollektivismus verleugnet.
In einer solidarischen Gesellschaft wären Ermahnungen zur Lossage vom Subjektivismus nicht notwendig. Verwirklichte Solidarität wäre zugleich die Substanz der Künstler an sich: diese brauchten nur sich selber auszudrücken und wären schon die Stimme der freien Menschen, mit denen vereint sie leben. Wenn die Idee der Französischen Revolution durch Beethovens Musik hindurchrauscht, so darum, weil Humanität den spontanen Gehalt dessen, was ihn zur Gestaltung drängte, die innerste Zusammensetzung seiner Form ausmachte. Er hatte keine und vertrat keine »revolutionäre Ideologie«, sondern war Fleisch und Geist von 1789, auch als er die Eroica Napoleon widmete oder den Prozeß um ein imaginäres Adelsprädikat führte. Wären die fortschrittlichen Ideen, deren die Proklamation sich rühmt, im Bewußtsein und Unbewußtsein der Künstler bis in ihre tiefsten Reaktionsweisen hinein, ebenso substantiell, so müßten sie in den Werken aus eigener Schwerkraft sich darstellen, ohne daß die Künstler indoktriniert und überwacht würden. Bedarf es dessen, so ist etwas faul. Zwar mögen die Künstler, die befürchten müssen, sonst keine materiellen und intellektuellen Schlupfwinkel im Glashaus der Diktaturen zu finden, sich gleichschalten und zu Hofpoeten erniedrigen lassen, aber was sie leisten, wird um kein Gran authentischer, als wenn sie Narren auf eigene Faust blieben.
Wird eingewandt, genau daran müsse man sie wegen ihres bornierten und politisch bedenklichen Spezialistentums hindern, so ist zu entgegnen, daß die Bürogewaltigen, welche sie an die Kandare nehmen wollen, keineswegs weniger expertenhaft, sondern hochspezialisiert, »Propagandakünstler« – wie Herr Goebbels es nannte – sind, gewiß ebenso beschränkt wie die Experten für Kontrapunkt, und sicherlich gefährlicher durch den Widerspruch zwischen ihrem Bewußtseinsstand und ihrer Macht. Ahnungslos allem gegenüber, was nicht in ihr Ressort fällt, sind sie auf genau jenen Absud des banalsten Vergnügens geeicht, über den die Resolution Krokodilstränen vergießt.
Wird weiter eingewandt, die Freiheit des Künstlers sei selber bloß Ideologie, und gerade die authentischen Kunstwerke hätten stets in gewisser Weise unter sozialer Kontrolle, dem Willen der Auftraggeber oder dem Richtspruch des Marktes gestanden, so ist das sophistisch. Selbst wenn es schon immer so schlecht gewesen wäre, wäre das keine Rechtfertigung dafür, das Schlechte bewußt am Leben zu erhalten. Zudem aber verschleiert der Einwand wesentliche Unterschiede. Der beschränkte Kreis feudaler Auftraggeber erhob zumindest Anspruch auf Kennerschaft und erkannte damit die Unabhängigkeit des Künstlers wie des Handwerkers an, der »etwas versteht«. Und der anonyme Markt der bürgerlichen Zeit ließ dem Künstler Raum genug, um abzuweichen, und honorierte sogar in gewisser Weise die Abweichung als Siegel der Genialität. Die bedrohliche kommissarische Verordnung ist mit der besseren Einsicht des Künstlers unvergleichlich viel weniger vereinbar noch als die Einmischung des Grafen, der auf Verwendung von Waldhörnern besteht, oder das Premierenschicksal einer Oper der italienischen Tradition, in der Komponist und Hörer gar nicht so schlecht sich verstanden.
Das fraglose Element von Schein in der künstlerischen Freiheit legitimiert nicht die Absicht, aus der Kunst alles zu verscheuchen, was an das Entfesselte, die wahre Freiheit mahnt. Heute ist die sogenannte junge Generation von Konformismus, verbohrter Sehnsucht nach Sicherheit, von Schlamperei und von der Bereitschaft zum Mitmachen viel mehr bedroht als von dem Gespenst des »extremen Subjektivismus«, das die Proklamation an die Wand malt. Was not täte, wäre, die Komponisten genau zu all dem zu erziehen, wogegen sie eifert.
Aber die Proklamation hält es mit den stärkeren Bataillonen. Sie stößt, was ohnehin fällt. Leicht könnte sie einer Volksfront sich eingliedern, die nicht bloß aus den verängstigten Trägern der fortschrittlichen Ideen und Emotionen besteht, sondern auch aus dem Spießbürgertum, das sich ob solcher Wendung der Dinge die Augen reibt oder ins Fäustchen lacht. Die wohlwollende Warnung vor künstlerischen Exzessen, der aufgewärmte Appell ans gesunde Volksempfinden, das eben noch unterm Faschismus der Wille derer war, die die Völker geknebelt haben, läuft auf die Demonstration der Gewalt hinaus, die nichts mehr duldet, als was sie selber gestempelt hat. Das Volk ist Opium fürs Volk.