Alban Bergs Kammerkonzert
Das Kammerkonzert für Klavier und Geige mit dreizehn Bläsern, das Sie zum Gedächtnis an den zwanzigjährigen Todestag des Komponisten vernehmen werden, ist, wie man so sagt, ein harter Brocken. Es scheint mir richtiger, Sie darauf vorzubereiten, als Ihnen eine Rede über das Werk zu halten, die Sie nur schwer auf das beziehen könnten, was Sie tatsächlich hören werden. Vielmehr halte ich es für meine erste Aufgabe, Sie zu ermutigen, dem Stück angespannte und konzentrierte Aufmerksamkeit zu widmen. Tun Sie das nicht, wird es an Ihnen vorüberrauschen und Sie vielleicht ratlos lassen; tun Sie es aber, geben Sie dem Stück etwas von der Anstrengung Ihres eigenen Gehörs, so wird es Ihnen das Gegebene vielfach zurückschenken.
Ein Hinweis solcher Art, mag er Sie auch im ersten Augenblick erschrecken, ist gerade bei Berg nicht überflüssig: Er gilt ja unter den wirklich bedeutenden und verantwortlichen Komponisten der neuen Musik für verhältnismäßig leicht verständlich. Das kommt teils daher, daß er als Opernkomponist über eine gewisse Faßlichkeit des Ausdrucks verfügt, die Brücken zum Hörer schlägt, teils daher, daß in seiner Musiksprache Einschläge der herkömmlichen Tonalität sich finden, die vertraut anmuten; schließlich aber daher, daß seiner Musik ein Zug ganz abgeht, den viele andere moderne hat, der von Zerrissenheit des Klangbildes. Bergs Musik ist das Gegenteil von punktuell. Alles ist ineinander gearbeitet, dicht gewoben – ganz äußerlich schon ist Bergs Musik aus der der Schönbergschule diejenige, in der am wenigsten Pausen stehen, in der ein kontinuierlicher Strom von Musik fließt.
Trotzdem ist die Anschauung von der relativen Einfachheit Bergs nur bedingt richtig. Das hängt gerade mit ihrem dicht Gewobensein zusammen. Ist sie nicht zerrissen, so verweigert sie dafür vielfach dem Gehör die Stützen sinnfälliger Kontraste, an denen man sich orientieren kann. Die Gefahr des unvorbereiteten Hörens ist, wie in einem Dickicht sich zu verlieren. Wahrhaft in einem Dickicht. Denn Bergs Musik hat in ihrem Gewebecharakter eine überaus merkwürdige Eigenschaft; eine Art von Unersättlichkeit. Besteht die Schwierigkeit bei Webern, oder bei seinen jüngsten Nachfolgern, den Punktuellen, darin, die kargen Klänge miteinander sinnvoll zu verbinden, so ist die Schwierigkeit bei Berg die genau entgegengesetzte. Es ist, um einen Ausdruck zu verwenden, den er selbst einmal bei analoger Gelegenheit gebrauchte, soviel Musik da, es ist vor allem soviel an Stimmen übereinander gelegt, daß man nicht leicht durch den Reichtum dessen, was sich gleichzeitig abspielt, sich hindurchfindet.
Lassen Sie mich Ihnen hier vielleicht sofort einen Rat geben. Berg, wie die ganze Schönbergschule, war nicht umsonst ein Wiener: die Tradition, aus der diese Musik kommt, ist schließlich keine andere als die der Wiener Klassik. Deren Technik ist aber die der sogenannten durchbrochenen Arbeit, des Springens der Hauptstimme von einem Instrument zum anderen, wie Sie es etwa aus Beethovens Quartetten kennen. Es sind also nicht etwa alle die gleichzeitig ertönenden Stimmen, so selbständig sie auch geformt sein mögen, einander gleichberechtigt, sondern es gibt im Grunde immer, wie im Wiener Klassizismus, Hauptstimme und Begleitung. Die Kunst des Hörens besteht demnach vorab darin, zunächst einmal die Hauptstimme zu verfolgen, sozusagen den roten Faden. Wenn Sie sich darauf konzentrieren, wird Ihnen im groben der Zusammenhang des Ganzen klar, und das ist wichtiger, als daß Sie jede einzelne Begleitstimme sogleich als eine selbständige Melodie neben der Hauptstimme mitbekommen.
