Zweite Beilage
Kierkegaard noch einmal
Dem Andenken Paul Tillichs
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Nach dem Maß seiner eigenen Schriftstellerei darf Kierkegaard nicht siegen. Er hat dem verstorbenen, von ihm geliebten Bischof Mynster den Namen eines Wahrheitszeugen abgesprochen. Am letzten hätte er, der formelhaft wiederholt, er rede ohne Autorität, ihn für sich selbst in Anspruch genommen. Unverkennbar jedoch ging seine Idee des Wahrheitszeugen aus von der Konstruktion der eigenen Existenz. In dem ersten der Zeitungsartikel aus dem ›Vaterland‹ vom Dezember 1854, in dem er den Angriff auf seine Kirche und die offizielle Christenheit begann, heißt es: »Ein Wahrheitszeuge, das ist ein Mann, der in Armut für die Wahrheit zeugt, in Armut, in Geringheit und Erniedrigung, alsdann verkannt, verhaßt, verabscheut, alsdann verspottet, verhöhnt, verlacht – das tägliche Brot hat er vielleicht nicht immer gehabt, so arm war er, aber das tägliche Brot der Verfolgung bekam er jeden Tag reichlich; für ihn gab es niemals Vorwärtskommen oder Beförderung, es sei denn umgekehrt, Schritt für Schritt hinab. Ein Wahrheitszeuge, einer von den echten Wahrheitszeugen, das ist ein Mann, der gegeißelt, mißhandelt, von einem Kerker in den anderen geschleppt wird, und dann zuletzt – letzte Rangerhöhung, wodurch er aufgenommen wird in die erste Klasse der christlichen Rangordnung, unter die echten Wahrheitszeugen – dann zuletzt – denn es ist ja einer der echten Wahrheitszeugen, über den Prof. Martensen spricht – dann zuletzt wird er gekreuzigt oder geköpft oder verbrannt oder auf einem Rost gebraten, sein entseelter Leichnam wird vom Schinder an eine abgelegene Stelle geworfen, unbegraben – dergestalt begräbt man einen Wahrheitszeugen! – oder zu Asche verbrannt und in alle Winde zerstreut, auf daß jede Spur dieses ›Abschaums‹, zu dem er, wie der Apostel sagt, geworden ist, vertilgt werde.«1* Bündiger noch in einem späteren Aufsatz aus der gleichen Reihe: »Im neuen Testament nennt Christus die Apostel und Jünger Zeugen und fordert von ihnen, daß sie für ihn ›zeugen‹ sollen. Laß uns nun zusehen, was darunter zu verstehen ist. Das sind Männer, die im Verzicht auf alles, in Armut, in Niedrigkeit, bereit zu jeglichem Leiden, dann in eine Welt hinausgehen sollten, die auf Leben und Tod den Gegensatz zum Christsein ausdrückt. Das nennt Christus zeugen, Zeuge sein.«2 Kierkegaard ist über der Polemik gestorben, zum gleichen Zeitpunkt, da er sein Vermögen aufgezehrt hatte, das auf Zinsen anzulegen er christlich streng sich weigerte. Dem es gelang, in der Welt zu unterliegen, der hätte aber auch von seinem Werk nichts anderes erwartet und gewollt. Seine kompromißlose Konzeption von der Transzendenz hätte den innerweltlichen Sieg der Wahrheit, die ihm in seinen Schriften verkörpert war, ebenso ausgeschlossen wie den der Person. Die ecclesia triumphans war ihm Abfall nicht weniger als die zur Staatsphilosophie arrivierte Hegelsche Lehre. Selbst die Vorstellung einer mächtigen Wirkung nach dem Tode hätte ihn schwerlich beglückt. Ihm war Geschichte permanenter Höllensturz, Verrat am Geoffenbarten. Der alles in die Gleichzeitigkeit, den Augenblick warf, konnte von der Nachwelt nicht mehr sich erhoffen als von der Welt. Nachfolger haben, eine Schule gründen, verspottete der, welcher jenen Einzelnen sich nannte und dem alles, woran er glaubte, noch das Verhältnis zum Absoluten selber, im Einzelnen sich zusammenzog. Wohl findet sich eine Stelle, die, gegenüber dem empirischen Sieg, den im Geiste als möglich ansieht: »Eines aber ist es, in der Idee zu siegen, ein anderes, sinnfällig zu siegen; dies ist in dem Maße das Verschiedene, daß gerade die, von denen im allerhöchsten Sinne gesagt werden muß, daß sie in der Idee gesiegt haben, sinnfällig haben unterliegen müssen, ja totgeschlagen sind. Oder um ein Beispiel zu nehmen (und doch nicht das allerhöchste, wenn es auch für mich viel zu hoch ist), muß nicht von Sokrates gesagt werden, daß der in der Idee gesehen vollkommen über die Mitwelt gesiegt habe – und doch mußte er den Giftbecher leeren.«3 Das ist von der konventionellen Ansicht vom Tragischen nicht weit entfernt. Aber den Sieg des Geistes im Geiste zu lehren meint nicht den des Geistes in der Welt. Über diesen konnte Kierkegaard nicht besser denken als über Erfolgt, Amt und Karriere. Die nicht mehr von ihm selbst herausgegebene zehnte und letzte Nummer des ›Augenblicks‹ schließt, schneidend ironisch: »Auf diese Weise geht man mit Hilfe dessen, daß man einen Vorgänger und einen Nachfolger hat, vergnügt durchs Leben und ist zugleich Wahrheitszeuge. Gott helfe dem, der keinen Vorgänger und keinen Nachfolger hat; für ihn wird das Leben in Wahrheit das, was es nach dem Willen des Christentums sein soll: eine Prüfung, in der man nicht schwindeln kann.«4 Deutlicher könnte nicht gesagt sein, daß Kierkegaard, indem er potentielle Nachfolger wie Zudringliche verstieß, auch seinen Sieg im Nachleben des Werkes verschmähte. Wie er die Vergegenständlichung der Philosophie zum System bekämpfte, welche diese von der Erfahrung des Einzelnen losrisse und ihn zum bloßen Moment herabsetze, hätte er dem Versuch opponiert, aus ihm eine positive Theologie zu machen; die Forderung, seine eigene Dogmatik zu veröffentlichen, lehnte er mit Hohn ab. Daß er sich festbiß in das, was Christentum nicht sei, hat seinen Grund nicht bloß darin, daß er sich selbst unterhalb seiner Idee vom Christlichen wußte, sondern einen gedanklichen. Durch den Übergang zur dogmatischen Positivität würde bereits deren eigener Gehalt verleugnet. Nur Positivität jedoch hat, auch als geistige, die Chance, in der Welt sich zu behaupten. Kierkegaards Schriftstellerei ist auf ihre Niederlage angelegt. Das Prinzip des Erfolgs, in dem der Konkurrenzmechanismus der bürgerlichen Gesellschaft sich reflektiert und anstelle der gestürzten Gottheit setzt, fordert er heraus wie selten einer; er hätte noch den postumen Triumph als Beweis wider die eigene Wahrheit verbucht, als Zeugnis einer geheimen Komplizität mit dem, was ihm das Bestehende hieß. Das ist aber sehr schwer zu nehmen. So wenig Philosophie sich um die subjektive Intention von Autoren zu kümmern braucht, so verbindlich sind ihr die Texte selbst, an denen sie sich entfaltet. Die Vereinbarkeit des Weltfeindes mit der Welt wird zum Einwand gegen ihn und seine Art Weltfeindschaft.
