Der Wunderkantor
Der Ursprung der szenischen in der kultischen Handlung, von altersher bekannt, aber laut sicherem Vernehmen in neueren Zeiten gänzlich säkularisiert, scheint an einer unerwarteten Stelle wiederentdeckt. Eine Neublüte der Mysterienspiele wird, wo nicht dem Wunderrabbi selber, der Wichtigeres zu tun hat, so doch seinem unterwiesenen Famulus zu verdanken sein. In einer zuverlässig informierten Musikzeitschrift steht zu lesen: »Hermann Schwarz, Organist am Friedenstempel der Berliner jüdischen Gemeinde, schreibt die Musik zu dem Mosesdrama ›Das gelobte Land‹ von Diederich Röhling unter Verwendung althebräischer Motive. Zu gleicher Zeit arbeitet er an einer Ausstattungsoperette, die den Titel ›Schwedische Zündhölzer‹ führt.«
Ward nach der verbreiteten Meinung die attische Tragödie aus dem Geiste des Dionysos geboren, so gibt es jetzt eine Renaissance der Komödie aus dem Geiste der Kantorei. Wie die wechselfältige Durchdringung weltlicher und kultischer Musik im Umkreis der synagogalen Kunstübung sich auszuwirken berufen ist, vermag ich nicht zu beurteilen. Um so deutlicher stehen mir die Konsequenzen für die Operette vor Augen. Sie sind höchst bedenklich. Denn was wird wohl der Operettenbesucher sagen, der ins Theater kam, um sich auf der Bühne als Gardekürassieroffizier zu begegnen, wenn er sich statt dessen im synkopierten Kol Nidre wiedererkennen muß? Und würde es auch bloß besser sein, wenn er dort oben als Zündholzgrossist vorkäme? Da hilft eben nur die Ausstattung. Aber wenn die splendid genug ausfällt, dann ist mit neu-hebräischen Motiven das gelobte Land erreicht, das den althebräischen vielleicht doch nicht ebenso zugänglich mehr wäre.