Dabei hilft Ihnen der Komponist: durchweg sind die Hauptstimmen stärker oder wenigstens deutlicher gesetzt als die Begleitstimmen, so daß Sie am besten immer auf das achten, was von den Tonereignissen das vordringlichste ist, und versuchen, diese sinnfälligsten Ereignisse im Nacheinander zu verbinden. Ich brauche kaum hinzuzufügen, daß gleichwohl die Nebenereignisse kein bloßer Schmuck sind, sondern in der Komposition ihre genaue Funktion erfüllen. Aber man muß erst den Umriß wahrnehmen, ehe man auf diese Funktion sich richtet, und oft teilt sie sich ganz unwillkürlich wie der Hintergrund zur Figur mit, wofern man nur auf die Hauptsache achtet.
Gleich zu Beginn des Konzerts also findet sich ein Motiv in der tiefen Lage des Englisch Horns, zu dem dann immer eine weitere Note hinzutritt. Nachdem diese Melodie rasch ihren Höhepunkt erreicht hat, wird sie von der Trompete fortgesetzt und darauf vom Horn; die zunächst darüber und dann darunter liegenden Akkorde sind bloße Begleitung. Verfolgen Sie also erst einmal diese Hauptstimme und suchen Sie vor allem den Anschluß zwischen dem abschließenden d des Englisch Horns und demselben d in der Trompete zu erwischen, das die Trompete aufnimmt und dann das Horn. Dann hören Sie die Begleitakkorde hinzu und schließlich noch zwei selbständige Nebenstimmen, und Sie haben das Ganze:
Beispiel: Takt 1-4 und die ersten drei Achtel von Takt 5, und zwar erst nur die Hauptstimme, dann das Ganze.
Das Kammerkonzert nun gehört, neben dem dritten der Orchesterstücke aus op. 6, zu dem Reichsten und Komplexesten von Berg. Sie werden nach dem Grund fragen. Berg hat selbst einen Beweis gegeben. Das Werk ist seinem Lehrer und Freund Arnold Schönberg zum fünfzigsten Geburtstag gewidmet worden, und er hat es mit einem erläuternden Begleitbrief versehen. Darin sagt er, ein Konzert sei »gerade die Kunstform, in der nicht nur die Solisten ihre Virtuosität und Brillanz zu zeigen Gelegenheit haben, sondern auch einmal der Autor«. Er wollte sich also artistisch austoben, nach Herzenslust so kompliziert sein, wie seine Natur es war, während ja bekanntlich die ästhetische Jahrmarktsweisheit vom großen Kunstwerk abgeklärte Einfachheit verlangt, damit es nur ja dem Publikum nicht zuviel zumute. Die Spielform des Konzerts aber dispensiert davon: auch der Komponist darf spielen. Das Problem jedoch, das dabei sich stellte, war kein anderes, als jene Unersättlichkeit und Freude an der Kombinatorik doch so zu disziplinieren, daß ein sinnvolles, organisiertes Ganzes herauskam und kein Chaos.
In diesem Zusammenhang ist es vielleicht angezeigt. Sie daran zu erinnern, daß das Kammerkonzert ungefähr gleichzeitig mit den ersten Zwölftonkompositionen Schönbergs entstand. Ohne selbst schon zwölftönig zu sein, benutzt es doch gelegentlich Elemente dieser Technik. Vor allem aber: seine eigene Gestaltungstendenz ist der der Zwölftontechnik von innen her verwandt. Denn es geht ja, wie gesagt, darum, eine unbeschreibliche Fülle von musikalischen Ereignissen doch zugleich so streng zu formulieren, daß sie nicht zerfließen, und genau dazu ist auch die Zwölftontechnik da. Berg strebt eine ganz außerordentliche kompositorische Ökonomie an: alles ist aus allem entwickelt, alles untereinander verwandt, und die Komplikationen rühren zum Teil daher, daß das Bemühen, konstruktiv das Verschiedenste zusammen zu bringen, zuweilen den Komponisten dazu nötigt, ganze Komplexe übereinander zu stülpen, das Nacheinander zu integrieren, indem er es in ein Miteinander verwandelt. Das gilt besonders für den letzten Satz, der nicht buchstäblich, dem Wortlaut der Noten nach, aber doch der Idee nach die beiden ersten Sätze simultan kombiniert. Ich möchte Ihnen jedoch raten, auf solche konzertanten Kunststücke des Komponisten nicht allzu viel Aufmerksamkeit zu verwenden, sondern lieber zu versuchen, dem lebendigen Verlauf der Musik zu folgen; das Allerwichtigste über ihre Konstruktion werde ich Ihnen noch sagen. Vorher jedoch möchte ich lieber auf ein paar spezifische Schwierigkeiten eingehen und Ihnen helfen, so gut ich es vermag, sie zu überwinden.