2
Kierkegaard hat gesiegt. Nachdem man einmal auf den Außerordentlichen aufmerksam geworden war, wurde er zunächst, wie es schon zu gehen pflegt, psychologisch interessant, etwa für den aufklärerischen Georg Brandes, der übrigens, noch nicht von ihm fasziniert, ihn unbefangener, auch kritischer sah als fast die gesamte spätere Literatur. Dann wurde in Deutschland Kierkegaard durch den Übersetzer Christoph Schrempf zum Schutzpatron solcher Pfarrer, die in Gewissenskonflikt mit ihrem Amt gerieten, zu einer Art Ibsenschem Rosmer, wie denn der Brand des jüngeren Ibsen manche Züge von Kierkegaard entlehnt. Der Umschwung dürfte vor 1920 zu datieren sein. Vielleicht löste ihn Theodor Haeckers Übersetzung des Buches Adler aus, deren Sprachkraft Kierkegaard in Deutschland erst auf sein Niveau brachte. Er ergriff protestantische Theologen, die am liberalen, den theologischen Gehalt ins Gleichnis für Ideen verflüchtigenden Christentum irre wurden. Die gesamte dialektische Theologie war Kierkegaard-Nachfolge; in Karl Barth auch die seiner Unbeirrbarkeit. Wie aber sein Werk eine theologische und eine philosophische Schicht hat, so die Wirkung. Die philosophische trat erst später ein, um die Mitte der zwanziger Jahre, als Heidegger sowohl wie Jaspers den Kierkegaardschen Existenzbegriff von dem emanzipierten, was bei ihm die Stadien der Religiosität A und B heißt, und ihn in eine anthropologische Ontologie umwendeten, die freilich bei Heidegger schon damals nicht als Anthropologie sich verstanden wissen wollte. Während der Existenzbegriff, vor allem Existentialien wie Angst, Innerlichkeit – das Modell der Heideggerschen Eigentlichkeit –, Entscheidung sich als Kernstück einer materialen, vermeintlich auferstandenen Metaphysik etablierten, hat Kierkegaard zugleich dem akademischen Nachleben des deutschen Idealismus das Ende bereitet. Seine Invektiven gegen Hegel vollendeten, was mit den Schopenhauerschen begonnen war, die Karikatur losgelassenen, sich selbst vergötzenden und seines Substrats verlustigen Denkens. Die Veröffentlichungen des sogenannten Patmoskreises aus den zwanziger Jahren sind Dokumente dieser Wirkung. Sie war damals so groß, daß sie Kierkegaard zur Anonymität des Zeitgeistes verhalf. Er sickerte in die gesamte theologisch-philosophische und pädagogische Sprache ein, um, kraft solchen Nachlebens, ein zweites Mal vergessen zu werden; damit zumindest wäre er nicht unzufrieden gewesen. Weniger behagt hätte ihm, daß jene Sprache so prompt zur Verfügung sich stellte, so geläufig und erfahrungslos sich plappern ließ, wie er es den Kandidaten der Theologie vorwarf. Kierkegaards Spätschriften, der Angriff auf die Christenheit im Namen des Christentums, hatten sich schroff etwa auch gegen bürgerliche Institutionen wie die Ehe gekehrt: »Es könnte mir ... niemals einfallen, mich zu verheiraten, die Aufgabe, Christ zu werden, ist so ungeheuer, wie sollte es mir dann beikommen, mich auf diesen Aufenthalt einzulassen, wie sehr auch die Menschen ihn, besonders in einem gewissen Alter, als die höchste Glückseligkeit hinstellen und ansehen! Aufrichtig gesprochen, ich begreife nicht, wie es irgendeinem Menschen einfallen kann, das Christsein mit dem Verheiratetsein vereinbaren zu wollen, dies wohlgemerkt so verstanden, daß ich dabei nicht an jemanden denke, der z.B. schon verheiratet wäre und Familie hätte, und nun in diesem Alter erst Christ würde, nein ich meine, wie jemand, der unverheiratet ist und von sich sagt, er sei Christ geworden, wie er darauf verfallen kann, sich zu verheiraten.«5 Insgesamt verdammte er die Akkommodation an mittlere Einrichtungen des sich perpetuierenden Lebens. Die religiöse Sphäre ward ihm in ›Furcht und Zittern‹ gestiftet als Suspension der Ethik. Derlei Fangzähne haben ihm seine Verehrer ausgebrochen. Rührend fast äußert sich Jaspers in dem 1955 verfaßten Nachwort zu seiner ›Philosophie‹: er habe sich den Kierkegaardschen »Begriff« der Existenz zu eigen gemacht. »Aber ich wurde kein Anhänger Kierkegaards. Denn ich blieb nicht nur unberührt von seinem Christentum, sondern spürte in seinen negativen Entschlüssen (keine Ehe, kein Amt, keine Verwirklichung in der Welt, sondern Märtyrerdasein als wesenszugehörig zur Wahrheit des Christentums) das Gegenteil von allem, was ich liebte und wollte, zu tun bereit und nicht bereit war. Seine Auffassung des christlichen Glaubens durch seine Religiosität B (als absurd) schien mir ebenso wie jene praktische Negativität das Ende des geschichtlichen Christentums und auch das Ende jeden philosophischen Lebens. Um so erstaunlicher war es, was Kierkegaard in seiner Redlichkeit auf seinem Wege zu sehen und zu sagen vermochte, fast unerschöpflich an erweckenden Momenten. Eine Philosophie ohne Kierkegaard schien mir heute unmöglich. Seine Größe hielt, das sah ich, den weltgeschichtlichen Rang neben Nietzsche.«6 Als ob so einfach das eine ohne das andere sich haben ließe. Kierkegaard ist in knapp hundert Jahren, durch einen seiner berühmtesten Adepten, nicht weniger eingeebnet, vom bürgerlichen Normalbewußtsein verschluckt worden wie, nach Kierkegaards eigener These, das Christentum nach fast zwei Jahrtausenden. Anregende Kraft, Größe wie die eines Bismarckdenkmals, Weltgeschichte – just das, was Kierkegaard verachtete, blieb von ihm übrig und wurde glorifiziert. Aus jenem Einzelnen ist das verlogene Gerede geworden, das damit sich brüstet, die anderen seien uneigentlich und dem Gerede verfallen. Besiegelt wurde das, als ihn in Deutschland vor 1933 der Nationalsozialist Emanuel Hirsch in Generalpacht nahm: Sieg als Niederlage.
