Vierhändig, noch einmal
Jene Musik, die wir die klassische zu nennen gewohnt sind, habe ich als Kind kennengelernt durchs Vierhändigspielen. Da war wenig aus der symphonischen und kammermusikalischen Literatur, was nicht ins häusliche Leben eingezogen wäre mit Hilfe der großen, vom Buchbinder einheitlich grün gebundenen Bände im Querformat. Sie schienen wie gemacht, umgeblättert zu werden, und ich durfte sie umblättern, längst ehe ich die Noten kannte, nur der Erinnerung und dem Gehör folgend. Selbst Beethovensche Violinsonaten befanden sich in kuriosen Bearbeitungen darunter. Manche Stücke, wie Mozarts g-moll-Symphonie, haben sich mir in jener Zeit derart eingeprägt, daß es mir heute noch scheint, die Spannung der einleitenden Achtelbewegung könne kein Orchester jemals so vollständig herstellen wie der fragwürdige Anschlag des Secondspielers. Besser als jede andere schickte diese Musik sich in die Wohnung. Sie wurde auf dem Klavier als einem Möbel hervorgebracht, und die sie ohne Scheu vor Stockungen und falschen Noten traktierten, gehörten zur Familie.
Vierhändigspielen legten mir die Genien des bürgerlichen neunzehnten Jahrhunderts als Geschenk an die Wiege im beginnenden zwanzigsten. Die vierhändige Musik: das war die, mit welcher sich noch umgehen und leben ließ, ehe der musikalische Zwang selber Einsamkeit und geheimes Handwerk befahl. Damit ist nicht bloß über die Praxis des Spielens etwas gesagt, sondern auch über das Gespielte selber. Denn die Literatur, die es hier als klassische gab, ist die eines Zeitraumes von weniger als hundert Jahren: selber dem Vierhändigspielen vorbestimmt. Sie beginnt mit Haydn und endet mit Brahms. Bach ist der vierhändigen Interpretation sonderbar unangemessen, und ich vemag mich aus der Kindheit auch nicht zu entsinnen, daß Bach gespielt worden wäre; die nach-Brahmsische Moderne scheidet schon der manuellen Schwierigkeit wegen, mehr noch um der Selbstherrlichkeit ihrer Klangfarben willen, aus. Es ist also die Symphonik im engeren Verstande, die dem Vierhändigspielen zugänglich ist oder war. Sie stammt aber aus der Epoche der eigentlich bürgerlichen Musikübung. Wenn Bekkers Theorie von der gemeinschaftbildenden Kraft der Symphonik zutrifft, so ist doch zugleich diese Gemeinschaft allemal eine von einzelnen. Daß jeder einzelne im großen ganzen der Symphonie sich selbst bestätigt wiederfinde, das erweist sich ihm daran, daß er die Symphonie, ohne von ihrer Verbindlichkeit etwas preiszugeben, in Familie und Wohnung aufnehmen kann, so wie er die Bilder seiner Klassiker aufhing. Aber das Vierhändigspielen war besser als die Toteninsel überm Büffet; stets noch mußte er wahrhaft die Symphonie erwerben, um sie zu besitzen: sie spielen. Und er spielte sie nicht gänzlich privat; er durfte nicht, wie er es mit seinen Griegschen Lyrischen Stücken gewohnt war, Tempo und Dynamik nach dem Belieben seiner Triebregungen modifizieren, sondern mußte sich nach Text und Vorschrift des Werkes richten, wenn er nicht »herauskommen«, den Zusammenhang mit dem Partner verlieren wollte. Mehr noch. Den Werken selber schien etwas vom Geheimnis des Vierhändigspielens innezuwohnen.