Das Wichtigste also ist, sich überhaupt zurechtzufinden. Der erste Satz ist ein Thema mit Variationen. Aber schon das Thema weicht von der Vorstellung ab, welche die meisten von Ihnen heranbringen werden. Unter einem Variationsthema stellen Sie sich ein kurzes, übersichtliches Gebilde, sechzehn- oder gar nur achttaktig vor. Das Bergsche Variationenthema jedoch, das mit jenem Motiv des Englisch Horns einsetzt, ist viel weiter ausgesponnen, dreißig Takte lang. Es ist kein bloßes Rohmaterial kommender Entwicklungen, sondern in sich bereits fließend entwickelt, auf einen Höhepunkt hin, dann abklingend zu einem sehr schönen, für Berg charakteristischen Nachsatz. Es lautet:
Beispiel: Takt 25-28 vorletztes Viertel.
Das Thema verzichtet auf die Stützen, welche die gewohnten Variationsthemen gewähren, es wird aber verdeutlicht von der ersten Variation. Sie ist dem Klavier allein überlassen und variiert das Thema noch nicht eigentlich, sondern übersetzt es ins virtuos Klaviermäßige. Übrigens ist diese erste Variation die einzige Stelle des Konzerts, an der das Klavier als konzertierendes Instrument sich ganz ausleben darf. Versuchen Sie, so gut es geht, diese Variation als das eigentliche Thema sich einzuprägen.
Beispiel: die ganze Variation spielen.
Die drei nächsten Variationen, welche das Thema durchführen, sind jeweils scharf gegeneinander charakterisiert. Die zweite basiert auf einem Walzerrhythmus:
Beispiel: Takt 61 und 62 spielen
und bewahrt sich durchaus den Ländlercharakter. Die dritte Variation ist kräftig bewegt und vielfach akkordisch. Sie erkennen sie an ihrem markierten Anfang:
Beispiel: Klavierstimme allein von Takt 121-125.
Die vierte Variation ist sehr rasch, deutlich scherzoartig, im Sechsachteltakt. Die fünfte und letzte Variation, mit einem Triller beginnend:
Beispiel: Takt 181 und 182
greift wieder offener auf das Thema zurück, bereichert es aber durch kanonische Bildungen. Eine große Steigerung am Schluß führt ohne Pause in das Adagio, in dem nun zum ersten Mal die Geige einsetzt, von gedämpften Blechbläsern begleitet. Das Klavier verstummt nun.
Die Schwierigkeit dieses Adagios besteht in dem großen Reichtum an Themen, die so eng aneinander gebunden sind, daß man darüber in Verwirrung geraten kann. Ich fürchte nicht aus der Schule zu plaudern, wenn ich Sie hier noch auf einen besonderen Grund der Schwierigkeit aufmerksam mache. Das Doppelkonzert wird von dreizehn Solobläsern begleitet; Streicher fehlen also darin, damit der Gegensatz des Violin- und Klavierklangs von dem begleitenden Körper recht drastisch gerät. Aber ein solcher Bläserchor ist, selbst bei größter Geschmeidigkeit der Behandlung und liebevollster Darstellung, doch viel spröder und weniger beweglich als ein Streichkörper. Die Bergsche Technik, Klänge dadurch zu verschmelzen, daß man den einen bis zum pianissimo abschwächt und unmerklich im pianissimo durch eine andere Farbe ablöst, wird dadurch erschwert, daß nicht alle Bläser über dasselbe pianissimo oder auch nur piano verfügen und sich überhaupt nicht so kontinuierlich aneinander binden lassen wie ein volles Orchester. Wird etwa der tiefste Ton eines begleitenden Akkords von der Posaune gebracht, so hat dies Instrument soviel Eigengewicht, daß es fast automatisch wie eine Hauptstimme wirkt und die Aufmerksamkeit von dem eigentlich melodieführenden, etwa einer Klarinette in schwächerer Lage, ablenkt. Und von dergleichen Problemen ist das Kammerkonzert übervoll. Sicherlich wäre es auch im Sinne Bergs gewesen, Sie auf solche Dinge hinzuweisen; wenn man des Grundes von Hörschwierigkeiten sich bewußt ist, so ist das der erste Schritt ihnen gewachsen zu sein, wie es denn überhaupt in der Musik wie in anderen Dingen gar nichts ausmacht, wenn man etwas einmal nicht versteht, sondern nur, wenn man nicht merkt, daß man etwas nicht versteht.