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Die Bahn solchen Sieges ist die einer sich entfaltenden Unwahrheit von Kierkegaards Lehrgehalt. Gegenüber der Vergegenständlichung und Vergesellschaftung aller Beziehungen zwischen den Menschen in den hundert Jahren seit seinem Tode erwies sich die Position des Einzelnen, der er die höchste Würde verlieh, als Refugium vor dem herrschenden, der individuellen Bestimmung feindlichen Betrieb, der jeden zu seiner Rolle degradiert. Kierkegaard konnte populär werden, weil der absolut Einzelne, den er den damals eben sichtbar werdenden Massen des Hochkapitalismus entgegensetzte, unterdessen als Situation aller diesen sich darstellt. Solcher Primat des Einzelnen ist aber zugleich Schein. Denn die Allgemeinheit, das bürgerlich reine Prinzip der Tauschwirtschaft, realisiert sich durch die verabsolutierte Selbsterhaltung der sozialen Subjekte hindurch. Deren Vereinzelung, die der Lehre von der Existenz das Maß aller Dinge dünkt, ist mit dem Allgemeinen verschlungen. In gesellschaftlicher Konsequenz läuft sie auf den Funktionszusammenhang der antagonistischen Interessen hinaus. Die Individuen agieren bewußtlos für das Ganze, unter dem sie, als einem ihnen Fremden und in sich Widerspruchsvollen, leiden. Sie sind seine eingeborenen Kinder. Darum läßt der absolut Einzelne das schlechte Ganze unbehelligt, gegen das er aufbegehrt. Zur Innerlichkeit fügt sich Verachtung des Auswendigen, das an jene nicht heranreiche. Innerlichkeit kommt dem Auswendigen zugute, das die Einzelnen zu ohnmächtigen Atomen reduziert. Deren Gesamtheit bildet die Öffentlichkeit, gegen welche Kierkegaard das anathema schleuderte. Sein extremer politischer Konservativismus, altlutherisches Erbe, drückt getreu den geschichtlichen Stand objektloser Innerlichkeit aus, den er verkörpert. Wer jeden Eingriff in die äußerliche Realität als Abfall vom rein inwendigen Wesen ahndet, der muß die gegebenen Verhältnisse sanktionieren, wie sie sind. Kierkegaard scheute lange Zeit davor nicht zurück. Als er in der Hegelschen Geschichtsphilosophie den Trug angriff, die endliche Welt sei sinnvoll, hat er zugleich das Bewußtsein vom geschichtlichen Wesen der vermeintlich reinen Individualität verhindert. Gegen seinen Willen ist die Doktrin vom existierenden, ungeschmälert realen Einzelnen doch zu einer Art von Invariantenlehre geworden, Erinnerung an den gottesebenbildlichen Menschen. Zwar gebraucht Kierkegaard das Wort Ontologie abwertend wie etwa Metaphysik, als Einspruch gegen das Hegelsche An und für sich Sein des Begriffs, welches den von Kierkegaard hypostasierten Einzelnen zum bloßen Moment herabwürdige. Aber seine Wendung ist vergeblich. Die Lehre vom absoluten Einzelnen schlägt bereits in Kierkegaard in Ontologie, einen sei's auch verzweifelten Entwurf der Existentialien um. Was er an Hegel als Haltung des Zuschauers kritisierte; was bei diesem Entäußerung heißt, gegenständliche Objektivität, wandert bei Kierkegaard ein in die Grundbestimmungen des Subjekts. Deswegen hatten es die Ontologen des zwanzigsten Jahrhunderts so leicht, den Kritiker der Ontologie aus dem neunzehnten für sich zu beschlagnahmen. Und zwar zu politischen Zwecken. Die Warenwelt wird als Anstoß für die Tathandlung der reinen Innerlichkeit gerechtfertigt. Der abscheuliche Satz T.S. Eliots gegen den Sozialismus, dieser ziele auf eine so vollkommene Ordnung der Dinge, daß es der Liebe nicht mehr bedürfe, ist orthodoxer Kierkegaard. Seine Reden über die Liebe enthalten fast wörtlich dasselbe. Der vulgäre Tiefsinn von heutzutage, man dürfe an das Böse, das mit der Erbsünde in die Welt gekommen sei, seines erhabenen Stammbaums wegen nicht rühren, ist in Kierkegaard vorgebildet. Derlei Motive verdankt er aber nicht einfach der Tradition seines Bekenntnisses. Sie sind philosophisch durchreflektiert. Seine Attraktionskraft erklärt nicht zuletzt sich dadurch, daß er mit den Mitteln der Aufklärung, eben in ihrer höchsten Hegelschen Gestalt, Aufklärung verunglimpfte. Dadurch hat er einer Phase vorgearbeitet und ihrer Ideologie sich eingefügt, die seine Verachtung der Welt auf seinen Einzelnen übertrug, Autonomie, die schon bei Kierkegaard im Geruch von Hybris steht, verlästerte und die sich negierenden Einzelnen als Gefolgsleute ins Kollektiv einreihte. Kierkegaard meinte noch, man könne alles, nur nicht Menschen en masse, als Herde richten; die Herren der Welt haben es seitdem gründlich gelernt. Ohne es sich träumen zu lassen, hat er daran mitgewirkt, dem ausgespitzten Obskurantismus der totalitären Zeiten das intellektuelle gute Gewissen zu schaffen. Sein Denken empfahl sich als eines, das virtuell Denken durchstreicht. Vor der ausdehnungslosen Spitze seiner Dialektik der Innerlichkeit, dem Opfer des Selbst, wird Zufall fast, wem dieses in die Hände sich befiehlt. Freilich hat es sogar mit dem Kierkegaardschen Obskurantismus seine Bewandtnis. In der Wissenschaft beschimpft er nicht bloß das Hegelsche absolute Wissen, sondern auch jene akademischen Produkte, die mit dem Brimborium von Wissenschaftlichkeit lebendiges Bewußtsein substituieren. Die bestürzende Gewalt Kierkegaards in seinem Nachleben aber hat zum tiefsten Grund, daß eine andere Position als die des Einzelnen, welche er bezog, den Protestierenden auch heute primär nicht sich darbietet; daß jede unmittelbare Identifikation mit dem Kollektiv sogleich die Unwahrheit ist, zu der die Position des Einzelnen stets erst wird. Kierkegaard wurde wahrhaft zu dem Verführer, den er in seinem frühen Werk so hilflos spielte, weil die Unwahrheit des absoluten Einzelnen und die Wahrheit von dessen Widerstand unauflöslich fast ineinander verstrickt sind. Heute wäre es an der Zeit, diese Verstrickung zu durchschneiden.
