Kritik des Musikanten
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Die gleichsinnigen Bestrebungen, die als Jugendmusik, Laienmusizieren, Singbewegung, Spielkreise bekannt wurden und die ich musikpädagogische Musik nannte, stützen in ihrem besonderen Sektor sich auf ein älteres und weit allgemeineres Bedürfnis. Sie werfen sich als musikalische Sachwalter dessen auf, was dem technisch-zivilisatorischen Fortschritt zum Opfer fällt, was den Preis zu zahlen hat. Heute, da der Begriff des Fortschritts sich zu überschlagen und selber in Regression überzugehen beginnt, ziemt es weniger als je, solche Regungen mit einem Hochmut zu belächeln, der sich auf der Seite des geschichtlich Stärkeren weiß. Nicht nur ist unentschieden, was in der Realität als stärker sich behauptet, sondern der geschichtliche Sieg verbürgt keineswegs die Wahrheit. Seit der industriellen Revolution hat das Leiden an der Entfremdung der Menschen voneinander, der Verdinglichung ihrer Beziehungen sein Selbstbewußtsein erlangt. Menschen, die zuinnerst das Recht fühlen, ihr Leben selbst zu bestimmen, sind Gefangene einer Welt, deren traditionale Formen zwar vergingen, in der sie aber gleichwohl einem anonymen Gesetz, dem des Tausches, ohne Schutz und ohne Wärme ausgeliefert sind. Abgeschnitten von der Hoffnung, einen Zustand realer Menschheit herbeizuführen, mißtrauen sie voller Angst der Dynamik der Geschichte, die ihnen das letzte Gute nehme und das Bessere nicht gebe. So wird ihre Sehnsucht ins Vergangene zurückgestaut. Wie die Jugendbewegung überhaupt blieb die musikalische wesentlich eine des gebildeten kleinen Bürgertums und reflektiert dessen geschichtliche Not1. Darüber, daß sie nicht die Realität selbst zurückzuschrauben vermögen, sind sie während der letzten dreißig Jahre belehrt worden. Um so zäher klammern sie sich zum Ersatz an die Musik, die als sanktioniertes Schutzgebiet von Irrationalität vorab sich empfiehlt. Bei jenen, die aus der älteren Jugendbewegung stammen, schwingt stets noch die Illusion mit, das musikalisch Erstrebte griffe auch in die Realität ein: Georg Götsch etwa nennt das Ziel der Singbewegung »mehr soziologisch als nur musikalisch«2. Aber es ist, wie es in meinen Darmstädter Thesen hieß, »unmöglich, einen Zustand, der in den realen ökonomischen Bedingungen gründet, durch ästhetischen Gemeinschaftswillen zu beseitigen. Wer daran glaubt, ist selbst verblendet von eben jener Arbeitsteilung, der sich die Sehnsucht nach ›Gemeinschaft‹ entziehen will. Nur wer in einem Sonderbereich befangen ist, ohne dessen Beziehung auf das Ganze des gesellschaftlichen Lebensprozesses zu erkennen, kann wähnen, daß durch isolierte Praktiken die Isolierung gelöst, etwas wie richtige Beziehungen zwischen Menschen wiederhergestellt werden könnten. Es steht nicht bei der Macht musikalischer Gesinnung und kultureller Programme, der Musik etwas von jener vorgeblich allumfassenden, hegenden Objektivität einzuflößen, die sie während der letzten zweihundert Jahre angeblich verlor, nach der Art, wie Hindemith vor dreißig Jahren hoffte, es ließe sich ein ›Stil‹ finden, der wieder allgemein verbindlich sei. Die innere objektive Substanz von Musik und ihre allgemeine Rezeption mußten nie zusammenfallen. Heute ist jene das Gegenteil von dieser. Nur wenn Kunst dem eigenen Bewegungsgesetz folgt, tut sie das gesellschaftlich Rechte.«
Dagegen verteidigte sich die Jungmusikbewegung. So hat Wilhelm Twittenhoff3 den Begriff des ästhetischen Gemeinschaftswillens als unklar abgelehnt, wie wenn ich ihn aufgebracht hätte und nicht die Ideologen der Jugendmusik. Statt dessen handele es sich bloß um den Willen zu »ästhetischen Gemeinschaften«: »Als solche darf man gewiß Konzertvereinigungen, Liebhaber-Orchester, Chöre, Sängerbünde, Jugendmusikverbände, Spielkreise, Akkordeongruppen etc. bezeichnen. Gemeinschaften dieser Art gibt es in Deutschland unzählige; ihnen allen gemeinsam ist der Wille, die durch ›reale ökonomische Bedingungen‹ bewirkte gesellschaftliche ›Entfremdung‹ mittels gemeinsamen Singens, Musizierens und Musikhörens zu überbrücken. Es gibt also eine unübersehbare Menge menschlicher Zusammenschlüsse, die mit realen ökonomischen Bedingungen wenig oder gar nichts zu tun haben, wohl aber mit dem Willen zu menschlicher Gemeinschaft oder gar dem Willen zu gemeinsamem ›ästhetischen‹ Tun. Keine dieser Gemeinschaften glaubt mit ihrem Tun die ökonomische Entwicklung rückgängig machen zu können; sie wollen nur den Menschen von heute – neben seinem ökonomischen Dasein – noch andere Erlebnisformen vermitteln.« Die geschmeidige Formulierung verdeckt das Spezifische der Jugendmusik. Wenn es um nichts anderes ginge, als daß Menschen sich treffen, um Musik zu machen, dann wäre etwa zwischen dem Kammermusikspielen des neunzehnten Jahrhunderts und der Praxis der Sing- und Spielkreise kein wesentlicher Unterschied. Diese aber halten ihr Tun nicht nur für überökonomisch, obwohl es auf ein ökonomisch Gesetztes reagiert, sondern für überästhetisch; Twittenhoff bestätigt, daß sie die gesellschaftliche Entfremdung durch gemeinsames Musizieren überbrücken möchten, während private Streichquartette im neunzehnten Jahrhundert weniger und vielleicht mehr wollten: bedeutende Werke kennenlernen und einigermaßen realisieren. Der Glaube jedoch, daß, wo ein paar Menschen zu einer Sache sich zusammentun, die Entfremdung gebannt, Gemeinschaft gegenwärtig sei, trügt. So gewiß auch heute noch die Möglichkeit realer Beziehungen und menschlicher Intimität überdauert, so wenig ändert sie, und gar ihre planvolle Konservierung, etwas am gesellschaftlichen Grund des Unheils. Im Gegenteil: geplante Primärgruppen tasten deren eigenen Begriff an. Sie sind selber ein Stück Verwaltung.
Theoretiker der Singbewegung wie Wilhelm Ehmann und Wilhelm Kamlah haben längst die Kontamination von Musizieren und Gemeinschaft kritisiert. Aber während die Singbewegung jene Einsicht als ihr Eigentum verbucht, läßt sie doch von ihr sich nicht anfechten. Immer wieder versichert man, daß Einordnung in Gemeinschaften besser sei als Isolierung. Wäre sie es selbst, so hinge ihre Legitimation nicht bloß ab von dem, was sie den Mitgliedern seelisch verschafft. Viele damals Junge mögen in der Hitlerjugend die Art von Gemeinschaftserlebnissen empfangen haben, der heute manche Führer der Musikbewegung nachtrauern. Dennoch war jene Gemeinschaft von Grund auf schlecht und falsch, weil sie die Kräfte von Nähe und Verbundenheit für Unterdrückung und Gewalt mobilisierte. Das Verhältnis des einzelnen zu Gemeinschaften unterliegt der historischen Dynamik. So gründlich der aufs beschränkte Eigeninteresse eingeschworene Individualismus zur Ideologie verkam, so gewiß kann einer menschenwürdigen Gemeinschaft zuzeiten der aller Bindungen Ledige besser dienen als der, welcher anbefohlene akzeptiert und darin auch noch seine sittliche Genugtuung findet. Das den Kollektiven zur Integration überantwortete Individuum verwirklicht heute in diesen nicht die eigene Freiheit, sondern unterwirft sich einem ihm selber fremden und meist undurchsichtigen Prinzip, selbst wenn es Einverständnis sich einredet. Das Glück, das die Kollektive bereiten, ist das verbogene, mit der eigenen Unterdrückung sich zu identifizieren. Musikalisch ist die Einordnung in bestehende Lebensformen unvereinbar mit dem Stand der musikalischen Produktivkräfte. Autoren wie Ehmann verkennen nicht die daher rührenden Beschränkungen. Für diese ist nichts Triftigeres anzuführen als die bloße Tatsache der kollektiven Einordnung selber. Dadurch aber gerät in die unentwegt ethische Jugendmusik ein Moment von Borniertheit und Unwahrheit.
Wilhelm Ehmann und Wilhelm Keller, entschiedener als Wilhelm Twittenhoff, haben mir entgegnet, ich fände mich, indem ich den immanenten Bewegungsgesetzen der Musik, der Autonomie des Kunstwerks vertraute, mit der Entfremdung und Verdinglichung der menschlichen Beziehungen resigniert ab. Aber die Autonomie von Kunst selber, durch die sie sich dem Getriebe entgegensetzt, ist ihrem innersten Sinn nach bereits die Negation der versteinerten Verhältnisse. Wer daher die Grenze des ästhetischen Bereichs zur gegenwärtigen Praxis verwischt, nivelliert es auf jene Praxis und damit die herrschende Verdinglichung. Durchweg kehrt die Jugendmusik mit pointierter Absicht eingeschliffene Formen und Konventionen hervor und begehrt heftig auf gegen alle Spur des Ungebärdigen, alles was nicht vom gesellschaftlichen Mechanismus präformiert ward. Der nicht bereits eingefangene menschliche Laut ist tabuiert. Davon lenkt die im Bereich manipulierter human relations zuständige Phrase ab, daß es »auf den Menschen ankomme«. Der Verdinglichung könne man nur durch Vermenschlichung entgegenwirken, sagt im Gefühl sicherer Resonanz Wilhelm Keller. Aber durch Vermenschlichung wessen? Doch nur durch eine der Gesellschaft selber, nicht ihrer ohnmächtig partikularen Formen. So unbestechlich sollte Kunst der eigenen Erfahrung gehorchen, daß sie den Verblendungszusammenhang der verwalteten Welt durchbricht: Verfremdung allein antwortet auf die Entfremdung. Nicht aber widersteht der Realität eine Kunst, die sich menschlich gebärdet, einen rechten Zustand inmitten des falschen vortäuscht, indem sie auf kollektive Wirkungen sich einrichtet oder die Verbindlichkeit ihrer eigenen Formen vorgaukelt. Junge Musik, definiert mit Vorliebe Herman Erpf, sei um des Menschen willen da. Dagegen darf ich an Sätze aus meinem Einleitungsvortrag zum Darmstädter Gespräch über Organisation und Individuum 1953 erinnern: »Immer wieder begegnet man der Versicherung, es komme doch einzig auf den Menschen an. Spricht man aus, was es mit den Menschen unter dem Druck der verhärteten Welt auf sich hat, so wird der Spieß umgedreht und der Kritiker selbst der Unmenschlichkeit geziehen. Daß es einzig auf den Menschen ankomme, ist ... einer jener abstrakten und daher schwer angreifbaren Sätze, in denen doch Wahres und Unwahres verderblich sich mischen. Soviel ist wahr, daß das Verhängnis auf Menschen, die menschliche Gesellschaft, zurückweist und von Menschen sich wenden ließe. Unwahr aber ist, daß es unmittelbar an den Menschen liege, daß diese erst einmal anderen Sinnes werden müßten, damit die in allen Fugen ineinander gepaßte und darum aus den Fugen geratene Welt wiederum in Ordnung komme. Es ist eine alte, schon von Hegel und Goethe verworfene Illusion, die Selbsttäuschung der individualistischen Gesellschaft über sich selber, daß das Innere des Menschen sich aus sich heraus, ohne Rücksicht auf die Gestalt des Äußeren entfalte. Wollte man etwa sagen, die Bedrohung der Menschen durch die Organisation ließe dadurch sich überwinden, daß die Menschen sich die innere Freiheit zur Entscheidung erhielten, oder am Geistigen Anteil nähmen, oder dem sinnlos über sie Ergehenden von sich aus Sinn verliehen, so wäre das eitel und vergeblich. Bemühungen um die Humanisierung der Organisation, wie wohlgemeint sie auch sein mögen, vermöchten die gegenwärtige Gestalt des gesellschaftlichen Widerspruchs zu mildern und zuzuschmücken, aber nicht aufzuheben.«4
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Der Kurzschluß der Jugendbewegung ist es, daß Musik ihr humanes Ziel nicht in sich selbst habe, sondern in ihrer pädagogischen, kultischen, kollektiven Verwendbarkeit. Wilhelm Ehmann bezweifelt meine Beziehung zu »überästhetischen Kräften«. Aber in der Kunst realisiert sich, was mehr ist als Kunst, nur durch diese, die Erfüllung ihres immanenten Anspruchs hindurch, nicht indem sie die Segel streicht und sich unter ihr äußerliche Zwecke oder Kategorien subsumiert. Ihr Überästhetisches ist ästhetisch vermittelt. Noch ihr Ernst ist, Kant zufolge, zugleich auch ein Scheinen: sie scheint »als Rührung kein Spiel, sondern Ernst ... zu sein«5. Man fällt dahinter zurück, wenn man die Polemik gegen ästhetische Autonomie auf einen engen fin-de-siècle-Begriff des l'art pour l'art zuspitzt, der selber nur als Protest gegen die Herrichtung des Geistes für den Markt ersonnen war, während jegliche Musik, die seit der Ära der Französischen Revolution nach Gehalt und Gestaltung an der Idee von Freiheit teilhatte, die Emanzipation von heteronomen Zwecken voraussetzte. Am letzten erfüllt Musik sich dadurch, daß sie Menschen zu einer Gemeinschaft zusammenschweißt. Die Mechanismen, die das leisten, sind als solche irrationaler Identifikation der Psychologie nur allzu vertraut von jenen Massenphänomenen her, die Le Bon beschrieb, Freud erklärte. Stets wieder hat Musik die disziplinierende Funktion ausgeübt, welche Platon und Augustin ihr zumaßen. Nachdem die kirchliche Autorität in der Idee einer Gesellschaft von Gleichen und Freien zergangen war, ist diese Funktion in die Musik selbst eingewandert. Was dem naiven Blick deren gemeinschaftsbildende Kraft dünkt, ist weithin nur die säkularisierte Wiederholung der alten Disziplin, die nun vom ritualen Zweck an das dichte Gefüge des musikalischen Zusammenhanges überging. Legitim ist solche kollektive Repräsentanz der Musik einzig, wo die Einheit ihrer Autorität zur Einheit des Kunstwerks gerät: sonst taugt sie bloß zur Suggestion. Seine Wahrheit hat das Werk an dem, was seine Einheit, Kraft und Geschlossenheit ausspricht, schließlich an der Idee einer solidarischen Menschheit, nicht aber dort, wo es die Hörer glauben macht, sie wären schon eine Gemeinschaft, und ganz gewiß nicht, wenn es, anstatt innere Autorität zu erlangen, eine äußerliche verkündet oder durch ihr Gehabe eine ihres Inhalts beraubte Autorität den Menschen einübt. An der integralen Gewalt großer Musik mögen sie erfahren, was mehr ist als bloßes Dasein, während die Jugendmusik die Kunst, die sie ins Leben zurückruft, eben damit aufs bloße Dasein reduziert und die Menschen, denen zu dienen sie sich rühmt, um die zentralen Erfahrungen von Kunst überhaupt bringt. Die aufgewärmte Parole von Gemeinschaft gegen Gesellschaft ändert daran nichts. Im Gegenteil, je mehr die verwaltete Welt sich ausbreitet, um so lieber sind ihr Veranstaltungen, die den Trost spenden, es wäre nicht so schlimm. Die Sehnsucht nach dem von der Vergesellschaftung Unverschandelten wird mit dessen Existenz und gar mit überästhetischen Wesenheiten verwechselt. Der Objektivismus musikalischer Gesinnung überschreit sich, weil die Objektivität, die er verkündet, bloßes Wunschprodukt des ohnmächtigen Subjekts ist.