Um auf das Adagio zurückzukommen: das erste Thema, dreimal in sich verschoben, ist lang ausgesponnen und akkordisch begleitet; an einer Stelle imitieren zwei Klarinetten und eine Baßklarinette das Tremolo von Streichern, so wie später vollgesetzte Holzbläserakkorde den Orgelklang nachahmen. Dies Thema gleitet unmerklich in das zweite, das vor allem durch seine Setzweise vom ersten sich abhebt: ganz dünne, selbständige Stimmen, in weiter Lage voneinander getrennt; übrigens verwendet Berg hier, wo er die Intervalle des Themas verjüngt, in einem Takt Vierteltöne. Das dritte Thema, das für den späteren Verlauf des Konzerts entscheidend wichtig ist, wird von der Klarinette vorgetragen. Es gehört zu den schönsten lyrischen Einfällen Bergs, und Sie sollten es festhalten:
Beispiel: Takt 283-286, schließen mit der Abschlußnote der Klarinette.
Dies Thema wird nun breit, relativ selbständig ausgesponnen.
Ich will Ihnen hier wenigstens an einer Stelle die Bergsche Kombinatorik zeigen. Einmal nämlich erscheint dasselbe Thema gleichzeitig in drei verschiedenen Notenwerten: in Trompete und Posaune in Vierteln:
Beispiel: auf dem Klavier die Hauptstimme Takt 303-305 spielen.
In Hörnern und Klarinetten in Achteln:
Beispiel: die Mittelstimmen in Dreiklängen Takt 304-305 auf dem Klavier spielen.
In Sechzehnteln in Baßklarinette und Fagott:
Beispiel: Unterstimmen Takt 304-305.
Dazu spielt die Geige einen für den ganzen Satz ebenso wie für das Finale entscheidenden Hauptrhythmus:
Beispiel: rhythmische Hauptstimme Takt 304 und 305.
Das Ganze klingt zusammen so:
Beispiel: vom Band spielen von Takt 303-306, erstes Viertel.
Natürlich kann von keinem Nichtmusiker erwartet werden, daß er wirklich gleichzeitig all das wahrnimmt; was aber wahrgenommen werden kann, und soll, ist die Dichte der thematischen Beziehungen, die durch solche Künste hergestellt wird.
Nachdem diese lange Entwicklung abgeklungen ist, kommt es noch zu einem vierten, schleppenden Thema und zu einer andeutenden Wiederholung des ersten. Bergs Formgefühl sagte ihm aber, daß an diese ungemein themen- und entwicklungsreiche Exposition sich nicht eine Durchführung im üblichen Sinn anschließen ließ; dazu ist sie selbst schon zu durchführungsähnlich. Andererseits wäre eine einfache Wiederholung eines so vielgliedrigen Gebildes als allzu mechanisch außer Verhältnis zu dessen eigener Differenziertheit. Daher ist Berg darauf verfallen, dies ganze Adagio in sich rückläufig zu gestalten, derart also, daß seine zweite Hälfte gewissermaßen krebsgängig – so wie später in Hindemiths Opernsketch »Hin und Zurück« –, von einer Wendestelle an, sich zum Anfang hin bewegt. Sie sehen, daß ein Verfahren, welches das banale Vorurteil nur allzu geneigt ist, als bloß errechnet abzutun, seine sehr zwingenden künstlerischen Gründe hat. Es soll mechanische Wiederholung vermeiden und doch nicht dem breit entwickelten Expositionsteil eine weitere Entwicklung hinzufügen. Indem er sich in sich selbst umdreht, wird der riesige Satz in sich ganz streng geschlossen, und doch ist in der zweiten Hälfte seines Verlaufs gegenüber der ersten alles ganz anders. Die Wendestelle wird kenntlich daran, daß das Klavier, das fast unmerklich nur an dieser einen Stelle des langsamen Satzes in Aktion tritt, zwölfmal das tiefe cis anschlägt: hören Sie die Wendestelle:
Beispiel: Takt 358 letztes Viertel bis 363 erstes Viertel.