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Die Unwahrheit Kierkegaards, die ihn triumphieren ließ, ist die philosophische. Ihm ist Philosophie die negative und notwendige Bedingung seiner Theologie. Die Struktur seines Werkes, einer Phänomenologie des in sich bewegten individuellen Geistes, bezeugt das. Der Widersacher Hegels war in dessen Bann. Zugleich jedoch der Hegelschen Philosophie nicht ganz mächtig, taumelnd belangen wie ödipale Charaktere gegenüber Vaterfiguren. Der gesamte Prozeß Kierkegaard contra Hegel ist deshalb neu aufzurollen, wie es in einer bedeutenden, noch unpublizierten Schrift von Hermann Schweppenhäuser geschah**. Kierkegaards Hegelverständnis, dem man, mit Ausnahme eines kleinen Aufsatzes von Richard Kroner, vorher kaum nachging, ist problematisch, merkwürdig ähnlich übrigens wie das von Marx. Den Hegelschen Zentralbegriff, gegen den er eifert, den der Vermittlung, hat er grob mißdeutet. Bei Hegel ist Vermittlung eine durch die Extreme hindurch. Daß der Begriff aus sich heraus in seinen Widerspruch umschlägt, heißt in Hegelscher Sprache: der Begriff ist in sich selbst vermittelt. Kierkegaard jedoch verkannte simpel die Hegelsche Vermittlung als ein Mittleres zwischen den Begriffen, einen moderantistischen Kompromiß. Denkbar, daß er unter dem Einfluß Trendelenburgs den Aristotelischen Begriff der rechten Mitte, der mesoths in Hegel hineinlas. Die Panazee aber, die er Hegel entgegenstreckt, ist wörtlich aus diesem zitiert; der qualitative Sprung stammt aus der Vorrede der Phänomenologie des Geistes. Das sind keine philosophie-historischen oder philologischen Quisquilien, sondern für die Theorie die folgenreichsten Tatbestände. Während nämlich Kierkegaard als Dialektiker sich betrachtet und scheinbar dialektisch verfährt, verfehlt er die Methode, auf die er sich selbst vereidigt hat, indem er sie ohne Vermittlung handhabt. Sein Einzelner fällt aus der Dialektik heraus und zurück auf die pure Unmittelbarkeit. Kierkegaard sieht nicht, daß der Einzelne so wenig wie irgendeine andere Kategorie für sich genommen ein Absolutes ist, sondern in sich selbst als ihr notwendiges Moment ihr Gegenteil einschließt, jenes Ganze, dessen Gebrauch er an Hegel als systematisch ahndet. Real ist das jedoch die Gesellschaft. Durch Verinnerlichung; dadurch, daß das Individuum für sich bleibt, anstatt in sein anderes überzugehen, weil es selber schon sein anderes ist – dadurch wird Hegel ebenso verfälscht wie das Subjekt, das im Schein seines Fürsichseins sich verstockt, während es immer zugleich gesellschaftliches Wesen bleibt. Man hat zutreffend konstatiert, die Kierkegaardsche Innerlichkeit sei das aus der Dialektik herausgebrochene und fixierte unglückliche Bewußtsein der Hegelschen Phänomenologie. Dann fällt aber Kierkegaard unter die ungemilderte Kritik Hegels an jener Stufe des Geistes. Das unglückliche Bewußtsein, sagt dieser, »steht vielmehr in dieser Mitte, worin das abstrakte Denken die Einzelheit des Bewußtseins als Einzelheit berührt. Es selbst ist diese Berührung; es ist die Einheit des reinen Denkens und der Einzelheit; es ist auch für es diese denkende Einzelheit oder das reine Denken, und das Unwandelbare wesentlich selbst als Einzelheit. Aber es ist nicht für es, daß dieser sein Gegenstand, das Unwandelbare, welches ihm wesentlich die Gestalt der Einzelheit hat, es selbst ist, es selbst, das Einzelheit des Bewußtseins ist ... Sein Denken als solche [scil. als Andacht] bleibt das gestaltlose Sausen des Glockengeläutes oder eine warme Nebelerfüllung, ein musikalisches Denken, das nicht zum Begriffe, der die einzige immanente gegenständliche Weise wäre, kommt. Es wird diesem unendlichen reinen inneren Fühlen wohl sein Gegenstand, aber so eintretend, daß er nicht als begriffener, und darum als ein Fremdes eintritt. Es ist hierdurch die innerliche Bewegung des reinen Gemüts vorhanden, welches sich selbst, aber als die Entzweiung schmerzhaft fühlt, die Bewegung einer unendlichen Sehnsucht, welche die Gewißheit hat, daß ihr Wesen ein solches reines Gemüt ist, reines Denken, welches sich als Einzelheit denkt, – daß sie von diesem Gegenstande ebendarum, weil es sich als Einzelheit denkt, erkannt und anerkannt wird. Zugleich aber ist dies Wesen das unerreichbare Jenseits, welches im Ergreifen entflieht oder vielmehr schon entflohen ist. Es ist schon entflohen; denn es ist einesteils das sich als Einzelheit denkende Unwandelbare, und das Bewußtsein erreicht sich selbst daher unmittelbar in ihm, sich selbst, aber als das dem Unwandelbaren Entgegengesetzte; statt das Wesen zu ergreifen, fühlt es nur und ist in sich zurückgefallen; indem es im Erreichen sich als dies Entgegengesetzte nicht abhalten kann, hat es, statt das Wesen ergriffen zu haben, nur die Unwesentlichkeit ergriffen. Wie es so auf einer Seite, indem es sich im Wesen zu erreichen strebt, nur die eigene getrennte Wirklichkeit ergreift, so kann es auf der anderen Seite das Andere nicht als Einzelnes oder als Wirkliches ergreifen. Wo es gesucht werde, kann es nicht gefunden werden; denn es soll eben ein Jenseits, ein solches sein, welches nicht gefunden werden kann. Es als Einzelnes gesucht, ist nicht eine allgemeine, gedachte Einzelheit, nicht Begriff, sondern Einzelnes als Gegenstand oder ein Wirkliches, Gegenstand der unmittelbaren sinnlichen Gewißheit, und ebendarum nur ein solches, welches verschwunden ist. Dem Bewußtsein kann daher nur das Grab seines Lebens zur Gegenwart kommen.