Bei den »überästhetischen Kräften« wird wohl an religiöse gedacht. Aber die musikalische Jugendbewegung übernimmt die Religion gewissermaßen en bloc, von außen her, als unbefragte Garantin des eigenen Beginnens. Nach ihrer Wahrheit wird so wenig geforscht wie nach der Legitimation ihrer traditionellen Formen; noch das Unbedingte wird von der Funktion aus visiert, dem Halt, den es einem verleihen soll. Während auf den Kommandohöhen der Theologie Bultmann die Entmythologisierung lehrt, sucht die Jugendmusik krampfhaft ihr Heil in institutioneller Kirchlichkeit und ignoriert gewaltsam den Gesamtprozeß von Aufklärung. Religion wird als Bindung um der Bindung willen akzeptiert, unter Dispens von aller weiteren Besinnung. Mit der Gemeinschaft wählt man, als ob das sich wählen ließe, Devotion und Gehorsam ohne Rücksicht auf den spezifischen religiösen Gehalt. Einzig die Sprecher der Kirche bringen demgegenüber zuweilen die Freiheit auf, vor Musik als Religionsersatz zu warnen. »Der Singbewegung jedoch geht es wesentlich darum, innerhalb konkreter Lebensformen zu wirken und mit musischen Mitteln diese Lebensformen zu bauen und zu halten, gerade in ihrer ungeheuren Gefährdung. Von daher muß sie verstanden werden.« Das ist der Schlüssel wie fürs Verhältnis der Jugendmusik zur Religion so insgesamt zu ihrem Überästhetischen. Der Begriff des Konkreten, herabgesunkenes Gut der vor dreißig Jahren modischen philosophischen Anthropologien, hält bloß noch dazu her, jeweils bestehende Formen gegen Kritik zu feien und gegenüber einer ebenso vagen »Gefährdung« zu rechtfertigen. Man unterstellt sich gleichsam freiwillig dem Etablierten. Das aber widerspricht dem Prinzip der Ordnung, das man advoziert, nicht weniger als der Autonomie selber. Musikalische Ohren sollten vor einem Ausdruck wie »mit musischen Mitteln« schaudern: das Musische, das sich selbst als Mittel anpreist, geht unmittelbar ins Amusische über. Man kann von amusischen Menschen reden, nicht ohne Scham von musischen. Überdies ist die Gefährdung hergebrachter Formen noch kein Freibrief für ihre Konservierung. Vielen wird heute heimgezahlt, was sie an Zwang und Gewalt den Menschen vordem antaten. Kunst und Kunstübung sind nicht dazu da, ihnen beflissen beizuspringen.
Sonst wird sie selber aus dem Zweck zum Mittel. Die Zwecke sind ihr dabei einigermaßen gleichgültig; es kann die Gemeinschaft als solche sein, der Kultus, die Erziehung, oder irgendwelche Aufgaben der Sozialfürsorge. Die innere Zusammensetzung einer Musik aber, die nur noch freut, daß sie dienen darf, gerät dadurch in einen Bann. Überemsig nach außen, verliert sie die Innenspannung. Sie wird konkretistisch und abstrakt zugleich; befangen im Anlaß, verkümmert in der eigenen Entfaltung. Man weiß, welche Rolle einmal in der Jugendbewegung das Wort Musikant spielte, wenn jetzt auch, aus Angst vor der Spitzmarke Romantik, die ehemalige Jödesche Musikantengilde sich umgetauft hat, ohne daß man doch die Phrase vom urgesunden Musikantentum entbehren möchte. Der Begriff des Musikanten aber meint insgeheim bereits den Vorrang des Musizierens über die Musik; daß einer fidelt soll wichtiger sein, als was er geigt. Man malt sich insgeheim wohl einen Zustand diesseits der Kodifizierung musikalischer Texte aus; von ihm erwartet man retrospektiv Hilfe gegen die Verdinglichung, während die musikalische Notation, also die Objektivierung der Werke, weit hinter die ältesten der propagierten Modelle zurückreicht. Stillschweigend wird instrumentale oder vokale Tätigkeit dem Dargestellten vorgezogen im Namen sich selbst genügender Spontaneität, die aus primärem Trieb stamme, ohne Rücksicht darauf, daß der Tätigkeitsdrang selber ein bloßes Derivat ist, die nach innen gewandte Notwendigkeit, zu arbeiten. Aber man wähnt, solche musikalische Betriebsamkeit sei der Reflexion entzogen, welche die Beziehung auf einen authentisch festgelegten Text allemal setzt, in wunderlichem Kontrast zu dem disziplinären, meist starren Charakter der gebotenen Musik selber, und zu der pedantischen Werktreue, deren man gleichzeitig sich befleißigt. Das Musikantenideal, das zunächst etwa an slawischen Komponisten des neunzehnten Jahrhunderts vom Typus Dvorak gebildet war, die längst selber als Romantiker anathema sind, hat dann wiederum auf die Kompositionspraxis übergegriffen. Die Werke werden weniger aus der Imagination hergeleitet als aus den Praktiken der Klangerzeugung und zeigen im übrigen auch an sich den Gestus eifrigen Musizierens, eine Art rastloser Geschäftigkeit; Hindemiths Stil hat dafür das Vorbild abgegeben. Worauf es einzig ankäme jedoch – der innere Fluß des Komponierens, der gerade dort durchbricht, wo er keines perpetuum mobile bedarf – wird scheel angesehen.
Technische Sachverhalte solcher Art nähme man zu leicht, beurteilte man sie bloß musikalisch. Die Substitution von Mitteln für Zwecke, die übrigens keineswegs auf die Jugendmusik sich beschränkt, sondern in deren extremen Gegensätzen, der Amüsiermusik und der fortgeschrittensten autonomen, ebenfalls sich konstatieren läßt, mißt sich einem gesellschaftlichen Sachverhalt an, der Schrumpfung der materiellen Basis des Komponierens. Die verwaltete Welt verlangt an Stelle der gleichsam frei, anonym für den Markt produzierten Musik wieder »Gebrauchsmusik«, zweckbestimmte Stücke. Das streamlining, das ökonomisch der Anarchie der Warenproduktion ein Ende bereitet, regrediert ästhetisch hinter die Ära des Hochliberalismus. Diese Not wird der Jugendmusik zur Tugend. Ihr Einleuchtendes liegt bei ihrer handgreiflichen Adäquatheit an den gesellschaftlichen Zustand; ihr Täuschendes darin, daß sie ihn durch ihr eigenes Gebaren sanktioniert und ideologisch womöglich als den ausgibt, der die »überästhetischen Kräfte« entbinde. Im musikalischen Triumph des Gebrauchswesens, das die Jugendmusik so gern in ein geistiges, innerliches, von materiellen Bindungen unabhängiges Verhalten, ins Ethos umdeutet, erfüllt sich nur das Marktgesetz selber, das nackte für andere Sein, der reine Warencharakter, nachdem es dem ästhetischen An sich materiell ans Leben ging. Zu den Lieblingsworten der Jugendmusik, wie zum neudeutschen Jargon der Eigentlichkeit insgesamt, gehört »Auftrag«. Auch im Titel von Wilhelm Ehmanns Buch »Erbe und Auftrag musikalischer Erneuerung«, den man freilich nicht ihm selber zur Last legen sollte, kehrt er wieder. Exemplarisch ist die Zweideutigkeit jenes Wortes. Seine Autorität bezieht es von theologischen Erinnerungen, dem Auftrag Gottes; seinen Inhalt von Aufträgen irgendwelcher Instanzen, Behörden oder Gremien. Die Positivität solcher Aufträge hüllt sich in den Dunst ursprünglicher, unentstellter, womöglich transzendenter Erfahrung. Ob jedoch die Zwecke, denen die beauftragte Musik dienen soll, gut oder schlecht, wahr oder falsch, solche von Verwaltung oder solche von Freiheit sind, wird von dem zum Konkreten entschlossenen Musiker nicht bedacht. Eine Liste von Aufträge erteilenden Instanzen führt »karitative und soziale Verbände, Jugendorganisationen und die große Vielfalt dererlei« auf. Wenn solche Stellen Musik brauchen und finden, so hat das nach den Spielregeln von Angebot und Nachfrage seine Richtigkeit, führt aber keineswegs der Musik »überästhetische Kräfte« zu, sondern die institutionelle Kontrolle verhält sie zum Unterästhetischen. In solchen Listen ist die Affinität der Spiel- und Singmusik zur verwalteten Welt schlagend. Kaum je dürfte in der Musik soviel von Organisation, Organisationsfragen, Tagungen und ähnlichem die Rede gewesen sein wie in den Blättern der Musikanten. Der Sinn der Aufträge ist keineswegs, daß Musik, nach dem Wort des Novalis, sich ins freie Leben zurückbegebe. Wilhelm Ehmann fragt mich, was ich als Lehrer einer Volksschulklasse oder gar als Flüchtlingsvater in einem Bunker oder Behelfsheim musikalisch anfangen würde. Ich kann mich in einem solchen Beruf schwer vorstellen, aber die Frage wirft Licht auf den Standpunkt, von dem aus gefragt wird. Es ist der von Zwangssituationen. Ein verzweifelter Flüchtlingsvater muß vielleicht zur Blockflöte und zum Gemeinschaftssingen greifen; die Ideologie der Jugendmusik hat längst ihr Echo in erheblichen Sektoren der Jugend selbst, die danach verlangen. Schuld aber trüge eine Situation, die jede freie Regung von vornherein erstickt und die Hoffnung aufs Überleben an autoritäre Ordnung knüpft. Wenn Menschen unter äußerstem sozialen Druck auf ein primitives Stadium zurückgeworfen werden, so ist die damit hergestellte Angemessenheit von Situation und geistiger Verhaltensweise kein Zeugnis wiedergewonnener Harmonie oder gar Spontaneität, sondern deren Gegenteil; Kunst wird zu einem Behelfsmittel des bloß Bestehenden, zur zusätzlichen Nahrung, weil doch nun einmal der Mensch nicht von dem Brot allein lebt, das in jenen Situationen ihm vorenthalten wird. Das Unrecht ist nicht bei denen, welche das Bestehende zu solchen Regressionen nötigt, sondern bei denen, die den Notstand als konkret verherrlichen – eine Tendenz übrigens, die keineswegs auf die Musik sich beschränkt, sondern auch in der Soziologie des restaurativen Deutschland viel Beifall erntet. Man ergreift die Partei der Not, die beten lehrt.