Daß sich wirklich der ganze Satz krebsgängig umwendet, entnehmen Sie am besten an dem Bläserausbruch, so wie er vor dieser Stelle steht und dann wiederkommt:
Beispiel: Takt 358 erste Hälfte mit Auftakt und dann mit Auftakt Takt 363 zweite Hälfte und das erste Viertel von 364.
Im übrigen dürfen Sie sich auch diese krebsgängige Gestaltung des langsamen Satzes nicht mechanisch vorstellen: der Idee nach ist zwar das Verfahren dem der Zwölftontechnik verwandt, da es sich aber um sehr breite Formflächen handelt, geschieht die krebsförmige Wiederholung der ersten Satzhälfte, nach Bergs eigenen Worten, »teils in freier Gestaltung des rückläufigen Themenmaterials, teilweise aber im genauen Spiegelbild«. Das letztere ist bei dem schönen Thema der Fall, das Sie hörten. Gerade um seiner Eindringlichkeit willen darf es nicht wörtlich wiederkommen und erscheint in seiner Spiegelgestalt fast bis zur Unkenntlichkeit verändert.
Beispiel: Takt 435 vom b des Horns bis 438.
Sie werden nach all dem mir vielleicht glauben, daß die Kombination der beiden ersten Sätze im letzten, dem Rondo ritmico, ebenfalls keine rechnerische, äußerliche Veranstaltung ist, sondern ihren guten Sinn hat. Insgesamt sind ja die kunstvollen architektonischen Maßnahmen Bergs überhaupt nichts anderes als die heroische Anstrengung, der Gefahr des Amorphen, des musikalischen Dschungels Herr zu werden, die der Bergschen Natur ursprünglich nahe lag. In diesem Rondo nun bewährt sich die wuchernde Bergsche Phantasie genau daran, wie er aus den vorgegebenen Elementen der beiden ersten Sätze immer wieder Neues, völlig Freies bildet: es ist die Phantasie des Variierens, die hier triumphiert. Ich will Ihnen auch dafür wenigstens ein Beispiel geben. Dem eigentlichen Rondo geht voran eine große, äußerst stürmische, dabei wiederum in sich genau gegliederte Kadenz der beiden Soloinstrumente, während nun das Orchester schweigt und erst mit dem Rondoeinsatz hinzutritt, so daß dann erst die beiden Solisten mit dem Orchester sich vereinigt finden. Die Kombination des ersten und zweiten Satzes beginnt aber schon in dieser Kadenz. Für sie hat Berg sich verschiedene Möglichkeiten offen gehalten: angefangen von der, die Hauptthemen der jeweils korrespondierenden Teile miteinander zu kontrapunktieren, über ein sukzessives Verfahren, das einzelne tongetreu übernommene Phrasen unmittelbar nacheinander stellt, bis zur gelegentlichen Addition ganzer Partien. Der Anfang der Kadenz ist nach dem zweiten Verfahren gestaltet. Der Ausbruch des Klaviers, mit dem er beginnt, ist nichts anderes als die Vereinigung der vier ersten Töne des Hauptthemas des ersten Satzes zu Akkorden:
Beispiel: erst auf dem Klavier nacheinander die Töne eis, fis, gis, cis spielen wie im zweiten Takt des ersten Themas, und dann Takt 481 im Klavier.