«7 Hegel schlug seinen nachgeborenen Todfeind, indem er ihn bis in idiosynkratische Züge hinein aus der Bewegung seiner eigenen Philosophie prophetisch erfand. Wirft Hegel dem unglücklichen Bewußtsein, als einem dem Zusammenhang gegenüber sich blind Machenden, Abstraktheit vor, so wird der Kierkegaardsche Einzelne abstrakt noch weit buchstäblicher. Was sein möglicher Inhalt sein könnte, stammt aus der Welt, zu der der absolut Einzelne in absolutem Gegensatz sein soll. Hält er von ihr sich rein, so wird seine scheinbare Konkretion, die des reinen Diesda, zu einem gänzlich Unbestimmten. In der Konstruktion von Kierkegaards Theorie drückt sich das darin aus, daß alle inhaltlichen Bestimmungen in die »Lage« – es ist daraus die »Situation« sämtlicher existentiellen und existentialen Philosophie geworden – hineingenommen werden, in ein für den Einzelnen Heteronomes und Irrationales, von dem dieser doch wieder abhängig gemacht wird. Sein Inhalt gehorcht der Zufälligkeit. Deshalb werden die Grundbestimmungen des Kierkegaardschen Einzelnen, seine Ontologie, negativ: nach seiner Sprache dämonisch. Kierkegaards Einzelner ist so wenig das Wahre, wie das Hegelsche Ganze. Die Grundthese Kierkegaards, die Subjektivität sei die Wahrheit, ist gesamtidealistisch. Tatsächlich konnte seine Dialektik, trotz der äußersten Anstrengung dazu, dem Idealismus nicht sich entwinden, dem sie durch den Ansatz in objektloser Innerlichkeit angehört. Aber bei Kierkegaard – und das ist bereits ein Stück des Positivismus, der Hegel nach dessen Tod sogleich verdrängte – wird Subjektivität der einzelnen Person, dem Individuum gleichgesetzt, von dem Fichte, auf den er in gewissem Sinn und hinter Hegel zurückgreift, sein Subjekt als die Wahrheit emphatisch abhob. Dadurch wird dem in sich verkapselten, von der Allgemeinheit fensterlos abgespaltenen Besonderen jene Sinnhaftigkeit unmittelbar zugeschoben, die dem Idealismus Geist hieß und die vom Allgemeinen nicht dekretorisch getrennt werden kann. Der Widerspruch ist ungelöst. Kierkegaard hat sich geholfen, indem er ihn unter dem Namen des Paradoxons stillstellte und hypostasierte. Auch darin blieb er Schüler Hegels, der die Logik der Widerspruchslosigkeit einschränkt. Wo jedoch die Hegelsche Philosophie den Knoten des Widerspruchs im Fortgang aufzulösen trachtet, wird er bei Kierkegaard gewaltsam sich selbst zur Lösung. Soweit ist seine Theorie wahr gegen Hegel, wie sie dem Moment des Nichtidentischen, in seinem Begriff nicht Aufgehenden, größeres Recht verschafft, während es bei Hegel zwar zur Dialektik treibt, schließlich aber in der reinen Identität des absoluten Geistes verschwindet. Kierkegaard hat die Klammer der Identitätsphilosophie zerbrochen; exemplarisch, weil es immanent, nicht durch die willkürliche Setzung einer Gegenposition gegen Hegel von außen her geschah. Im Kierkegaardschen Subjektbegriff, als dem der Existenz, schlägt jenes nichtidentische Reale durch, das die Konzeption des reinen Subjekts als Geist im Idealismus eskamotiert. Insofern hat Kierkegaard, der die Vermittlung schmähte, eine zentrale stärker betont als Hegel, der sie freilich wohl kannte: die des Ichs durchs Nicht-ich, die des konstituierenden Subjekts durch das, was nach idealistischem Schema bloß von ihm konstituiert worden sein soll. Gleichwohl bleibt auch seine Theorie Identitätsdenken. In ihr wird, was im Begriff nicht aufgeht, als Existenz absolut vergeistigt, verbegrifflicht. Er unterstellt dem Prinzip des Existierens die Totalität so, wie die Idealisten dieser das Existierende. Der Ausbruchsversuch aus dem Idealismus ist mißglückt, und das Denken, das der Totalität des Begriffs zu entrinnen hofft, verdammt zum hoffnungslosen Kreisen in sich selbst und zur Beschwörung eines ihm fremden und inkommensurablen Sinnes. Der eindringlichste Beleg dafür ist die Theorie vom Selbst als einem sich zu sich selbst verhaltenden Verhältnis am Anfange der ›Krankheit zum Tode‹8. Die Blasphemie, die er Hegel vorwirft, das Absolute, Gott, an Denken und damit Menschlichem festzumachen, begeht er nochmals kraft der Form seines Denkens. Durch Selbstnegation, aus der eigenen Bewegung heraus wähnt es, zum Begriff der Gottheit zu gelangen. Jedenfalls der Konstruktion von Kierkegaards Philosophie nach. – Bei ihr indessen bleibt es nicht. Daß der Begriff der Existenz auf dem Extrem von Abstraktion nicht verharren kann, zu welchem ihn die Kierkegaardsche Dialektik der Innerlichkeit treibt, und seinen Inhalt sich leihen muß von jenem Auswendigen, von dem Kierkegaard sich abwendet, wird zum Korrektiv an diesem. Die Antithesis zur Objektwelt konkretisiert den Existenzbegriff weit über das hinaus, als was die Spekulation ihn setzt. Dem Erfahrungsgehalt nach ist solche Konkretion, das Eingedenken der leibhaftigen Menschen anstelle der Konstruktion geistig reinen Menschenwesens, wahrscheinlich das, was Kierkegaard eigentlich bewegte. Nach dem Maß von Philosophie versagen der Lutherische Nominalismus und der Spiritualismus absoluter Innerlichkeit sich einem Generalnenner; wie der Nominalismus von je, hatte auch der Kierkegaardsche seine materialistische Komponente. Der Geist, der kein reines An sich, sondern sekundär und abhängig sein soll, ist es, wie Kierkegaard lernen mußte, nicht bloß von der Gottheit, sondern auch von den Bedingungen der Empirie. Sobald er von der Existenzlehre zum Eingriff übergeht, in der Polemik des ›Augenblicks‹, wird er der Verfilzung des herrschenden christlichen Geistes mit den kruden Interessen derer inne, die ihn verkünden und verwalten. Sein Existentialismus ist doppelten Charakters: Metaphysik des nominalistisch aufs Individuum zurückgebildeten absoluten Subjekts und schneidender Angriff auf die Ideologie des Profitsystems. Insofern markiert Kierkegaard eine Paßhöhe.