Wilhelm Ehmann erklärt sich gegen den Positivismus. Die Jugendmusik insgesamt hüllt sich in eine Aura des Geweihten oder Idealischen – sei's, daß sie unmittelbar an Theologie sich anlehnt, sei's, daß das Wort Jugend als solches die Augen aufschlägt, wie in dem Ausdruck »Junge Musik«, den man mit soviel psychologischer Klugheit wider die Neue Musik wendet. Aber was den geschichtlichen Stand nicht Wort haben will, verfällt um so gründlicher der Zeit. Wilhelm Ehmanns pragmatistische Forderung nach der Anpassung von Musik an je gegebene Situationen wird so wenig dem Positivismus entgehen wie das Verhältnis der Singbewegung zur alten Musik. Sie verläßt sich dabei auf eine wertfrei operierende Musikwissenschaft, die, an den eigentlichen Kompositionsproblemen bis auf wenige Ausnahmen recht desinteressiert, dürftige Leistungen sogenannter kleiner Meister, die keine sind, mit demselben Ernst behandelt wie die authentischen Werke, und jene womöglich noch vorzieht, weil über sie noch nicht soviel gearbeitet worden sei. Hinzu tritt das Bedürfnis, obsolete Produkte wieder zu beleben, um mit den Schatzkammern der Kunstgeschichte konkurrieren zu können. Durch Symbiose mit der Musikwissenschaft wird die Singbewegung wahllos gegenüber der Tradition; im sechzehnten Jahrhundert und vollends in der fälschlich so genannten Barockmusik wird von ihr kaum nach dem kompositorischen Rang unterschieden. Wilhelm Ehmann meint, es sei nicht gleichgültig, ob ein Musikwissenschaftler sich mit Richard Wagner oder Heinrich Schütz beschäftige. In der Tat, wenn einen Musikwissenschaftler als Musik, und nicht als Weideland zum Dissertieren, Schütz mehr fesselt als Wagner, so bezeugt das zunächst einmal elementare Unkenntnis kompositorischen Formniveaus. Selbst das heruntergekommene offizielle Musikleben ist der Singbewegung immer noch insofern überlegen, als es sich weigert, Renaissancen zur Kenntnis zu nehmen, die sich der unheiligen Allianz von Collegium musicum und Singkreis verdanken.
Die Jugendmusik aber praktiziert alle mögliche historisch, sei's wirklich sei's vorgeblich, wichtige Musik, als wäre ihre geschichtliche Relevanz eins mit ihrer Qualität oder auch nur mit der Möglichkeit ihrer gegenwärtigen spontanen Erfahrung. Daß man über handfeste technische Maßstäbe für Gut und Schlecht innerhalb einigermaßen umrissener Verfahrensweisen verfügt, weiß man kaum. Spitta und Riemann hatten noch ein Organ für die unermeßliche qualitative Differenz zwischen Bach und Zeitgenossen wie Telemann oder rudimentären Vorformen wie Schütz. Dies Bewußtsein ist geschwunden oder wird absichtlich unterdrückt, als ob man das Distanzierende, Unberührbare an großen Kunstwerken nicht ertragen könnte. Unter Musikern sind jene Differenzen selbstverständlich; der Respekt vor historisch etablierten Namen jedoch ebenso wie die Tauglichkeit gerade mittleren Gutes für kollektive Übungen schafft in den jugendbewegten Laienkreisen einen Geisteszustand, den Scheler Wertblindheit genannt hätte. Wohl können archaische, unbeholfene Gebilde durch die Kraft des Zum-ersten-Mal höher rangieren als voll ausgereifte. Aber um zu dieser Erfahrung zu dringen, bedarf es zunächst einmal der jener Unzulänglichkeiten, in denen man dann nach heiliger Frühe fahnden mag; übrigens war Telemann kein Giotto und Schütz kein Piéro della Francesca. Wären sie es selbst, so läßt die heute einmal erreichte Materialbeherrschung nicht willkürlich in einen beschränkteren Horizont sich zurückschrauben. Der Einwand, den Erich Doflein und andere gegen mich erhoben: ich operiere in solchen Erwägungen mit einem Begriff absoluter musikalischer Qualität, schlägt nicht durch. Die Relativität von Kunst, als von Menschenwerk, reicht nicht aus, den Unterschied zwischen einem gut und einem schlecht harmonisierten Choral, einem plastischen und einem verschwommenen Kontrapunkt wegzuwischen. Das technisch Brüchige, die unzulängliche Imitation von Mustern ist durch keine Berufung auf kollektive Verwertbarkeit oder Auftrag zu retten. Paradox übrigens, daß eine Schule, die sonst allem nach ihrer Ansicht Relativistischen, vorgeblich Destruktiven in selbstgerechter Positivität opponieren zu sollen glaubt, sich auf den Allerweltsrelativismus des Geschmacksurteils herausredet, sobald es um ihre eigenen Güter geht.
Dabei waltet allenthalben dogmatische Sympathie mit Ewigkeitswerten. Man versucht, Kategorien und Formen geschichtlich begrenzten Wesens als Invarianten, Urelemente, Seinsstrukturen zu restituieren inmitten von Voraussetzungen, die ihnen widersprechen. Das verbindet sich mit Weltanschauung im anrüchigsten Sinne des kunstgewerblichen Wortes: viel weniger hat sich darin gegenüber der alten Jugendbewegung geändert, als man mir einreden will. Es käme auf Begegnungen an, sagt Georg Götsch6, aber sie sollen beileibe keine Diskussion sein. Das kann nur heißen, daß Sprache, die auf begriffliche Mittel und damit auf Vernunft verwiesen ist, den eigenen Anspruch der Rationalität opfern soll. Selbst Wilhelm Ehmann argumentiert gegen mich im Sinn der traditionellen Jugendbewegung: »Auch am gemeinsamen Singen scheint Adorno selbst nie beteiligt gewesen zu sein.« Den Ohren des musikalischen Nichtlaien kann das wohl nicht ohne weiteres zugemutet werden; gehört man aber zu einer solchen Gemeinschaft, dann waltet im allgemeinen bereits jene Identifikation, welche die Unabhängigkeit des Gedankens lähmt, die Wilhelm Ehmann mir immerhin zubilligt. Gerade er, der den Erlebnisbegriff der alten Jugendbewegung scharf attackiert, sollte auch vor Ideen wie der des gemeinsamen Singens nicht haltmachen, die aus jenem Begriff entsprang. Sonst gerät er unfreiwillig in die Nähe der Ansicht, man könne über den Nationalsozialismus nur dann urteilen, wenn man selbst dabei gewesen sei. Den Opfern ist das im allgemeinen nicht möglich gewesen. Georg Götsch gar predigt, übrigens nicht ohne in den eigenen Reihen Widerspruch zu finden, eine »Liturgie des Alltags« und eine »Theologie des Leibes«, und weckt das Gedächtnis an Fidus, Jugendstil und Lebensreformer; noch einmal die alte Ruskinsche Schimäre, durch ästhetische Veranstaltungen, durch die Wiederherstellung unversehrter sinnlicher Anschauung dem verödeten Leben metaphysischen Sinn einzublasen. Favorisiert wird von ihm und anderen der Begriff der Ganzheit des Menschen. Sie ist längst so auf den Hund gekommen, daß es dringlich ward, im Namen des œuvres von Marcel Proust daran zu erinnern, daß der Mensch keine Ganzheit sei. Wird deren Begriff aus seinem legitimen wissenschaftlichen Zusammenhang, dem der Gestaltpsychologie, entfernt, so verwandelt er sich leicht in den Vorwand, Vernunft und Wissenschaft nach Mephistos Empfehlung zu verachten, als mechanistisch zu denunzieren, Analyse mit Zersetzung zusammenzubringen.
3
Wer verlangt, daß man mitgesungen haben müsse, ehe man den Mund aufmachen darf, wird anführen, Singen sei ein menschliches Grundverhalten, eine »Befindlichkeit«, ein Existential und darum vorweg fördernswert. Wäre es selbst den Leitern der Jugendmusik gelungen, die von ihnen Erfaßten zum hemmungslosen Singen zu veranlassen – und niemand, der je bei einer »offenen Singstunde« Fritz Jödes zugegen war, wird dessen eigentümliche Suggestionskraft unterschätzen –, darf dies Verdienst nicht unbestritten bleiben. Nirgends steht geschrieben, daß Singen not sei. Zu fragen ist, was gesungen wird, wie und in welchem Ambiente. Die Hemmungen, welche die Jugendbewegung wegräumte, hatten keinen durchaus schlechten Grund, wie denn bei dem frischen Drauflossingen ein Ton des Gewaltsamen, des gekauften Mutes, der Patzigkeit kaum zu überhören ist. Ich erinnere mich deutlich, wie peinlich es mir war, wenn meine Mutter und deren Schwester – beide Sängerinnen von Beruf – etwa auf Bitten meines Vaters im Wald »O Täler weit, o Höhen« anstimmten. Dem Singen als einem Stück natürlichen, auf reale Situationen anstatt aufs objektivierte Kunstwerk bezogenen Verhaltens antwortet Scham. Das Sensorium weiß, wie weit die empirische Person und das ästhetische Subjekt auseinanderklaffen, und sträubt sich gegen den Schein, beide wären dasselbe – vielleicht, weil die Idee solcher Identität um keinen Preis herabgewürdigt werden darf, indem man sie als erreicht vorspiegelt. Gleich unrecht tut man dem Leben, das kein unmittelbar sinnvolles ist, von dem sich singen ließe, wie der Kunst, die der Idee des Absoluten Treue wahrt durch Distanz zur empirischen Realität. Die Singbewegung aber übertönt jene innere Stimme, welche nicht die des unbefangenen Singens ist. »Musizierfreudigkeit« insgesamt ist isoliert genommen weder ein Positives noch Negatives; wird sie um ihrer selbst willen – auch sie Mittel als Zweck – gepflegt, so wird sie zur Ersatzbefriedigung erniedrigt, die hinwegtäuscht über reale Versagungen. Im Lob der Musizierfreudigkeit klingt der von Brecht formulierte Gedanke »Tun ist besser als Fühlen« an. Aber der Begriff der Praxis ist in seiner Abstraktheit keineswegs besser als der der selbstgenügsamen Theorie. Wo es sich darum handelt, Menschen konkret von Opiaten zu befreien, mag jener Satz gelten, obwohl die Wut auf Opiate nicht frei ist vom Neid der Nüchternen. Sonst aber ist die Bejahung der Aktivität als solcher dubios. Sie überträgt gleichsam die eingeschliffene Arbeitsmoral immerwährender, unermüdlicher Anstrengung auf die Kunst und verkennt gewaltsam, daß Kunst, wieviel sie auch im eigenen Umkreis als Anstrengung erheischt, wesentlich Antithese ist zum Betrieb der Selbsterhaltung. In der Musik kann darum vom Primat des Tuns nicht die Rede sein, weil sie irrevokabel sich vergeistigte. Längst steuert musikalische Imagination das Hervorbringen von Tönen. Gegenüber dem bloß passiven Registrieren sinnlicher Reize ist sicherlich die angemessene künstlerische Erfahrung aktiv oder vielmehr »spontane Rezeptivität«. Gerade die radikale neue Musik, Ärgernis der Musikanten, verlangt zur Auffassung ihrer Polyphonie und ihres komplexen Baus solche geistige Tätigkeit. Die aber ist grundverschieden von manuellen Verrichtungen.