Kein Zufall, daß die Literatur der vierhändigen »Originalkompositionen« sich auf jenen Zeitraum beschränkt. Ihr wahrer Meister ist Schubert. Die wichtigsten seiner vierhändigen Werke: die Große Sonate, die f-moll-Phantasie, das Ungarische Divertissement, das A-Dur-Rondo, auch die Militärmärsche, sind stilistisch allesamt dem Orchester nahe genug; vielleicht nur aus Mangel an orchestralen Aufführungsmöglichkeiten oder aus Eile für Klavier geschrieben, zeigen sie deutlich jenes vieldeutige Verhältnis von objektiver Symphonik und privater Musikübung, welches für die Kompositionspraxis des neunzehnten Jahrhunderts insgesamt wichtige Regeln abgeben mag. Umgekehrt: spielt man vierhändige Auszüge der Symphonien von Schumann und Brahms, so wird man erstaunt sein, wie gut sie liegen: allzugut; selbst ein kompositorisch so reiches Stück wie der erste Satz der Brahmsischen Vierten nimmt sich vierhändig so selbstverständlich aus, daß mich das Gefühl nicht verläßt, es sei aus dem Bereich des einfarbigen tragisch-intimen Duetts nachträglich erst in die instrumentale Vielfalt erhoben worden. Dabei ist alles Vierhändigspielen unzuverlässig und fehlbar; das momentane Erklingen des Klaviertons erlaubt nicht den rhythmischen Ausgleich, den die schwingenden Geigensaiten möglich machen, und zwei rhythmisch höchst geschulten Solisten am Klavier wird es schwerer fallen, präzis zu musizieren als einem durchschnittlichen Orchester. Das Zuhören beim Vierhändigspielen vollends ist kaum je eine Freude. Wenn es trotzdem hundert Jahre lang seine große Rolle behauptete, so darum, weil es allein die Musiziertradition in Wohnräumen behütete, die mittlerweile auch die Kammermusik ans Podium verloren. Im Zeitalter der strikten Arbeitsteilung verteidigten die Bürger ihre letzte Musik in der Festung des Klaviers, die sie dicht besetzt hielten; rücksichtslos, gleichgültig, wie es den anderen, Entfremdeten, in den Ohren klang. Noch die Fehler, die sie unvermeidlich machten, bewährten einen tätigen Zusammenhang mit den Werken, den die längst nicht mehr besaßen, welche berauscht vollkommenen Konzertwiedergaben zuhörten. Dafür mußten freilich die Vierhändigspieler den Preis bezahlen, veraltet-häuslich und dilettantisch-ungeschult in Aktion zu treten. Aber ihr Dilettantismus ist nichts als Nachhall und Verfallsprodukt der wahren Musiziertradition. Es bleibt die Frage, wem der letzte Künstler sinnvoll spielt, wenn der letzte Dilettant gestorben ist, der vom Traum lebt, selber Künstler zu sein. Keine singende Gemeinschaft wird ihn ersetzen.
Es kann füglich nicht wundernehmen, daß das Vierhändigspielen mittlerweile verstummte. So wenig man mehr Romane von entführten Klavierschülerinnen und entführenden Klavierlehrern auf Konservatorien erfährt, so wenig werden angesichts der Grammophon- und Radioautos mehr die vierhändigen Klavier-Equipagen traben oder galoppieren, mit den rhythmisch nickenden Köpfen der braven Pferde, die ihren erlauchten Mozart und ihren würdigen Brahms gefährdet zwar, doch stolz zum Ziel bringen. Das Vierhändigspielen ist zu einer Geste der Erinnerung geworden, und nur wenige leben, gewiß unter den Musikern, die die altmodische Kunst ausüben. Aber es wäre zu denken, daß manche Werke, die in ihrer orchestralen Größe mit gewaltigen Anstrengungen vergebens laut werden, sich nur der schüchternen Geste der Erinnerung offenbaren, die mit ihnen das Geheimnis teilt: als menschlicher Mensch Anteil zu haben am Leben der Gesellschaft. Wenn Einsame, die auf keine Zuhörer zu hoffen haben und keine zu fürchten brauchen, es gelegentlich mit dem Vierhändigspielen versuchten, so müßte es nicht ihr Schaden sein. Am Ende findet sich auch ein Kind, das ihnen umblättert.