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Soweit er jedoch philosophisch redet, begibt er sich zurück hinter die Philosophie, deren Instrumentarium das seine ist. Man hat Hegel der Begriffsmythologie geziehen. Kierkegaards Dialektik ist es mehr, mythisch nach der Art einer in sich verschränkten, ausweglosen Naturreligion. Transzendenz, ihr ein und alles, wird von ihr vernichtet. Kierkegaard will Transzendenz reinigen von jeglichem Vermittelnden, das sie mit der Welt teilt. Über solcher Entmythologisierung wird sein Absolutes deren eigener Widerpart, schlechthin unbekannt, drohend und hoffnungslos wie Schicksalsgötter. Vernehmlich zwar hallt in Kierkegaards Lossage von der Kirche der Aufstand der gestürzten Wesenheiten der Vorwelt wider. Rüttelt er an der Einheit des Logos, so meint das auch den Protest des Vielen in der Natur, dem solche Einheit angetan ward. Aber solcher Protest gegen das unterdrückende Prinzip verfängt sich in diesem. Daß in Kierkegaards Christologie, angesichts des immer wieder urgierten Furchtbaren und Schrecklichen des Christentums, die Gnade so sehr verblaßt, folgt aus dem Gedanken nicht weniger denn aus verdüstertem Naturell. Der paradoxe Gottmensch, irrational und jegliches natürliche Licht auslöschend, büßt mit der Affinität zu den Menschen seine qualitative Bestimmtheit ein. Er wird abstrakt wie ein Begriff und vieldeutig wie ein Dämon, dem die Opfer wider ihr Denken sich unterwerfen müssen. Der Rettung sind sie so wenig sicher wie die säkularisierte Welt; in Kierkegaard konvergiert erstmals losgelassene Säkularisierung mit jener Mythologie, welche die Säkularisierung auszurotten sich vermißt. Wie triftig er auch über die Christenheit urteilen mochte, eines erkannten noch seine armseligsten Widersacher. Seine Verteidigung des Christentums gegen das, wozu sie es gemacht hatten, streicht es aus. Vom Urchristentum, das ihm vorschwebt, unterscheidet das seine sich durch den aus der Philosophie übertragenen Charakter vollkommener Reflektiertheit. Der Vergleich mit Tolstoi mag das erläutern. Dieser hat weder nach der Rechtsquelle noch nach der Tradition gefragt und, tendenziell, zum Christentum so sich verhalten, als duldete die Anweisung des Evangeliums zu einem richtigen – und das war bei Tolstoi wesentlich: naturgemäßen und gewaltlosen – Leben keine andere Wahl, wofern einer überhaupt guten Willens ist. Zwar klingt Kierkegaards Argumentation gegen die, welche dem Christentum sich verweigern, zuweilen daran an. Aber seine eigene Haltung gleicht in nichts der apostolischer Nachfolge, und er hat diese, in großer intellektueller Redlichkeit, für sich auch nicht beansprucht. Zur Religion kommt es bei ihm nicht durchs unwiderstehliche Vorbild, sondern durch einen Denkprozeß, der schließlich Denken, als endliches der endlichen Kreatur, bricht und die Wahrheit dem vorbehält, was nicht mehr gedacht werden kann und was dem Denken absolut widerspricht. Dieser Prozeß indessen kann nicht aus sich heraus im Lehrgehalt des Christentums terminieren; der wäre solcher Dialektik so beliebig wie jeder andere. Das christliche Dogma bleibt der blinde Fleck der Kierkegaardschen Reflexion, weder Offenbarung noch Gedanke. Damit aber Produkt der Welt, die er absolut verwirft. Er stammt aus der Tradition, welche die antikirchliche Lehre von der absoluten Gleichzeitigkeit verneint. Der Ursprung von Kierkegaards Christentum ist, was er am letzten sein dürfte, das, was ihm gesagt ward. Auf väterliche Autorität, auf die »Religion unserer Väter« hat er nicht selten sich berufen. Ein Naturverhältnis wird streng zur Bedingung seines Supranaturalismus. Dem Bewußtsein dessen ist er recht nahegekommen in der Nachschrift zu dem ersten großen Angriff auf Mynster, publiziert im Dezember 1854. Der Verstorbene war »meines Lebens Unglück«, weil Kierkegaard »von einem verstorbenen Vater mit ›Mynsters Predigt‹ aufgezogen, auch aus Pietät gegen den verstorbenen Vater diesen falschen Wechsel honorierte anstatt ihn zu protestieren«9. Von hier wäre nur ein Schritt zur Kritik an Kierkegaards eigenem Christentum. Er hätte ihn auf den abgründigen und bis heute noch nicht zulänglich durchdachten Zusammenhang von Tradition und Erkenntnis geführt und auf die Frage, ob Religion ohne Tradition überhaupt möglich sei: »Aber so einsam fehlt jegliches Göttliche mir.«10 Als spekulativer Philosoph konnte er dem so wenig sich stellen wie als Theologe der unmittelbaren Autorität des biblischen Wortes. Indem er, vor ihr und aus Reflexion, zu reflektieren sich versagte, setzte er sich als natürliches Wesen, Kind des geliebten und gehaßten Vaters, zum Kriterium dessen ein, was jeglichem Naturverhältnis entrückt sein soll. Dicht unter der Demut des Genies, die sich zum Nichts erklärt gegenüber dem Apostel, lauert die Hybris dessen, der sich verschließt in das, was er nun einmal ist. Der Schrei nach der Gottheit wird zum Schrei des Trotzes. Existenz will die Transzendenz beschwörend herbeizwingen. Zum letzten wird die nackte, unmittelbare Identität des Selbst, das sich verhärtet, nicht in der Erkenntnis seiner Vermitteltheit sich lösen. Die Vergleiche aus der nordischen Mythologie, von denen sein Werk, bis in die letzten Schriften hinein, durchwachsen ist, sind mehr als Metaphern, Spuren unterirdischer Tradition, so unvereinbar mit dem Christentum wie mit der Philosophie. Die mythische Schicht, die innerste des Innerlichen, öffnete wahrscheinlich sich ganz erst einer Analyse seiner Sprache. Es ist die absichtsvoller und hintersinniger Wiederholung. Ihr Urbild, jenseits von Dialektik, ist das Echo, das die Autorität