Die angestrebte Musizierfreudigkeit, sozialpsychologisch gar nicht so verschieden von der Pseudoaktivität der Jazzfans7, ist infantil. Ihr Habitus mahnt an eingefrorene und nachträglich zum Programm erklärte Pubertät. Aber ihre charakteristische deutsche Reaktionsform ist umgekehrt als beim Jazz. Was die Jugendmusik an Ernst voraus hat vor der Amüsiermusik, macht sie wett durch eine verkniffene Haltung gegen das sinnliche Glück, das sie mit der Sphäre der Amüsiermusik vermengt. Horkheimer hat den Halbwüchsigen erfunden, der, wenn er einem hübschen Mädchen begegnet, zu dem es ihn zieht und das er sich aus äußerem oder innerem Zwang verbieten muß, abschätzig sagt: Pfui, die stinkt ja nach Parfum. So führt sich die Jugendmusik auf. Das legitime ästhetische Bedürfnis nach reiner, unornamentierter Darstellung wird zum Vorwand puritanischer Verfolgung alles Bunten und Lockenden, keineswegs bloß der Kitschfarben der Amüsiermusik, sondern auch jener Klänge, in deren Schärfe der negierte Wohllaut aufbewahrt wird; verhaßt ist noch die Lust im Leid. Man muß keinen Psychoanalytiker konsultieren, um einen antisexuell-asketischen Zug zu bemerken, ein Ethos der Prüderie, zurückdatierend auf die ältere Jugendbewegung8. Die Feindschaft gegen Psychologie und Ausdruck, die den Geschmack der Jugendmusik definiert, ist nicht objektiver Geist jenseits der Psychologie, sondern Angst vor ihr. Der Hang zur Reinigung und Ausmerzung beruht auf Verdrängung. Sie motiviert die konventikelhafte Weltanschauung, die das Partikulare zum Ganzen aufbläht. Daß in der Musik die Farbe aus der Konstruktion folgen, sich nicht als bloßer Effekt verselbständigen soll, hat die große neue Musik demonstriert; die Jugendmusik aber meint eigentlich nicht das – die konstitutive Beziehung von Farbe und Zeichnung ist ihrem historistischen Klangideal ganz gleichgültig –, sondern möchte die Emanzipation der Farbe als einer selbständigen kompositorischen Schicht überhaupt widerrufen und den Zustand vor ihrer Entdeckung wieder herstellen. Daran heftet sich ein zelotischer Affekt von dem Typus, wie er durchwegs repressiven Massenbewegungen gesellt ist. Man könnte dagegen die Restauration verschollener alter Instrumente und ihrer Farben halten. Aber das trügt: die ausgegrabenen Farben werden goutiert um ihrer Unfarbigkeit, Unsinnlichkeit, Sprödigkeit willen. Man braucht nur den zugleich nüchternen und läppischen Klang einer Blockflöte zu hören und dann den einer wirklichen: die Blockflöte ist der schmählichste Tod des erneut stets sterbenden großen Pan. Offenbar will man im gleichen Geist nun auch der Posaune die eherne Stimme rauben und am liebsten alles, was sich an Farben überhaupt findet, nach dem dürftigen Brauch von Stadtpfeifereien aus der Zunftzeit ummodeln.
Nicht um musikalische Stilfragen handelt es sich bei alldem, sondern um ein Gesellschaftliches und Psychologisches. Das läßt sich an den literarischen Äußerungen der Jugendmusik ablesen. Alle eifern etwa gegen Snobismus, gleichgültig, was sie sich darunter denken. Keiner soll sich besser dünken als die anderen, keiner sich distanzieren: der Kleinbürgerhaß gegen eine Luxusschicht, von der man sich ausgeschlossen fühlt und auf die man das Verbotene und insgeheim Ersehnte projiziert, ist hier untergeschlüpft zusammen mit einem Antiintellektualismus, der hinter jeglicher Überlegenheit Wichtigmacherei wittert und sie mit dem Stolz des »mir san mir« niederschlägt. Die Norm sei gesund, die Abweichung krank. Darauf basieren zumal Urteile über die exponierte neue Musik im Gymnastikerinnen-Ton wie das von Georg Götsch: »Ob uns wirklich ›neue Musik‹ gelingt, hängt ebenfalls davon ab. Bisher verlieren sich viele moderne Komponisten in rationale Experimente, in harmonische und rhythmische Spitzfindigkeiten, und verlieren dabei die Ganzheit der Kunstnot aus dem Auge. Glauben sie wirklich, dem ausgedörrten Mutterboden der Künste noch Gras und Korn abzuringen? Der kann erst wieder tragen, wenn ihn das Wasser neuen Lebens tränkt; bis dahin mag ihm Brache ziemen. Wer nicht selbst alle seelischen Grundkräfte wiedergewinnt, wie kann dessen Tun fruchtbar sein? Wessen persönlicher Rhythmus gestört ist, wie kann der rhythmisch gesunde Musik schreiben, und gar Tanzmusik?«9 Aber die ästhetische Produktivkraft ist von der seit Riemanns Ausfällen gegen Schönberg immer wieder angeprangerten »Lust, Unerhörtes zu leisten«, gar nicht zu trennen. Wer nicht sucht, findet nichts. Der Aberglaube an die pure Unwillkürlichkeit in der Kunst begnügt sich mit der Billigung des Billigen. Wem es an Empfindlichkeit gegen Banales und Abgegriffenes, gegen das heute allemal sich selbst bespiegelnde Biderbe und Tumbe mangelt, ist kunstfremd, auch wenn er über das Musische orakelt. Das ist die Sphäre, die ich in meinen Thesen angegriffen hatte und die mit ihrer kernigen Verteidigung meinen Angriff bestätigt: »Entschlossen will man vergessen, was an Differenzierung, subjektiver Ausdruckskraft sich auskristallisiert hat. Menschliche Rückbildung, ein Typus der es noch nicht zum Individuum gebracht hat, möchte sich als den höheren, in der Gemeinschaft aufgehobenen behaupten, ohne daß er das Glück von Individuation und Freiheit auch nur erfahren hätte.« Jens Rohwer empört sich darüber, daß ich die Bewegung »organisierter Banauserie«10 geziehen hätte. Nun sagte ich nicht Banauserie, sondern Banausie, wie es Jacob Burckhardts Sprachgebrauch und korrektes Deutsch ist; man soll wenigstens die Worte genau lesen, gegen die man eifert. Aber an der Sache fände ich nichts zurückzunehmen. Die »Entkunstung der Kunst«, die ich am Jazz konstatierte11, erstreckt sich auch auf die Musikbewegung; etwas Wind- und Lodenjoppiges, auftrumpfend Naturnahes, das sich aus der Verachtung vorgeblich bürgerlicher Formen eine Ehre macht, weil das Glück der Form selber, ohne das es keine Kunst gibt, verkümmerte. Von diesem Glück weiß der ästhetische Snob, selbst wenn er der Werke nicht mächtig ist; einer, der sich einen Picasso kauft, den er nicht versteht, aber aufs Fremde daran anspricht, ist mir lieber als ein Ethiker, der, Gift und Galle spuckend über das unverständliche Zeug, sich den Hans Thoma kauft, den er ja versteht. Man stößt in diesem Komplex wohl auf die Kernschicht der Jugendmusik. Ein Herr Baumgärtner etwa hat einen Brief publiziert, in dem vom »Aufbruch der Singbewegung« und dem »Anliegen« bis zum »Ur-Gut der Musik« schlechterdings alles versammelt ist im Zeichen offener Genußfeindschaft und verdrückter Askese. »Als Beispiel diene das Bild einer Singwoche des Jahres 1930 und des Jahres 1950. 1930 waren sich die Singenden bewußt, daß der Umgang mit geistigen Gütern einen beherrschten Körper voraussetzt und damit erst wirklichen Gewinn bringt. Der Wert einer freiwilligen Askese war dem Menschen neu aufgegangen. Das Morgenturnen aller war selbstverständlich, Enthaltsamkeit von allen Reizmitteln (Alkohol, Nikotin), freiwillige Pünktlichkeit, Einordnung in die Gemeinschaft, unbedingte Nachtruhe, Verzicht auf scheinbar wichtige Zivilisationsgüter fraglos.«12 Man möchte lieber nicht erst fragen, auf welche Zivilisationsgüter hier verzichtet werden soll. Das asketische Ideal Baumgärtnerschen Stils hat sich losgelöst von dem theologischen Grund, ist Selbstzweck und damit erst ganz böse geworden: Negation der Sinnlichkeit um der Negation willen. Die masochistische Komponente des Eifers zur Einordnung in die Gemeinschaft wird kaum mehr rationalisiert. Komplementär zu jener Komponente ist, im Sinn der sozialpsychologischen Kenntnis des ambivalenten Charakters, die sadistische. Die schäumende Jugend, die sich da der scheinbar wichtigen Zivilisationsgüter entäußert, zählt unter diese auch Brahms und beantwortet die Aufführung eines seiner Chöre mit schallendem Gelächter13. Möglich, daß unter den Brahmsschen Chören Liedertafelhaftes steht, wenngleich kaum etwas vom Durchschnittsniveau des siebzehnten Jahrhunderts oder des Herrn Hessenberg. Aber mit welchen Ohren hört man Brahms, wenn man an seinen Nebenprodukten das Mütchen kühlt. Wer so aufmuckt, ist schon bereit zum Ducken. Vom verdrängten Elternhaß ist nicht weit zum Kultus schlichter Altmeister und anderer Ahnen. Zahlreiche Zuschriften haben sich mit Baumgärtner solidarisiert.
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Die Apologeten der Jugendmusik werden nicht zögern, entweder Äußerungen wie die Baumgärtners als Randphänomene zu bagatellisieren oder ihre Deutung dem bösen Blick des Betrachters zuzuschreiben, als spränge nicht ihr symptomatischer Gehalt ebenso in die Augen wie die Redaktionspolitik der offiziellen Zeitschriften, die dergleichen begünstigen. Sie beschweren sich, weil ich die objektive Tendenz der Bewegung – nicht die subjektive politische Gesinnung irgendeines einzelnen – dem Faschismus zugerechnet habe, und möchten sich deshalb am liebsten »Luft boxen«14. Aber die Publikationen wimmeln von Äußerungen, die aufs Haar dem gleichen, was man einmal mit Recht Gedankengut, nicht etwa Gedanken, nannte. Georg Götsch gegenüber ist das von Theodor Warner, einem der wenigen selbstkritisch gesonnenen Exponenten der Singbewegung, scharf formuliert worden. »Übrigens – ›Saftströme des Ursprungs‹ – das kennen wir doch, wie hieß das vor 1945? Im Kontrast damit ›spätzeitliche Überreife‹: auch dafür gab es einen anderen Ausdruck, mit dem sich nicht nur trefflich gegen die moderne Kunst argumentieren, sondern vertreiben und zerstören ließ ... Wie lange will man noch solche im voraus definierten ›Ursprünge‹ suchen, nachdem genügend politische Beweise dafür vorliegen, daß sie atavistische Neigungen haben?« Solche Neigungen sind keine bloßen Reste der alten Jugendbewegung, sondern längst mit anderen Techniken der »Erfassung« verschmolzen. Von einer Schlüsselfigur der Singbewegung vernimmt man: »Der totale Staat hatte erkannt, daß die selbsttätig ausgeführte Musik ein wesentliches Element der Erfassung des jungen Menschen ist und daß zur Erfüllung der Jugendzeit das Lied einen entscheidenden Beitrag zu geben hat. Die einst im Nebenfach gepflegte Musik war plötzlich zu einem Hauptelement der Bildung des künftigen Volkes berufen. Wie man auch zum totalen Staat Adolf Hitlers stehen, welche Erfahrungen man auch im einzelnen in ihm gemacht haben mag, es ist nicht zu bestreiten: in diesen Jahren ist es weithin gelungen, das Grundanliegen der Jugendbewegung zu erfüllen und ein tätiges, eigenständiges Leben der Jugend zwischen der Kinderzeit und der Zeit des Erwachsenseins zu verwirklichen. Daß in dieser Zeit die Hitler-Jugend die aus weltanschaulich-politischen Gründen geschaffene Front gegen Schule und Elternhaus hatte und dadurch zerstörend wirken mußte, steht auf einem anderen Blatt und muß für die vorliegende Betrachtung außer Acht bleiben. Das Entscheidende ist, daß es damals gelungen ist, die Jugend zu einem gemeinsamen Tun, zu schöpferischer Gestaltung der Freizeit zu gewinnen. Es ist auch kein Geheimnis, daß sich viele Führer der Jugend- und auch der Singbewegung (selbst wenn sie dem National-Sozialismus als Skeptiker oder Gegner gegenüberstanden) bewußt in diese Arbeit hineingestellt haben, weil dies der einzige Weg war, im Dritten Reich die Jugend zu erreichen.«15 Das genügt. Die Liberalität der Formel »wie man auch zum totalen Staat Adolf Hitlers stehen mag« dient einzig der Toleranz gegen den Todfeind von Liberalität. Nicht darum geht es, »welche Erfahrungen man auch im einzelnen in ihm gemacht haben mag«, und auch nicht darum, daß die Nazis »Schule und Elternhaus« nichts mochten, sondern um die Erfahrungen der Millionen, die der Hitler in Gaskammern ermorden oder auf den Schlachtfeldern zugrunde gehen ließ. Das allein, nicht das »gemeinsame Tun der Jugend« entscheidet. Solange die Organe der Jugendmusik Äußerungen solcher Gesinnung unwidersprochen drucken und nicht rücksichtslos dafür sorgen, daß dergleichen Erfasser bei ihnen nichts mehr anzugeben haben, besteht der Verdacht der Boxfreudigkeit zu Recht.
