Oper und Langspielplatte

Nicht ganz selten in der Geschichte der Musik gewinnen technische Erfindungen ihren Sinn erst lange, nachdem sie gemacht wurden. So erging es dem Ventilhorn mit der chromatischen Skala. Es fand seine volle Funktion nicht vor Wagner. Vom Saxophon, einem Bindeglied zwischen Holz- und Blechbläsern, machte zwar schon Bizet schüchtern Gebrauch, aber nur auf dem Umweg über den Jazz zog es in die Kunstmusik ein. Nun scheint mit der Schallplatte Ähnliches sich zuzutragen.

Technik hat in der Musik doppelte Bedeutung. Es gibt eigentliche Kompositionstechniken und die industriellen Verfahren, die auf Musik angewandt werden zu Zwecken ihrer massenhaften Verbreitung. Doch bleiben sie ihr nicht durchaus äußerlich. Hinter den technisch-industriellen und den künstlerischen Erfindungen ist derselbe geschichtliche Prozeß am Werk, dieselbe menschliche Produktivkraft; darum trifft beides zusammen.

Noch 1934 mußte von der Schallplatte gesagt werden, sie gebe als Form nichts Eigenes her. Das dürfte sich seit der Einführung der Langspielaufnahmen geändert haben, gleichgültig, ob sie technisch von Anfang an möglich gewesen wären und nur aus kommerzieller Berechnung oder wegen Mangels an Käuferinteresse zurückgehalten wurden, oder ob man wirklich so spät lernte, umfangreiche musikalische Verläufe zu fixieren, ohne sie zu unterbrechen und als Einheiten ihres Sinns zu gefährden. Jedenfalls greift der Ausdruck Revolution für die Langspielplatte kaum zu hoch. Die gesamte musikalische Literatur könnte Hörern, die sie zu ihnen genehmer Zeit vernehmen und studieren wollten, in recht authentischer Gestalt verfügbar werden.

Ihre erwünschte Stunde jedoch schlägt der Schallplatte durchs Schicksal einer großen musikalischen Gattung, der Oper. Seit mehr als dreißig Jahren wurden keine Opern für Opernhäuser mehr geschrieben, mit denen, wenn man so anspruchsvoll reden darf, der Weltgeist gewesen wäre. Der traditionelle Opernvorrat jedoch ist auf der ihm zubestimmten Bühne zu Firlefanz für Opera fans oder zum Kultobjekt für Kulturanbeter geworden. Daher die unermüdlichen Anstrengungen, die Opern der Opernhäuser durch Bild und Regie zu modernisieren, auf Kosten der Sache. Schon ist es wiederum institutionalisiert, den Zusammenprall als surrealistischen Reiz aufzubereiten, und der stumpft rasch ab. In ihren heroischen Zeiten hatte die neue Musik von der Oper für Opernhäuser sich entfernt und nach einem von der hochbürgerlichen Repräsentation des neunzehnten Jahrhunderts qualitativ verschiedenen Theater getastet. Die gegenwärtige Avantgarde, am radikalsten und überzeugendsten wohl Kagel, nimmt das wieder auf.

Als man, vor bald vierzig Jahren, über den Schwan des Lohengrin und die Germanenbärte des Rings zu lächeln begann, war das nicht nur die Unfähigkeit einer damals schon ernüchterten Generation zur Wahrnehmung von Kunst ihrem Stilprinzip gemäß, aus Distanz zum Alltag. Man spürte, daß es künstlerisch so nicht mehr geht: daß gerade Stilisierung die Oper zur verkäuflichen Spezialität herrichtet. Die Musik des Figaro ist von wahrhaft unvergleichlichem Rang, aber jede Figaro-Aufführung mit gepuderten Damen und Herren, mit dem Pagen und dem weißen Rokokosalon ähnelt der Pralinéschachtel, vom Rosenkavalier und der silbernen Rose zu schweigen. Fegt man indessen den Mummenschanz fort und läßt die Beteiligten, Gepflogenheiten des zeitgenössischen Tanzes kopierend, in Turnanzügen oder gar zeitloser Gewandung sich ergehen, so wird die Frage: Was soll's? unabweislich; wozu dann überhaupt auf der Bühne? Man möchte Mozart vor dieser erretten.