des bestimmten Lautes vereint mit Trug, weil es nichts anderes ist als die eigene Stimme des Vernehmenden. Das Echo zeugt von einem Bann. Philosophisch ist es der des selbstgemachten Denkens. Aus ihm bricht Kierkegaard nur zum Schein aus, verharrt in der mythischen Befangenheit. Der gegen den Identitätszwang und die Einheit sich aufbäumte, mit der das Subjekt das Nicht-ich unterjocht, war gekettet an jenes Subjekt, das anders nicht sich als wesenhaft zu bestimmen vermag denn durch Einheit, die Identität mit sich selbst. Der Kierkegaardsche Kosmos klafft auseinander in ein ganz Unbestimmtes und das Identitätsprinzip der Selbstheit, wie im Idealismus, den er denunziert. Dagegen, gegen die eigene Mythologie, war er mythisch verblendet. Er hat in der Polemik gegen Martensen sich auf das Stück ›Die Elfen‹ von Heiberg bezogen. In diesem »widerfährt es bekanntlich dem Schulmeister Grimmermann, daß er ganz unversehens 70000 Faden tief unter die Erde hinabstürzt und sich, womöglich noch unerwarteter als sein Fall unversehens war, von Bergtrollen umgeben sieht. ›Was für ein Unsinn‹, sagt Grimmermann, ›es gibt keine Bergtrolle – und hier ist meine Bestallung‹. Ach, aber mit einer königlichen Bestallung zu Bergtrollen zu kommen, ist verlorene Mühe, was zum Teufel kümmern sich Bergtrolle um eine königliche Bestallung, ihr Reich ist nicht von dieser Welt, für sie ist selbstverständlich eine königliche Bestallung = O, hat höchstens Papierwert.«11 Mit den Bergtrollen verglich er sich selbst: »Aber daß man – christlich – zu mir und Leuten von meiner Art mit einer königlichen Bestallung kommt, heißt ebenso glücklich ankommen wie Grimmermann mit seiner Bestallung.«12 Er hat zu den Erdgeistern sich gesellt, deren Stimme den Nachlebenden zum Sturz in den Abgrund verlockt. Kierkegaards unwiderstehliche Stimme äfft den, er ihm sich anvertraut: er wußte, warum er keine Nachfolger wollte.
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Unwiderstehlich aber ist seine Stimme doch kraft ihres Wahrheitsgehalts. Die regressive, bewußtlose Heraufkunft der Naturreligion als des Stellvertreters unterdrückt außer- und innermenschlicher Natur gewinnt bei ihm um so größere Gewalt, als der Protest, der in der Stickluft der Kierkegaardschen Innerlichkeit entflammt, nirgends sich äußert, als wäre er Natur, sondern die Entfernung von ihr unbeirrt ausdrückt. Die Welt, gegen die Kierkegaard das Christliche hielt, das sie realisiert zu haben vortäuscht – diese Welt, in der, wie er es nennt, das Subjekt ausging, ist die hochkapitalistische Gesellschaft, wie gleichzeitig, ohne daß die beiden voneinander wußten, Marx sie analysierte. Wider das absolute Füranderessein der Warenwelt ist das absolute Fürsichsein des Kierkegaardschen Einzelnen ersonnen. In seiner verkehrten Gestalt ist dieser der Abdruck der verkehrten Gestalt des Ganzen. Darum ist Kierkegaards Kritik nicht überholt; auch nicht die seiner Kirche, deren Dogmatik ihn grotesk aufsog. Zur Wahrheit wollte er nicht derart verführen, daß man Jazz im Gottesdienst spielt, damit es den jungen Leuten nicht zu langweilig wird. Das heute beliebte Wort Kurzandacht ist wie ein Kierkegaardscher Alptraum. An der Kirche, auf die er idiosynkratisch hinstarrte, hat er als erster wohl das Phänomen der Neutralisierung entdeckt. Eingegliedert oder, wie man heute begeistert es nennt, integriert, getrennt vom Potential seiner eigenen Verwirklichung, ist der Geist zum Kulturgut, schließlich selbst zur Ware, zum schlechterdings Unverbindlichen herabgesunken. Unübertroffen die Parabel Kierkegaards dafür, die noch in der zweiten Nummer des ›Augenblicks‹ wiederkehrt: »Während man mit der Eisenbahn den Weg bequem dahinfährt, liest man in dem Handbuch ›hier ist die furchtbare Wolfsschlucht, wo man 70000 Faden tief in den Abgrund hinunterstürzen kann‹; während man in dem gemütlichen Kaffeehaus sitzt und seine Zigarre raucht, liest man im Handbuch ›hier ist es, wo eine Räuberbande ihren Zufluchtsort hat, welche die Reisenden überfällt und mißhandelt‹: hier ist es, d.h. hier war es, denn jetzt – recht ulkig, sich vorzustellen, wie es war – jetzt gibt es hier keine Wolfsschlucht, sondern eine Eisenbahn, und keine Räuberbande, sondern ein gemütliches Kaffeehaus.«13 Kierkegaard wollte nicht mitspielen. Weil er, in den engen und provinziellen Verhältnissen seines Landes, nichts sah, was solcher Neutralisierung hätte entrinnen können, und weil er sie richtig als Schicksal der Welt prognostizierte, schöpfte er Hoffnung wider die Hoffnung, im Paradox, seinem Deckbild von Revolution, von dem, was nicht aufginge in der Logik der Dinge, sondern sie durchbräche. In ihrer Verlagerung ins Inwendige wirft bereits die Übermacht der fatalen Logik ihren Schatten voraus, welche das Mögliche abwürgte. Sollte es schon so sein, so wollte er wenigstens nicht sich anpassen, wie unterdessen die Zauberformel lautet; Fähigkeit zur Anpassung war sein Hauptvorwurf gegen den verstorbenen Bischof Mynster14. Sein outrierter Konservatismus, der ihn schließlich nicht davon abhielt, mit dürren Worten vom Bestehenden anstatt von Auswüchsen zu reden, und es zu verdammen, gewinnt dadurch einen unerwarteten Aspekt. Weil er am rein und unaufhaltsam sich durchsetzenden Liberalismus mehr das Unheil gewahrte, das er seinen Opfern antut, als den Fortschritt, mit dem er darüber tröstet, hat er eher noch mit den Verurteilten sympathisiert als mit den Siegern, den stärkeren Bataillonen der Weltgeschichte. Wie wenig behaglich es um seinen Konservatismus bestellt ist, das läßt an der Wirkung seines Angriffs sich ablesen. Die einzige Antwort, deren