Die geistige Ahnenreihe der Singbewegung enthält denn auch ausschließlich extrem reaktionäre Autoren. Ihre Manifeste lassen eine verwandte Saite anklingen, ohne daß man bei den Parolen stutzte, geschweige denn die konkreten sozialen Zusammenhänge erwähnte, in denen jene Vorfahren wirkten. Besonders stolz ist man auf die Tradition des von dem berühmten Heidelberger Juristen Thibaut während des Vormärz wiederbelebten A-capella-Singens. Er war ein so gründlicher Reiniger, daß er selbst Mozart als Verderber deutschen Wesens befocht; wie denn die Tabus der gegenwärtigen Singbewegung sich keineswegs bloß auf die Romantik erstrecken, sondern, ohne daß das offen gesagt würde, auch auf Haydn, Mozart und Beethoven, die zwar nicht verboten, aber, im Sprachgebrauch des Dritten Reiches, unerwünscht sind. Thibaut frönte jedoch seiner Reinigungswut in seinem eigentlichen Gebiet nicht weniger als wo er dilettierte; der lauteste Sprecher jener Richtung der historischen Schule, welche das traditionell-germanische Recht von dem rational-römischen säubern wollte – ein Versuch, den dann, wie man weiß, die Nationalsozialisten fortsetzten. Schon Hegel hat das finster Bedrohliche dieser Art von Irrationalismus des Vormärz in der Rechtsphilosophie gebrandmarkt; die Verehrung der musikalischen Jugendbewegung für Thibaut aber kümmert sich nicht darum. Nicht minder hochgeschätzt wird Wilhelm Heinrich Riehl, der hübsche Novellen und Aufsätze über Musik schrieb, sonst aber um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts ständisch-restaurative Soziallehren vertrat. Er riet in aller Unschuld, den Verwüstungen des Industriekapitalismus mit vermeintlich natürlichen Ordnungen entgegenzuwirken, denen damals bereits der Industrialismus den Boden entzogen hatte. Heute ist das Mißverhältnis ins Groteske angewachsen, und einzig die rückschrittlichsten, provinziell beschränktesten Schulmeister schwören noch auf Riehl. Von zeitgenössischen Autoren wird Sedlmayr, der die neue Kunst des Verlusts der Mitte zeiht, von dem repräsentativen Richard Baum mit Sympathie zitiert, in einem Atem mit dem Lob der Bindungen und der Phrase vom Gegensatz des Organischen und Anorganischen16. Man verabscheut die Moderne und will doch zeitgemäß sein: die Formel dafür ist Erneuerung. Sie verfälscht das Neue vorweg in die Restitution eines Alten, wird mit dem Prädikat des ethisch Lobenswerten assoziiert, erwartet die Veränderung der Welt von der bloßen Inwendigkeit des einzelnen, der sich regeneriere, und schleppt automatisch einen Vorstellungsschatz mit, der vom Naturheilverfahren über die Reinheit von Blut und Rasse bis zur Ausmerzung des Entarteten reicht. Stets pflegten die deutschen Erneuerungen gegen Minderheiten zu gehen, und die sittliche Kraft, die sie aufrufen, hat die Gewalttat schon in sich. Das ideologische Klima ist anheimelnd.
Die Singbewegung hat die Erbschaft des zugleich konservativen und scheinrevolutionären Flügels der deutschen Jugendbewegung angetreten. Erleichtert wurde ihr das, weil die bündischen Sonderinteressen jenes Flügels ihn seinerzeit, ohne daß man im Kern allzusehr differiert hätte, in Konflikt mit der Partei brachten. Daher kann man sich heute mit gutem Gewissen auch noch als Widerstandsgruppe fühlen. Unbestreitbar aber ist die Gemeinsamkeit mit dem Faschismus in entscheidenden Positionen: dem Appell an die sogenannte Jugend als eine zugleich dynamische und gesellschaftlich vage Gruppe; der Anbiederung ans Volk und dessen angeblich heile oder naturhafte Kräfte; dem Vorrang des Kollektivs gegenüber dem einzelnen; der Diffamierung des Intellekts nicht minder als der Sinne und jeglicher subjektiven Differenzierung; dem bewährten Verfahren, Rückbildungen als Ursprünglicheres und Echteres, ja als fortgeschrittener denn der Fortschritt auszuposaunen. Wie der Nazi gegen entartete Kunst tobt, hat man noch jüngst in Lindau ein keineswegs besonders aggressives Stück von Anton Webern ausgepfiffen: immer noch überlebt der Nachhall des ominösen »Die deutsche Jugend lehnt das ab«, welche an Stelle des sachlichen Urteils die Berufung auf die Vielen rückt, die sich einig seien. Als ich in der Darmstädter Akademie den Vortrag über das Altern der neuen Musik hielt, trat mir in der Diskussion zornbebend ein Sprecher der Jugendmusik, dessen eigene Produktion sonst mehr mit Heinzelmännchen befaßt ist, entgegen, und fragte rhetorisch: »Woher nehmen Sie, Herr Adorno, den Mut, so über Männer wie Strawinsky und Hindemith zu reden, die der deutschen Jugend soviel bedeuten?« Die Berufung auf Wirkungszusammenhänge ersetzt die Besinnung über die Sache; der Redner verteidigte seine Heroen mit Argumenten, die denen geläufig sind, welche die Erzeugnisse der Kulturindustrie beschützen, weil man doch den Leuten nicht wegnehmen dürfe, was sie mögen. Unerträglich war die Abweichung von der communis opinio derer, die sich selber als deutsche Jugend proklamieren. Auch darin gleicht trotz aller Proteste die organisierte Jugendmusik der älteren Jugendbewegung; schon in Hans Breuers Vorwort zum Zupfgeigen-Hansl begleiteten hämische Ausfälle gegen die Neutöner das innige Lob des Volkslieds.
Der latente Positivismus der Jugendmusik triumphiert in der Anpassung an die kollektive Meinung, der Allergie gegen autonomes Urteil. Mögen die Kollektive heute formalisiert oder mit Religion übertüncht sein, morgen können sie schon wieder trommeln. Ihr Konkretionsideal heißt nichts anderes, als daß die Kunst sich dem Gegebenen verschreiben, Bestehendes verherrlichen soll. Der gläubige Tonfall, mit dem man die bewahrende Funktion innerhalb gegebener Lebensformen anhimmelt, ist kaum etwas anderes als die Verschleierung jener Tendenz. Je mehr die Rationalität der gegenwärtigen Gesellschaft sich durchsetzt, um so eifriger und geschickter betreibt sie die Ideologie des Unbewußten, weil das Ganze sonst sich nicht ertragen ließe von denen, die es bilden. Die bei aller Rationalisierung unveränderte Irrationalität der Verhältnisse selber schafft für derlei Ideologien prächtige Voraussetzungen. Die Singbewegung profitiert von einem Aspekt dessen, was die amerikanische Soziologie cultural lag nennt: daß in einer hocharbeitsteiligen Industriegesellschaft die Entwicklung der künstlerischen wie aller geistigen Produktivkräfte der gesellschaftlichen Rezeptionsfähigkeit vorauslief. Diesen fragwürdigen Zustand nutzt die Bewegung als positiv aus, indem sie das zurückgebliebene Bewußtsein der Rezipierenden, selber gesellschaftliches Produkt, zur Natur erklärt und fordert, daß ihm, um seiner kollektiven Breite willen, Musik und musikalische Übung zu willen seien. Jene, an die man sich wendet, möchten weder in einer Welt, in der die eigene Initiative auf enge Schranken stößt, eigentlich mehr frei sein, noch sind sie als Subjekte zur Autonomie gediehen, sondern vielfach bloß funktionierende Reaktionszentren, die, um sich in der eigenen Entwürdigung einzurichten, nach geistigen Formeln suchen, die ihre Existenz als die des dienenden Glieds im Ganzen, mit Vorliebe dem des Volkes, rechtfertigen. Das verleiht der musikalischen Jugendbewegung ihre Attraktionskraft: sie legitimiert den Verrat an der Freiheit, zu dem die Verfassung der Dinge die einzelnen antreibt und zu dem sie von sich aus drängen; sie übertäubt, was immer sie dabei an Unbehagen noch empfinden mögen. Wilhelm Ehmanns Rede von der »ungeheuerlichen Gefährdung« gilt keineswegs bloß für die traditionalen Formen von Gesellschaft und Musik, welche die Bewegung konservieren möchte, sondern mehr noch für den Bewußtseinsstand der Adepten, den sie hegt; eben darum möchte man die gefährdete Jugend vorab vor ihren Beschützern schützen.
5
Mit den impliziten politischen Tendenzen der Jugendmusik ist ein Äußerstes benannt. Keineswegs einheitlich in sich selbst – und die Vielfalt der Meinungen gibt ihr, trotz des deutlichen Grundhabitus, stets die Möglichkeit der Distanzierung – läßt sie Raum für solche, die ein Heilendes oder Rettendes von ihr sich versprechen, ohne sich ihr mit Haut und Haaren zu überantworten. Vorab gehört hierhin Erich Dofleins pluralistische Position: die Weltanschauung der Jugendmusikbewegung, ihren Zug zur Ausschließlichkeit teilt er nicht17. Aber er sieht in ihr ein wesentliches Moment der nach Extremen polarisierten, in Divergentes auseinanderbrechenden Situation. Alle ihre Richtungen definiert er als Radikalismus. Dessen Begriff ist dabei einigermaßen verdünnt; die Postulate der Jugendmusik stimmen weithin überein in geistiger und sozialer Konformität. Nicht alles ist radikal, was in irgendeiner Dimension zum Extrem geht, sondern nur, was in »rücksichtsloser Kritik des Bestehenden« den negativen Zustand von der Wurzel her angreift; von solchem Radikalismus kann in der Jugendmusik nicht die Rede sein. Wohl sind gegenwärtige Musik und gegenwärtiges Musikleben unversöhnlich gespalten. Aber daraus folgt weder die objektive Gleichberechtigung der einander entgegengesetzten Kräfte noch Vertrauen auf eine mittlere Synthese. Was vor der Krise sich geborgen wähnt, ist am letzten von dieser ausgenommen. Bei der Deskription der Vielheit wäre nicht stehenzubleiben: wie sie abgeleitet werden kann, ist auch über das spezifische Gewicht der disparaten Momente zu urteilen. Das cultural lag, in dem die Bewegung sich ansiedelt, ist selber so alt wie die Trennung der hohen von der niedrigen kommerziellen Musik; ja hohe und niedrige Kunst klaffen auseinander, seit es so etwas wie städtisches Bürgertum überhaupt gibt, also seit der Antike. Diese Diskrepanz ist gesetzt mit Arbeitsteilung und Bildungsprivileg. Sie schafft in geschichtlicher Notwendigkeit hier die Autonomie des Geistes, samt alldem, was Wahrheit und was Schein ist an ihr; dort verschreibt sie den Geist dem Konsum um den Preis der eigenen Konsistenz. Aber vom Konsum her ist der Bruch nicht zu heilen, der in der Gesellschaft entspringt; nicht aus den Wundmalen, welche die Gesellschaft im Bewußtsein ihrer Angehörigen zurückließ, die Religion kollektiver Wahrheit zu machen. Es gibt nur eine Wahrheit. Die Meinung, daß musikalisch Schönberg und die Spielmusiken nebeneinander leben könnten, als bestritte nicht das eine das Existenzrecht des anderen, wäre allzu harmlos. Nur wo Kunst zum Kulturgut neutralisiert ward, erscheint sie als Pantheon des Unvereinbaren; wird sie überhaupt noch lebendig erfahren, sind die Konflikte durchzufechten. An einer Kunst, welche die Fata Morgana von Gemeinschaft bereitet, ohne daß ihr eigenes Gefüge Negativität und Leiden der Menschen in sich aufnähme, und die blind Partei ergreift für sozial und ästhetisch autoritäre Formen, hat der verstehende Pluralismus seine Grenze.