Daß man seine Opern nicht ohne unfreiwillige Komik wie Oratorien aufführen kann, liegt auf der Hand. Durch Fernsehsendungen von Opern-Gala-Abenden wird nichts besser. Eine Million Pralinenschachteln sind eher schlechter als eine, die noch etwas vom Kinderglück des seligen Augenblicks verspricht. Radio-Opern wirken nur als blasser Abguß der lebendigen Aufführung, ohne doch den fatal gewordenen Anspruch des Einmaligen zu opfern. Da tritt die Langspielplatte als Deus ex machina auf.

Ledig des faulen Zaubers, befreit sie sich zugleich von den Zufällen falscher Opernfeste. Sie erlaubt es, die Musik optimal darzustellen; ihr etwas von einer Kraft und Intensität zurückzugewinnen, welche in den Opernhäusern verschlissen ward. Versachlichung, nämlich Konzentration auf die Musik als die wahre Sache der Oper, vermag mit einer Wahrnehmung sich zu verbinden, die dem Lesen vergleichbar ist, der Versenkung in einen Text, anstatt daß die Oper bestenfalls das täte, was ein Kunstwerk gerade nicht soll: den Hörer überreden. Die Form der Schallplatte als eine von Klangfiguren kommt zu Ehren. Daß man Langspielaufnahmen, auch Teile daraus, wiederholen kann, fördert eine Vertrautheit, wie das Aufführungsritual sie kaum duldet. Solche Platten lassen sich besitzen wie früher Graphik. Aber kaum anders als durch Besitz, Verdinglichung hindurch ist noch irgendein Unmittelbares in der Welt zu erlangen, auch in der Kunst. Den Opern zumal der späteren Phase, Wagner und Strauss, ist lange zeitliche Ausdehnung eigentümlich; es sind Seereisen. Langspielplatten geben vollkommener als vorgeblich lebendige Aufführungen die Chance, die Zeitdimension, die den Opern wesentlich ist, ohne Störungen einzubringen.

Zur Form wird die Schallplatte in dem Moment, da sie, unwillkürlich, dem fälligen Stand einer kompositorischen Form sich nähert. Rückblickend indessen dünkt es, als hätten die Kurzspielplatten von einst, akustische Daguerreotypien, die klanglich befriedigend wiederzugeben es bereits an Apparaten fehlt, bewußtlos ebenfalls ihrer Epoche entsprochen, dem Bedürfnis nach gehobener Unterhaltung, den Salonstücken, Lieblingsarien, neapolitanischen Halbschlagern, deren Bild Proust an O sole mio unverwelklich festgehalten hat. Jene Sphäre der Musik ist hinab, es gibt nur solche des äußersten Anspruchs und offenen Kitsch, nichts dazwischen. Die Langspielplatte drückt recht genau den geschichtlichen Wechsel aus.

Als der Musikkritiker Paul Bekker seinerzeit als Opernintendant sich versuchte, dürfte er als erster das Wort von der Oper als Museum gebraucht haben. Richard Strauss hat es aufgenommen, mit reaktionärer Wirkung; gleichwohl ist etwas daran. Die Form der Langspielplatte gestattet es nicht wenigen musikalisch Engagierten, ein solches Museum sich anzulegen, und sie müssen nicht fürchten, daß, wie in den Opernhäusern, die aufgespeicherten Werke dadurch neutralisiert würden. Im wunderlichen Dialog mit den einsamen und aufmerksamen Hörern erwachen sie, wie Proust zufolge die Bilder in Museen, zu ihrem zweiten Leben, überwintern zu unbekanntem Zweck.

Selbstverständlich tragen die Langspielplatten die Male des Systems, unter dem sie hergestellt werden. Das bezieht sich zuerst auf die immerhin erheblichen Preise, wenigstens in den westlichen Ländern; an ihrer Notwendigkeit ist zu zweifeln. Viele Mängel fallen auf. Sie dürften vom alten Mißverhältnis zwischen der außermusikalischen Technik und der Musik an sich bedingt sein. Der bedenklichste ist, allen entgegenlaufenden Versicherungen zum Trotz, nach wie vor die Steuerung des Klangs. Empfindlich sind weiter Schnitte innerhalb der Akte. Diese wären als Einheit unbedingt zu respektieren. Für all das wird man plausible Gründe anführen können, so wie immer von den Mitteln her gegen die Zwecke bequem zu argumentieren ist. Sieht die Industrie einmal die Tragweite der Erfindung ganz ein, so vermöchte wohl die mechanische Wiedergabe der Opernkunst entscheidend aufzuhelfen in einer Situation, in der sie an ihren eigenen Stätten anachronistisch geworden ist.

1969