der Bischof Martensen ihn würdigte, ist schon eine Summa allen Geblöks der nachlebenden kompakten Majorität gegen den Abweichenden, er mag Nietzsche heißen oder Karl Kraus oder sonstwie. Engt Kierkegaard den Namen Wahrheitszeuge auf die Märtyrer ein, so fragt ihn der Bischof: »Aber was in aller Welt gibt ihm denn das Recht, den Begriff auf eine so willkürliche, allem kirchlichen Sprachgebrauch widersprechende Art einzuschränken«15 – mit dem seitdem automatisierten Gestus des Ja aber, pochend auf die Institution, mit verlogener Lauterkeit durch formale Definitionsfragen die nach der Sache verdeckend. Wollte man Kierkegaard folgen, so meint Martensen, man müsse, horribile dictu, »den Artikel aufgeben, den wir als Kinder gelernt haben«: schon muß die Naivetät der lieben Kleinen als Ausrede für die befriedigte Dummheit der Reifen herhalten. Lehrt Kierkegaard, Zeichen des Wahrheitszeugen sei Leiden, »so muß«, tönt Martensen, »doch dazu angemerkt werden«, ein probater Sprachgestus. Kierkegaards Radikalismus sei »verschroben«; mobilisiert jener alle geistige Kraft gegen ihn, so sei das nichts als »Feinschmeckerei der Eitelkeit«; Martensen verfügt bereits über das Sophisma, welches die Anstrengung des Geistes, welche dieser sich und anderen zumutet, wenn er kein Spaß ist, verdächtigt als Mittel der Selbsterhöhung des Inkriminierten. Gegen den, welchen es vorm herrschenden Unwesen ekelt, zetert der Bischof, daß er die höchsten Güter in den Staub ziehe. Er hat da Sätze gefunden, die nicht nur in einem Ibsenschen Stück vorkommen, sondern noch heutzutage seinesgleichen als Muster dienen könnten. »Aber wie ich ihn Schmähworte herausschleudern sehe gegen einen der Edelsten in unserm Vaterland, gegen einen Mann, den er selbst früher als seinen Lehrer anerkannt hat, seinen geistlichen Wohltäter; wie ich ihn sehe als einen Thersites am Grab des Helden: da räume ich freilich ein, daß er durch diese Grabrede ganz sicher erreichen wird, was er beabsichtigt hat, nämlich: daß er vielen Ärgernis gibt. Aber wohlgemerkt: Nicht bloß die himmlische Wahrheit und Liebe kann den Menschen Ärgernis geben, sondern auch die gewissenlose Unwahrheit und Ungerechtigkeit, auch der unreine und zuchtlose Geist, auch der Mutwille, der mit dem Ehrwürdigen spielt, spielt mit dem eigenen besseren Gefühl eines Menschen.«16 Alles Offizielle ist Schmach, lernte Theodor Haecker von Kierkegaard. Eine Notiz aus dessen Tagebuch genügt, die Gesinnung, die in Martensen einen ihrer ersten Sprecher fand, bis zur Gegenwart zu enthüllen: »Das Neue Testament enthält das göttlich Wahre. So hoch wie es über allen Verirrungen, Überspanntheiten usw. steht, so tief liegt die Mittelmäßigkeit, das Geschwätz, die Kinderei, das dumme Gerede unter jeglicher Einseitigkeit. Aber da das Geschwätz doch die Eigenschaft hat, daß es nicht einseitig ist, so macht es sich das zunutze, und gibt sich für das wahre Göttliche aus, das hoch über allen Einseitigkeiten steht.«17 So sind sie immer noch gegen die Einseitigkeiten. Sage keiner, Kierkegaards Haß auf das Bestehende sei zu abstrakt. Man braucht sich nur den Martensen recht vorzustellen, um zu wissen, gegen wen und gegen was es geht, und längst ist es nicht mehr die dänische Lutherische Kirche. In der bestimmten Negation ist Kierkegaard, nach seiner Sprache, aus der Innerlichkeit herausgetreten. War ihm das Ganze, als Totalität und System, der absolute Trug, so hat er es mit dem Ganzen aufgenommen, in das er eingespannt war wie alle. Das ist exemplarisch an ihm. Von dem Tag an, da er auf der Straße umfiel, taugt nichts Geistiges mehr, das bescheidener wäre: er hat das Pascalsche On ne doit plus dormir potenziert. Die Kierkegaardsche Kurve ist die umgekehrte des Brechtschen Jasagers, dem das Kollektiv weismachen will, wichtig zu lernen vor allem sei Einverständnis. Nach Kierkegaard gibt es keine Freundschaft mehr mit der Welt, weil sie, indem sie die Welt, wie sie ist, bejaht, das Schlechte in ihr verewigt und verhindert, daß sie würde, was zu lieben wäre. Wer dabei war, wie Karl Kraus, durch sein pures Wort, Imre Bekessy 1925 aus Wien verjagte, der hat noch etwas erfahren von der konkreten Gewalt dessen, was in Kierkegaard so abstrakt und so monomanisch erscheint: von der Macht der Ohnmacht.
Fußnoten
* Die Anmerkungen zur Zweiten Beilage findet sich unten, S. 259, zusammengestellt. (Anm. d. Hrsg.)
** cf. jetzt Hermann Schweppenhäuser, Kierkegaards Angriff auf die Spekulation. Eine Verteidigung. Frankfurt a.M. 1967. (Anm. d. Hrsg.)
Anmerkungen zur Zweiten Beilage
1 Sören Kierkegaard, Der Augenblick. Aufsätze und Schriften des letzten Streits. (Übersetzt von Hayo Gerdes.) Düsseldorf, Köln 1959. (Gesammelte Werke. 34. Abt.) S. 6.
2 l.c., S. 31.
3 l.c., S. 363.
4 l.c., S. 343.
5 l.c., S. 236f.
6 Karl Jaspers, Philosophie. I: Philosophische Weltorientierung. Berlin, Göttingen, Heidelberg 1956. S. XX.
7 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes. Hrsg. von Georg Lasson. 2. Aufl., Leipzig 1921. (Philosophische Bibliothek. 114.) S. 143f.
8 cf. Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode. Der Hohepriester – der Zöllner – die Sünderin. (Übersetzt von Emanuel Hirsch.) Düsseldorf, Köln 1954. (Gesammelte Werke. 24. und 25. Abt.) S. 8f.
9 Kierkegaard, Der Augenblick, l.c., S. 8.
10 Hölderlin, Sämtliche Werke. Hrsg. von Friedrich Beißner. (Kleine Stuttgarter Ausgabe.) Bd. 2: Gedichte nach 1800. Stuttgart 1953. S. 81 (»Menons Klagen um Diotima«).
11 Kierkegaard, Der Augenblick, l.c., S. 55f.
12 l.c., S. 56.
13 l.c., S. 127.
14 cf. l.c., S. 30f.
15 l.c., S. 10.
16 l.c., S. 13.
17 l.c., S. 355.