Musikalisch lehrt Doflein eine Juxtaposition von »Werkwelt« und »Spielwelt«. Schönberg habe das »Kunsthafte« der Musik auf eine äußerste Spitze getrieben – als ob der Kunst, nachdem sie einmal zur Kunst geworden ist, etwas anderes übrigbliebe, wenn sie nicht ihr eigenes Apriori verleugnen, nicht ein nichtexistentes media in vita fingieren will. Ungewiß, ob die selige Einheit von Leben und Kunst, die man dem Artifiziellen entgegenhält, je bestand; sicherlich aber ist es nicht an der Kunst, sie zu beschwören: der Wille dazu wäre genau jener Ästhetizismus, den die Singbewegung dem Artifiziellen vorwirft. Auch die Produkte der Jugendmusik sind Kunst, ob sie es wollen oder nicht, und haben künstlerischen Kriterien zu genügen, so gern sie ihnen auch entwischen möchten. Einmal notiert, geraten sie in jenen Prozeß, der unaufhaltsam zur fortgeschrittensten Kunstmusik treibt. Daß in dieser das Spielelement zu kurz komme, ist ein Irrtum: sie bietet mehr an Spielaufgaben, an Hürden und Hindernissen, als die abgezirkelte und genormte Simplizität der Spielmusik, die zwar leicht zu spielen ist, aber kaum den Spieltrieb sättigt. Er war aber auf das objektivierte Werk verwiesen schon während der Periode, in welche die Jugendmusikbewegung sich vergebens zurückwünscht. Daß die Fähigkeit zur Improvisation abstarb, rührt nicht vom Verkümmern der einigermaßen mythologischen musikantischen Kräfte her. Sondern im Generalbaßzeitalter selber waren zwischen Melodie und Baß der Improvisation so enge Grenzen gesetzt, daß sie in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts ohne Verlust beseitigt werden konnte zugunsten authentisch auskomponierter Partituren. Die historisch gestimmte Singbewegung weiß im übrigen recht wohl von der Bescheidenheit der Improvisation ihres goldenen Zeitalters, einem geschichtlichen Intermezzo nach einer Periode äußerster Verbindlichkeit der Notentexte. Ist aber die sogenannte Spielwelt einmal die Funktion kodifizierter und objektivierter Texte, so ist sie auf diese auch ernsthaft verpflichtet. Wenn Doflein die Jugendmusikbewegung als Restitution der Spielwelt verteidigt, so gerät er denn auch in Widerspruch mit ihrem eigenen Postulat einer – puristisch-historistisch verstandenen – Werktreue; Spielwelt heißt dann zwar: Musikmachen als Selbstzweck, nicht um des Werkes willen, aber zugleich doch unter völliger Unterordnung unter dessen Notentext und unter vorgesetzte Stilnormen, so daß nichts übrigbliebe von jener Freiheit, die den Begriff des Spiels definiert. Was Doflein Spielwelt dünkt, ist keine eigene musikalische Sphäre, die von der Autonomie verdrängt worden wäre, sondern ein Wunschbild, entsprungen erst in der Vergeistigung der Musik, ein Stück Gegenwehr gegen die Sublimierung, gegen die unbequeme Wagnersche Forderung, Musik möge endlich aus dem Zeitalter ihrer Kindheit heraustreten. Spiel, das sich selber programmatisch verficht, ist so absurd wie ein Kind, das Unarten mit seiner Kindlichkeit verteidigt.
Zur Kritik der avancierten Musik meldet Doflein an, der obligate, also in allen Stimmen verbindlich auskomponierte Stil, der in ihr sich vollendet, sei nicht der einzige. Dafür zeugt die exotische Musik ebenso wie europäische Phänomene zumal am Rande der offiziellen musikalischen Tradition. Aber der Primat des obligaten Stils ist nicht wegzudisputieren. Er allein hat den von Max Weber herausgearbeiteten Rationalisierungsprozeß der Musik ganz ausgetragen vermöge der integralen Aufeinanderbezogenheit aller musikalischen Momente, wie sie am Ende, beim späteren Schönberg, offenbar wird. Man kann wohl überhaupt nicht im rationalisierten abendländischen Tonsystem, der temperierten Stimmung sich bewegen und den obligaten Stil vermeiden, der dem Kontinuum jenes Systems teleologisch innewohnt. Die älteren Modelle der Jugendmusikbewegung gehören selber dem Zusammenhang des obligaten Stils an, sei es auch erst tastend; es entbehrt nicht der Ironie, daß ihr Schutzpatron, Heinrich Schütz, ausdrücklich und programmatisch im Vorwort zur Geistlichen Chormusik von 1648 jene Vereinigung von Polyphonie und Generalbaß forderte, die erstrebt ward, bis Anton Weberns Streichquartett op. 28 Fugen- und Sonatenwesen in eins setzen wollte. Im Zug der abendländischen geschichtlichen Tendenz der Musik, eben der der fortschreitenden rationalen Beherrschung ihrer Mittel, gilt in der Tat die Konsequenzlogik des »Wer A sagt, muß auch B sagen«; wer Schütz sagt Bach. Sie ist identisch mit dem Entwicklungsgesetz, das über Bach, den Wiener Klassizismus, Wagner und Brahms hinaus zu der Wiener Schule treibt, welche die Jugendbewegung der Abseitigkeit bezichtigt. In solcher Konsequenz ist die geschichtliche Tradition gegenwärtiger als in musikhistorischen Monumenten. Zelebriert man heute das Werk Schützens selber, so bleibt es bei der bloßen Würdigung, gleichgültig, wie viele Organisationen Schützfeste arrangieren. Wieland oder Klopstock sind darum keine geringeren Dichter, weil man sie nicht mehr liest, denn jedes Wort der befreiten Sprache zollt Wieland den Dank; wollte man Wieland unter die Leute bringen, man exponierte ihn als anachronistisch und frevelte an ihm. Wer über den Geniebegriff so skeptisch denkt wie Wilhelm Ehmann, dürfte am letzten die Renaissance großer Komponisten, deren Größe keineswegs an der Dauer ihrer Werke sich mißt, mit jenem tieferen und geborgeneren Nachleben verwechseln. Spricht Richard Baum von denen, die an etwas ihre Freude hätten »wie an Bach oder Schütz«18, so zeugt die Verkopplung nicht allein von mangelnder kompositorischer Urteilskraft, sondern auch von mangelnder Distanz zum Vergangenen. Antiquarisches ist nicht unmittelbar der Einfühlung offen, archaische Mittel sind nicht beliebig verfügbar. Ich erinnere mich an ein Gespräch, das ich als ganz junger Mensch, vor mehr als dreißig Jahren, mit dem damals ebenfalls noch sehr jungen Eduard Erdmann über die Lage des Komponisten führte. Er schloß aus dessen Emanzipation, daß ihm heute, im Gegensatz zu früher, als Materialien alle Möglichkeiten und Stile zu Gebote stünden. Damals bereits schreckte ich vor einer These zurück, die mit der Souveränität des Komponisten über sein Material mir den Synkretismus zu empfehlen und jene immanente Verbindlichkeit des Komponierens innermusikalisch anzutasten schien, die gesellschaftlich, also gleichsam von außen her, von der Jugendbewegung ersehnt wird. Der Ordnung, die sie proklamiert, ist die Willkür des bloß Proklamierten eingebrannt.
Mit der immanenten Stimmigkeit des Werkes wird die Singbewegung rasch fertig, indem sie sie mit dem Geniekultus des spätromantischen neunzehnten Jahrhunderts zusammenwirft. Das Geschwätz über die Persönlichkeit, die Gier, Kunstwerke als biographische Dokumente über den Autor sich anzueignen, hat sicherlich zur Entfremdung der Hörer von der Musik – zum Verlust des Verständnisses – ein übriges beigetragen. Wer Music Appreciation in Amerika kennt, wird Ehmanns Polemik gegen den Geniebegriff beipflichten. Aber dadurch wird nicht die Frage der Qualität, des Ranges der Sache selbst, der Komposition entschieden. Die Größe von Musik ist gewiß nicht unvermittelt menschlicher Größe, was immer darunter gedacht wird, gleichzusetzen. Vernachlässigt man aber deshalb qualitative Differenzen als solche des bloßen Talents der Urheber, so wird die Entzauberung des Genies zum Vorwand, das sachlich Mittelmäßige in der Kunst zu dulden, mit deren Begriff es schlechthin unvereinbar ist: was bloß das Gesamtniveau seiner Zeit repräsentiert, ist in solcher Repräsentanz bereits schlecht, gleichgültig, ob es sich um eine Suite des siebzehnten Jahrhunderts, um offizielle Musikfestmusik von heutzutage oder um Blockflötentrios handelt. In der Musik gibt es Museumsschinken wie in der Malerei; weil sie aber nicht einfach dahängen, sondern in Noten verzeichnet stehen, die erst entziffert werden müssen, ist ihre Inferiorität nicht ebenso offenbar wie in der bildenden Kunst, und der Betrieb der Erweckung kann ihrer sich bemächtigen, ohne daß, zumindest in Deutschland, Unbefangene aufständen, die den Schinken einen Schinken nennen. Der Respekt vor historischen Gütern umnebelt eine Urteilsfähigkeit, die von jedem Kompositionslehrer, der sein Handwerk versteht, erzogen werden könnte. Auch Ehmann scheint, gegenüber dem Geniebegriff, technische Kriterien in ihr Recht einsetzen zu wollen. Er spricht von der Wiederherstellung des Handwerks, ja einer neuen »Bauhüttengesinnung« – ohne Rücksicht darauf, daß ja auch die Architektur heute, trotz Corbusier, nicht gerade im Bau von Kathedralen exzelliert. Stets besticht, gegenüber der romantischen Erlebnisduselei, der Appell ans Handwerk, obwohl man der großen Musik des neunzehnten und beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts handwerklichen Verfall kaum nachsagen kann – der beginnt erst heute bei vielen jüngeren Komponisten sich abzuzeichnen – und obwohl wahrscheinlich jeder bessere Komponist der Wagnernachfolge dank des einmal erreichten Standards der Materialbeherrschung mehr konnte als Schein, Biber und Telemann. Problematisch aber ist bei näherem Zusehen der Begriff von Handwerk selbst, den die Singbewegung verwendet. Sie will gar nicht so sehr die strenge, in sich konsistente Konstruktion des Gebildes als eine Art Verhandwerkerung des Kompositionsverfahrens, welche das Komponieren disponibel macht, unabhängig gleichsam vom kompositorischen Subjekt: zu einer Art von Alltagszustand. Ehmann zitiert einen Ausspruch Hindemiths, der gleichsam den Standpunkt des Orchestermusikers zu dem des Komponisten machte: Musik solle »nach Maß gearbeitet« sein19. Komponieren soll leichter werden; »die handwerklichen Praktiken geben dem Musiker die Möglichkeit, seine eigene Kraft zu schonen«20. Ein Vorrat mehr oder minder probater Wendungen und Prozeduren soll es dem Komponisten ersparen, sich auf den »Einfall« oder auch auf sein subjektives kompositorisches Vermögen insgesamt zu verlassen. Nirgends vielleicht läßt das Fragwürdige der Jugendmusik präziser sich bezeichnen. Objektivierung von Musik und musikalischer Kultur wird nicht von erhöhter Anspannung erhofft, sondern von deren Nachlassen, der ausdrücklich akzeptierten Schablone, schließlich also der Ichschwäche. Was den Komponisten seit Mozart und zumal seit Wagner am siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert unerträglich wurde, die Heteronomie, das Klappern des Geschirrs, das Wagner selbst bei Mozart zuweilen mitgehört haben wollte, soll freiwillig wieder eingeführt werden. Man wähnt sich über dem Fortschritt und verfällt dem bloßen Rückschritt, indem man all jene Reaktionsformen in sich ausrottet, denen große Musik ihr Dasein überhaupt verdankt. Selbstverständlich wäre eine solche Art handwerklicher Routine mit einem strengen Begriff von Handwerk unvereinbar. Sie hilft um die kompositorischen Schwierigkeiten herum, will deren konkrete Lösung durch schematische überflüssig machen. Dabei trägt die Glätte des Ablaufs einzig über das Brüchige des Gefüges hinweg wie in so vielen älteren Stücken. Der prestigegeladene Begriff des Handwerks, der freilich selber bereits durch die Transposition einstmals sicheren, paraten Könnens auf die gegenwärtigen, je einmaligen, nicht antizipierbaren Probleme ins Archaistische schillert, wird mißbraucht zum Dispens von dem, was einzig Handwerk wäre: gut Komponieren. Hätte die Kategorie der Ursprünglichkeit, die bei der Jugendmusik so hoch im Kurs steht, einen diskutablen Sinn, so wäre es allenfalls der, daß der Komponist heute sich der letzten ihm und dem Komponierten äußerlichen Konventionen entledigt, um sein Gebilde strikt und ohne Rücksicht auszuformen. Die Advokaten der Ursprünglichkeit aber möchten ihm das als Eigenbrötelei und womöglich mangelnde fachmännische Zuständigkeit abgewöhnen und durch den Gestus dessen, der in seiner Werkstatt sitzt und für alles rauhen aber herzlichen Rat weiß, die Sache selbst ersetzen, die Verpflichtung zur immanenten Logik.
Jene Konzentration auf die je eigene Sache, in welcher der Begriff von Handwerk musikalisch heute einzig noch seinen Ort hätte, wird von Ehmann zusammengebracht mit dem durch Pfitzner in der Tat schwer kompromittierten Begriff des Einfalls21. Auch hier wird ein Richtiges zum Vorwand für den Versuch, das Subjekt aus eben jener Musik auszumerzen, die sich im gleichen Atem rühmt, sie sei nur um des Menschen willen da. Der musikalische Einfall ist im übrigen keine psychologische Kategorie, nichts, was seinem Sinn nach notwendig auf die sogenannte Intuition des Komponisten zu beziehen wäre. Wer einigermaßen Beethovens Skizzenbücher kennt, weiß, daß oft gerade solche thematischen Charaktere, die das Gepräge des zwingenden Einfalls tragen, in angestrengter Arbeit gewonnen wurden; der einleitende Takt mit der aufsteigenden Terz vor dem Thema des Adagios der Hammerklaviersonate, der dies Thema wie aus einem dämmernden Abgrund heraufholt, soll erst hinzugefügt worden sein nach Vollendung des Satzes. Vielmehr ist Einfall eine objektive Kategorie, Inbegriff jener Momente innerhalb der Komposition, in denen unverwechselbar ein nicht Vorgegebenes getroffen, der Umkreis der je etablierten musikalischen Sprache überschritten, zugleich ein selbst gleichsam Idiomatisches, Sprachähnliches in der Musik geprägt wird. Sehr genau läßt sich an musikalischen Charakteren an sich, ohne Rücksicht auf den Modus ihrer Hervorbringung, unterscheiden, was jenem Begriff des Einfalls als des evident Getroffenen genügt und was nicht; solange man freilich nicht bei dem Phänomen Einfall verweilt, ist es leicht, es als Ladenhüter romantischer Ästhetik abzufertigen. Jenes objektive Moment am Einfall, der Augenblick der Freiheit, ist aber kaum wohl zu trennen von einem subjektiven: der Suspension bloßer machender Verfügung. »Wer ohne den Wahnsinn der Musen und Toren der Dichtkunst sich naht, in der Einbildung, seine Fertigkeit werde ja hinreichen, ihn zum Dichter zu machen, der bleibt ein Stümper und seine verstandesmäßige Kunst wird völlig verdunkelt von der des in Wahnsinn Verzückten.« Das ist nicht von Hoffmann, Tieck oder Wackenroder, auch nicht von Wagner oder Pfitzner, sondern von Platon22, der sich schließlich auf dem Parnaß nicht schlechter wird ausgekannt haben als die Organisatoren des Musischen. Herausgesprengt aus der kompositorischen Logik eines Ganzen hat gewiß der Kultus des Einfalls zu flachen, grob zusammengehauenen Kompositionstypen vom Schlage Tschaikowskys, Dvoraks, Puccinis geführt; im kommerziellen Schlager ist die von der Komposition losgelöste Einfallskategorie zu sich selbst gekommen. Aber als Name eingängiger Melodien ist sie viel zu eng gefaßt: was einem Komponisten einfällt, brauchen nicht bloß einzelne mehr oder minder drastische Motive und Phrasen zu sein; es können ihm ebensogut Akkorde, Kontrapunkte, Farben, instrumentale Satzideen, vor allem aber ganze Entwicklungen und Formen einfallen. Bei Musik höchsten Ranges wie Bach und Beethoven überwog der letztere Typus von Einfall, ohne daß damit übrigens die Würde des melodisch Einzelnen etwa bei Schubert, Bruckner oder auch Schönberg geschmälert wäre. All das aber wird unterschiedslos vom Verdikt ereilt und soll ersetzt werden durch jene mittelalterlich stilisierte Routine, welche dem Subjekt das Entscheidende, das unauflösliche Element des Spontanen und Unwillkürlichen, entzieht. Wer erfahren hat, daß Komponieren sich nicht erschöpft in der willigen Durchführung gestellter Aufgaben, braucht darum gewiß nicht der Phrase von der Inspiration zu verfallen, nicht das Unwillkürliche, vom Schema Unerfaßte des Subjekts zu theologisieren. Nur dort aber, wo, in welcher musikalischen Dimension auch immer, dies spontane Moment ins Komponieren eingeht, wo die Komposition die Regung in sich empfängt und zugleich durch ihre Totalität überwindet, wird wahrhaft Objektivation gestiftet. Ohne solches Kräftespiel wäre sie bloßer Leerlauf. Man fragt sich schließlich, wozu eine Musik, deren Ideal das Sein für anderes ist, überhaupt noch da sein soll, wenn sie alles verbannt, worin sie irgend mit Menschen zusammenhängt und Menschen erreicht. Ehmann denkt die Impulse seiner Bewegung verdienstlich zu Ende: er führt sie ad absurdum. Musik, die so rigoros verführe wie seine Theorie, erreichte schließlich einen Objektivismus, der sich so sehr den umworbenen Anhängern entfremden müßte wie die punktuelle Musik dem Konzertpublikum. Das widerlegt zugleich den Dofleinschen Pluralismus: die Extreme, die er konstatiert, gingen ineinander über, wenn sie wirklich extrem wären.
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So heiß freilich wird von der Praxis der Singbewegung nichts gegessen, wie die Theorie es kocht. Da sie immerhin eine ganze Kompositionsliteratur vorzuweisen hat, spielt und propagiert, wird sie sich wohl gefallen lassen müssen, daß man dieser handwerklich nachfragt. Die Unterschiede der Kompositionen sind vorab solche des Niveaus: von Komponisten, die souverän über die Mittel verfügen wie Hindemith, den die Bewegung beschlagnahmt, obwohl von seinem œuvre doch wohl nur recht wenig ihr zuzurechnen ist und er neuerdings die Laien zur Besinnung verhielt, über die Arbeiten erfahrener Experten wie Pepping und Distler geht es hinab bis zu trostlosen Spielmusiken und jenen ungezählten Chören, in denen die edle Frau Musica ihr Selbstlob anstimmt. Gegenüber diesen Differenzen überwiegt indessen das Gemeinsame, zunächst der Eindruck einer gewissen grauen Trübseligkeit und dumpfen Geducktheit. Technisch ist dafür verantwortlich jene besondere Tonalität, die bei hörbarer Abneigung gegen die Chromatik und bei vorwaltender Diatonik ständig, zumal im Kontrapunkt, mit einigermaßen willkürlichen harmoniefremden Bildungen und Ausweichungen operiert. Aus den neuen Akkorden werden nicht die konstruktiven Konsequenzen gezogen, sondern sie sind wie Schmutzflecken hineingekleckst. Die Tonalität wiederum ist so überwuchert von Akzidenzien, daß ihr eigener Fortbestand zufällig dünkt. Immer wieder finden die mehr oder minder aneinander sich reibenden Stimmen unvermutet zu Konsonanzen, mit Vorliebe zu leeren Quinten, Oktaven und Einklängen sich zusammen; die Angst vorm üppigen Chroma scheint bereits auf die allzu volle Terz übergegriffen zu haben, während Quart und Quint, auch in organumhaften Parallelen, überwiegen. Die Terzenscheu angesichts der versprengten Dissonanz hier und des hohlen Leerklangs dort ist wohl technisch wesentlich schuld am tristen Ton; so wenig das frei klingt, so wenig klingt es doch, eben vermöge all der Akzidenzien, gebunden: die Bindung verrät unmittelbar am Phänomen sich als Pose. Flügellahm verbietet diese Musik sich selbst, wonach es sie drängt, sie wahrhaft spricht mit Leverkühn: es soll nicht sein. Statt dessen wird unablässig archaisiert. Historische Modelle von höchst bestimmtem geschichtlichen und musikalischen Stellenwert, die dem eigenen Sinn nach auf ein spezifisches Material bezogen sind, zumal solche der Kirchenmusik, wie die Choralvariation, werden handfest nachgeahmt und durch jene Akzidenzien modern aufgeputzt, welche den kultischen Anspruch der Modelle desavouieren. Ein jeglicher altmeisterlicher Kontrapunkt der neuliturgischen Musik könnte ebensogut anders laufen. Vor der Generalbaßperiode – und keineswegs bloß im rigorosen Palestrinastil – erforderten die Dissonanzen genaue Vorbereitung und Auflösung; jetzt werden sie rücksichtslos behandelt, ohne daß die Jugendkomponisten sich darum bekümmerten, daß solche Beliebigkeit der Details mit dem normativen Wesen der erkorenen Sprache und ihrer Formen sich nicht verträgt. Die alten Formtypen werden von ihrem Material, dem rein tonalen oder modalen, losgerissen, als verdankten sie nicht jene Suggestivkraft des Geschlossenen, die man zu beschwören hofft, eben den Tonsystemen, auf denen sie basieren, und die freilich heute selbst in den Ohren der Jugendkomponisten erschüttert sind. Die Polyphonie, mit deren Prätention viele der Werke auftreten, wird als Stilmittel von außen herangeholt; was an Bach zu lernen wäre: daß die Form aus dem dichten Zug der Stimmen resultiert, tritt nicht ins Bewußtsein. Oft wird die Entfaltung der Stimmen durch Orgelpunkte abgebrochen, ohne daß aus dem Verlauf der Stücke selber, etwa dem harmonischen Plan, die Orgelpunkte zwingend folgten. Weiter schwächt den Kontrapunkt die Vorliebe für parallele Stimmführungen, die nicht nur hinter Bach, sondern hinter die entfaltete hochmittelalterliche Musik zurückfällt und sich allenfalls auf die primitive Faux bourdon-Praxis der früheren Niederländer berufen mag: dem handwerklichen Habitus entspricht durchweg die Tendenz, sich handwerklich nicht zu kontrollieren, nicht strikt auszuhören. Analysierte man die Kontrapunkte im Ernst, so stieße man auf Stimmen, die sich ungegliedert, monoton, oft ohne aus einer engen Region herauszufinden, dahinschleppen, bloß hinzugesetzt, nicht integrale Momente des Ganzen. Die Dialektik von Kontrapunkt und Form wird nicht ausgetragen, sondern die schwerfälligen und stumpfen Stimmen in das Leerschema der Form hineingepaßt. Daß es einen Schwung der Form gibt, durch den Musik überhaupt erst zusammenschießt, wird nicht realisiert; alles ist abschnittsweise gegliedert, ohne daß zwischen den Abschnitten andere Beziehungen als die alleräußerlichsten herrschten. Erschreckend die rhythmische Monotonie. Während man neuerdings Bartók und Strawinsky aufs Panier geschrieben hat, sind deren rhythmische Funde, die sich in der Kunstmusik längst abgenutzt haben, noch nicht einmal rezipiert. An Stelle des inneren Atems der Form wird vielfach der Zusammenhang immer noch mit durchlaufenden Bewegungen, etwa von Achteln, gekleistert; verzichtet wird auf all die feineren Gliederungen, das Phrasieren der Komposition, jene Artikulation bis hinab ins kleinste, die sinnvolles Auskomponieren eigentlich definiert. Nicht nur das Material, auch die Kompositionsmittel sind verkümmert. Läßt die Abneigung gegen die Chromatik keine Technik des Übergangs, der Verjüngung zu, so fehlt es ebenso auch an Kontrasten; jedes Stück hält stur an den einmal gesetzten Charakteren fest, und wo, wie in den vielen Variationsstücken, die Charaktere wechseln müssen, behält selbst dieser Wechsel etwas eigentümlich Mattes, Sekundäres. Die unselige und verbrauchte Praxis des »Einthematischen« aus dem Neoklassizismus wirkt immer noch nach. Außer den Formmodellen werden auch motivische floskelhafter Art aus dem siebzehnten Jahrhundert, oder noch frühere, übernommen. Grundgestalten, die den Komponisten seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts unerträglich geworden waren und nur noch in den Schulfugen und Choralbearbeitungen der Konservatorien ihr kümmerliches Dasein fristeten, werden aufgewärmt; gerade das Starre und Mechanische daran, das die Emanzipation der Musik überwunden hatte, wird mit der Gebärde des Justament genossen. Der Einwand, solche Beobachtungen bezögen sich bloß auf die kleinen Nebenmeister, nicht auf die großen, verfängt nicht; sie wären in der ganzen Breite der Produktion zu verifizieren. Im übrigen müßte eine Schule, die fast unverhohlen jene Kantoren vorzieht, die da den Humus gesunder Musikkultur bereiten sollen, für deren Leistungen zumindest technisch geradestehen. Aber der technische Sachverhalt macht die geistige Insuffizienz des Ansatzes konkret: des Anspruchs von Subjektivität, unmittelbar, gleichsam unabhängig von der prüfenden Kraft des eigenen Ohrs, durch stilistische Veranstaltung der objektiv verpflichtenden Gestalt von Musik habhaft zu werden.
Die Simplizität der Faktur, die ständig vom Unvermögen zeugt, sei intendiert. Aber die bloße Absicht rechtfertigt nicht die brüchigen Resultate: sie machen vielmehr die Intention verdächtig. Das technisch Einfache ist nicht eins mit dem Unmittelbaren und Substantiellen. Wohl gibt es verfremdende Vereinfachung, wie in Schönbergs op. II, von der polemische, antithetische Kraft ausgeht, aber davon sind die Schlichtheiten der Bewegung weltfern. Musik entfaltet sich in fortschreitender Differenzierung; wer davon sich eigenmächtig lossagt, erhebt damit sich nicht zum gut Allgemeinen. Verbürgte etwa eine bestimmte Art des markierten, vordergründigen Rhythmus Vitalität, so brauchte man nur die von Bartók oder Strawinsky aufgestellten rhythmischen Muster zu kopieren, um an ihr teilzuhaben. Die Ansicht, was stampft oder rennt sei vital, und was durchbrochene und komplexe Rhythmik und Themenbildung anstrebt zerfasernd und dekadent, ist den musikalisch Erfahreneren der Bewegung nicht zuzutrauen. Insgesamt jedoch identifiziert sie viel zu blank technische Begriffe mit ihren kulturpolitischen. Wo viele Zweiunddreißigstel das Partiturbild schwärzen, wo thematische Arbeit die Motive in kleinste Teile zerlegt, schaudert sie vorm Bild des Zerfalls; als ob nicht die Ausformung im Detail die Komponisten all ihre Kraft kostete. Wer statt dessen ohne Bedenken darauflosschreibt, erhält das Prädikat Gesund. Im vorhitlerschen Berlin pflegte man in solchen Fällen »Du hasts gut, Du bist doof« zu sagen. Die Jugendmusik aber tut, als wäre, nach ihrem Lieblingswort, heil, was um die Anstrengung des Formens und der Selbstkritik sich drückt. Technische Differenzierung hat mit der »heute sehr akuten Gefahr atomarer Auflösung«23 nicht das mindeste zu tun. Die Gleichsetzung atomisierter Seelenhaltung – des bedenklichen Gegenbegriffs zur Ganzheit – mit jener Technik der Auflösung ins motivisch Kleinste, die in Bach und Beethoven vorgebildet war, paßte den Edikten der Ostzone nur allzugut ins Konzept, ohne daß im übrigen umgekehrt Differenziertheit an Zweiunddreißigsteln und Septolen bündig sich ablesen ließe. Lebenskraft und Produktivität bewährt sich nicht darin, daß man sich gehen läßt, sondern darin, daß die kompositorischen Impulse durch ihre Reflexion hindurch festgehalten werden und an ihr sich steigern. Mit der Unerschöpflichkeit der Argumente, die jene parat haben, die lieber eine Sache durchsetzen, als sie erkennen wollen, ziehen sich die Anhänger der Jugendmusik damit aus der Affäre, daß sie schließlich – wie Siegfried Borris mir gegenüber verfuhr – über den Fortschrittsbegriff selber raisonnieren und die Idee steigender musikalischer Differenzierung als »einsträngig« von sich weisen. Nachdem Horkheimer und ich eine Dialektik der Aufklärung geschrieben haben, braucht man mich über Widersprüche und Grenzen des Fortschrittsbegriffs kaum zu belehren; aber aus der Dialektik ist nicht nach rückwärts herauszuspringen. Wie schwer es auch die avancierte Musik mit sich haben mag, durch ihre bloße Existenz wird alles, was heute noch die Erfahrung der Atonalität und der ihr gemäßen Verfahrungsweisen ignoriert, zur ausgelaugten Fiktion. Daß Gruppen von Menschen bei künstlerischen Bewegungen nicht mitkommen, ist nichts Neues, und niemand dürfte ihnen das pharisäisch vorwerfen; vorbehalten aber blieb es der Jugendmusik, solche Zurückgebliebenheit phärisäisch zum Höheren zurechtzustutzen und eine Gefolgschaft damit zu locken, daß sie dem wahren Geist der Zeit um so näher wäre, je ferner sie ihm ist.
Der Ausdruck musikpädagogische Musik, den man angestrengt nicht verstehen wollte, und der, den Sprechern der Bewegung zufolge, ein allzu Enges und womöglich Überholtes bezeichnet, zielt auf nichts anderes, als daß aus den ästhetischen Beschränktheiten, die meist der Rücksicht auf pädagogische Verwendbarkeit entstammen, eine Tugend gemacht wird. Die These von Georg Götsch, »Mangel wird Gewinn«, ist wahrer, als er selber weiß. Sie klagt seine eigene Sache ihrer Unwahrheit an: daß sie Ausfallserscheinungen als Überwindung der Individualität präsentiert. Hemmungslos jedoch loben die Panegyriker der Bewegung sich selbst: »Von einem neuen Gemeinschaftsethos erfüllt, strebten wir danach, Formen der Musikpflege zu verwirklichen, die am Leben ausgerichtet waren und ihm dienen.«24 Aber eine Kunst, die einzig Gesinnung, nicht Integrität der eigenen Gestalt bewährt, kann auch gesellschaftlich für nichts Wahres einstehen.
Zur Verwechslung von Zweck und Sache wird die Jugendmusik angespornt durch die gesellschaftliche Situation der Musikpädagogik. Nur ein Bruchteil ihrer Zöglinge wird, heute wie ehemals, Berufsmusiker. Die Voraussetzungen eines hochentwickelten Amateurtums jedoch schwinden objektiv und subjektiv; weder existiert mehr eine sichere Mittelschicht mit freier Zeit, die sich der Musik unbeengt widmen könnte – die verspottete höhere Tochter, die das Gouvernanten-Scherzo von Chopin meistert, ward längst zum Bild der Sehnsucht, etwa wie Daguerreotypien verglichen mit den Visagen von Filmstars –, noch bringen meist die jungen Menschen von sich aus die Konzentrationsfähigkeit, innere Freiheit und Unabhängigkeit zu hochqualifiziertem Kammermusizieren auf, wie sie etwa unter Wiener Ärzten im späteren neunzehnten und früheren zwanzigsten Jahrhundert häufig gewesen sein muß. Jeder weiß, wie sehr die Massenmedien musikalischer Reproduktion die Funktionen des häuslichen Klavier- oder Kammermusikspielens aufgesaugt haben. Damit ist der Musikpädagogik ihr Boden entzogen. Sie trachtet sich zu retten, indem sie zu Musizieren auf der Linie des geringsten Widerstands ermuntert, oder in der Schule ihr Quartier aufschlägt und dort viel Wesens von sich macht, oder eine reale Funktion im Leben reklamiert, die sie nicht besitzt. Parolen der alten Jugendbewegung wie die Wynekens von der »Jugendkultur«, die Negation des Schulspruchs Non scholae sed vitae discimus hallen nach: Musikpädagogik wird zum Selbstzweck, weil sie keinen anderen mehr hat, und plustert sich zur Weltanschauung auf. Das ist die reale, sicherlich den meisten Anhängern der Jugendmusik keineswegs bewußte Interessenlage, die ihre Doktrin motiviert, Ideologie im genauesten Sinn, notwendiges falsches Bewußtsein. Sie harmoniert gut mit verlegerischen Interessen, und die verlegerische Initiative kommt der Jugendmusik wiederum zugute. Kurzsichtig aber wäre es, wenn man sie als geistig und künstlerisch zu unerheblich betrachtete, um mit ihr genauer sich zu befassen. Die Bescheidenheit, mit der sie gegebenenfalls den Kritiker der Intoleranz gegen ein schlichtes und unbelastetes Beginnen zeiht, ist bloß eine Finte; wo sie sich selbst dokumentiert, ist von solcher Bescheidenheit wenig zu spüren. Mit Recht: denn sie beginnt Musikpädagogik, musikalische Bildung, Musikkritik und jegliche nichtprofessionelle musikalische Tätigkeit in Deutschland derart zu monopolisieren, daß abweichende Stimmen schon kaum mehr vernommen, höchstens als kuriose Spezialistenmeinung abgetan werden.
Offen bleibt die Frage nach der Möglichkeit musikalischer Erziehung heute; zumal, wie junge Menschen an diejenige gegenwärtige musikalische Produktion herangebracht werden können, die zählt. Kaum ist es Zufall, daß seit Debussys Klavieretüden, die im Kreis der Jugendmusik wenig bekannt sind, keine pädagogischen Gebilde mehr gerieten, die zugleich musikalisch standhielten; Bartóks Mikrokosmos ist kaum eine Ausnahme, da die guten Stücke des letzten Bandes, wie übrigens schon die Debussy-Etüden, die Spielfertigkeit von Schülern erheblich übersteigen. Im Gedanken an Zwölftonetüden, der Schönberg nicht fremd war, steckt etwas Absurdes: durch Gebrauchszwecke würde die neue Technik genau zu jenen mechanischen Prozeduren gedrängt, welche ihre Gegner sonst ihr ankreiden. Aber womit die Jugendmusik das Vakuum füllt, ist nicht besser. Verantwortliche Pädagogen wie Erich Doflein weisen auf die Sauberkeit und Sachgerechtigkeit musikalischer Darstellung hin, welche die Kinder dank der Bewegung wieder lernten; sie wäre verlorengegangen in einer Musikerziehung, in der der kleine Junge den Virtuosen spielen mußte wie das Kind Felix Krull beim Kurkonzert. Damit mag es seine Richtigkeit haben. Philipp Emanuel Bach, selbst Telemann wären kompositorisch wie pädagogisch den Potpourris von Singelé, den Violinkonzerten von Seitz vorzuziehen, mit denen man uns in unserer Kindheit gefüttert hat, wenn es bei der Pädagogik bliebe. Aber selbst bei solchem Zugeständnis zögert man: ich habe seinerzeit solche Konzerte gekratzt und bin doch nicht zum Verehrer der Lieder von Franz Abt und Bohm geworden. In den aufgeblasenen Solopiècen geistert ein Stück Utopie: die Gebärde des Kindes, das eine Sekunde lang zum begleitenden Tremolo des Klaviers sich wie Kreisler fühlt, hat etwas von jener musikalischen Allmachtsphantasie, in der mitschwingt, Musik selber sei das Ganze, die Freiheit, das Absolute. Eben das wird den Menschen, wie von der Gesellschaft insgesamt, so musikalisch von einer Bewegung ausgetrieben, die, indem sie sich mit der Eitelkeit des Uneitlen hinter die Generalstabsmaxime »Nicht mehr scheinen als sein« verschanzt, vergessen hat, daß der Kunst selbst das Moment des Scheins unabdingbar ist, daß sie ihr Wesen daran hat, mehr zu scheinen als sie ist: mehr als die bloße Existenz. Wird der letzte Rest von Traum aus der Musik gescheucht, so fügt sie sich vollends als Rädchen in jenen Betrieb, gegen dessen Allgegenwart man mit der Beteuerung des Musischen ohnmächtig aufbegehrt.
Fußnoten
1 Vgl. Wilhelm Kamlah, Die Singbewegung und die musische Bildung, in: Die Sammlung, Göttingen 1955, 10. Jahrgang, 12. Heft, S. 611.
2 Georg Götsch, Bücher statt Begegnungen?, in: Junge Musik, 1955, I, S. 7.
3 Wilhelm Twittenhoff, Stellungnahme zu den »Thesen gegen die musikpädagogische Musik« von Theodor W. Adorno, in: Junge Musik, 1954, S. 185.
4 Theodor W. Adorno, Einleitungsvortrag [zum Darmstädter Gespräch 1953] in: Individuum und Organisation. Hrsg. von Fritz Neumark. Darmstadt 1954, S. 32 [GS 8, s. S. 452f.].
5 Kant, Kritik der Urteilskraft. Hrsg. von Karl Vorländer. Hamburg 1954, S. 88 (§ 23; Übergang von dem Beurteilungsvermögen des Schönen zu dem des Erhabenen).
6 Vgl. Georg Götsch, Bücher statt Begegnungen?, a.a.O., S. 4ff.
7 Vgl. Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens, o.S. 41ff.
8 Vgl. besonders Fritz Jungmann, Autorität und Sexualmoral in der freien bürgerlichen Jugendbewegung, in: Studien über Autorität und Familie. Forschungsberichte aus dem Institut für Sozialforschung. Hrsg. von Max Horkheimer. Paris 1936, S. 669ff.
9 Georg Götsch, Über den Kontratanz, in: Hausmusik 15 (1951), S. 37.
10 Jens Rohwer, Junge-Musik-Bewegung im Feuer der Kritik, in: Junge Musik, 1953, 4, S. 109.
11 Theodor W. Adorno, Prismen, Frankfurt 1955, S. 159 [GS 10.1, s. S. 135].
12 Kurt Baumgärtner, Sing-Gemeinde?, in: Hausmusik 15 (1951), S. 46f.
13 Vgl. Felix Oberborbeck, Romantik heute?, in: Junge Musik, 1955, 2, S. 60.
14 Jens Rohwer, l.c., Junge Musik, 1953, 5, S. 147.
15 Karl Vötterle, In letzter Stunde, in: Hausmusik 16 (1952), S. 2.
16 Vgl. Richard Baum, Vom Sinn unseres Musizierens, in: Hausmusik 14 (1950), S. 141.
17 Vgl. Erich Doflein, Gewinne und Verluste in Neuer Musik und Musikerziehung, in: Vorträge der VIII. Arbeitstagung des »Instituts für Neue Musik und Musikerziehung« in Lindau 1955. Selbstverlag des Instituts, Hagnau am Bodensee.
18 Richard Baum, Wandlung Schritt für Schritt. Zum Gespräch über unser Verhältnis zu alter und neuer Musik, in: Hausmusik 19 (1955), S. 122.
19 Wilhelm Ehmann, Erbe und Auftrag musikalischer Erneuerung. Kassel 1950, S. 106.
20 Ehmann, l.c., S. 114; im Original gesperrt.
21 Vgl. Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens, o.S. 22f.
22 Platon, Phaidros, St. 245.
23 Richard Baum, Wandlung Schritt für Schritt, l.c., S. 123.
24 Bruno Grusnick, Hugo Distler und wir, in: Hausmusik 16 (1952), S. 153.