Beantwortet wird dieser akkordische Ausbruch von einem kontrastierenden Motiv des Klaviers, erst in der Höhe, und dann im Baß fortgesetzt:
Beispiel: spielen die Hauptstimme des Klaviers Takt 482 erst in der rechten Hand, dann die Fortsetzung der linken bis zum abschließenden b in Takt 483.
Die Töne aber, aus denen diese einander ergänzenden Motive bestehen, sind keine anderen als die der Violinmelodie, mit der das Adagio anfängt:
Beispiel: auf dem Klavier spielen die Violinstimme von Takt 241 bis zum abschließenden b von Takt 245.
So sind die Hauptbestandteile der beiden ersten Sätze in die engste Beziehung gerückt, ohne daß irgendeine mechanische Wiederholung oder Verbindung Platz griffe.
Die Geige spielt dazu einen Rhythmus, der schon im zweiten Satz auftritt und nun immer größere Bedeutung gewinnt:
Beispiel: auf dem Klavier spielen die rhythmische Hauptstimme Takt 299 Schluß bis zur ersten Hälfte Takt 300 und dann die Violinstimme Takt 481-482.
Mit diesem Rhythmus aber berühre ich etwas für die gesamte Formgestaltung des Rondos Entscheidendes. Bergs wägendem Kompositionssinn konnte nicht entgehen, daß durch die Umformung der Elemente der ersten Sätze diese von ihrem Ursprung sich so weit entfernten, daß sie als solche schwer wiederzuerkennen sind und daß daher ihre Verbindung allein nicht ausreicht, den letzten Satz zusammenzuhalten, und gar ihn in ein Neues, Selbständiges und Bestimmtes zu verwandeln. Er hat daher als Mittel der Vereinheitlichung des unerhört reichhaltigen thematischen Materials eben jenen Rhythmus benutzt. Er ist es, der nun eigentlich die Rolle eines Rondothemas übernimmt und immer wiederkehrt. Berg hat damit, wie übrigens schon in einer Szene des Wozzeck und später einer der Lulu, ein Prinzip vorweggenommen, das gerade bei den jüngsten Komponisten nach dem Krieg eine große Rolle spielt: den Rhythmus ebenso thematisch auszunutzen wie die Folge der Töne. Sie mögen daran erkennen, wie modern Bergs Verfahren gewesen ist, auch wenn er gar nicht rigoros alles verbannte, was an die ältere musikalische Sprache gemahnt.
Ich möchte nicht schließen, ohne Sie auf zwei für Berg besonders charakteristische Stellen noch hingewiesen zu haben. Der Einsatz der stürmischen Kadenz nach dem aufs zarteste verklingenden Adagio ist einer der insgesamt nur zwei scharf kontrastierenden Effekte des ganzen Stücks. Aber es ist so, als hätte Bergs unendliche Sorge um sichernde Vermittlungen diesen Kontrast kaum ertragen können und gesucht, selbst ihn noch nach jenem Prinzip zu gestalten, das Richard Wagner Kunst des Übergangs nannte. Er stand also der paradoxen Aufgabe gegenüber, gleichzeitig äußerstes pianissimo und äußerstes fortissimo schroff aufeinander folgen und doch diese Stärkegrade ineinander übergehen zu lassen. Das ist nun etwas wie die Quadratur des Zirkels, aber Berg hat spielend und ingeniös das Unmögliche möglich gemacht. Während nämlich am Ende des Adagios das Bläserensemble und die Geige unmerklich verklingen, setzt ebenso unmerklich das Klavier bereits vor diesem Ende ein und steigert sich zum mezzoforte, so daß der große Ausbruch des Klaviers in der Kontinuität dieser Steigerung verbleibt. Aber die Steigerung vollzieht sich gleichsam hinter den Kulissen; das Klavier, das ja im zweiten Satz kein Soloinstrument ist, tritt noch kaum in Erscheinung, und selbst, wo es sich, in geräuschähnlichen Noten der tiefsten Lage, steigert, bleibt die Aufmerksamkeit auf die verklingenden melodischen Hauptereignisse der Piccoloflöte und der Geige konzentriert. Auf diese Weise wird tatsächlich sowohl ein vollständiges Verklingen mit anschließendem Kontrast bewirkt wie umgekehrt der dynamische Kontrast, gewissermaßen für die unbewußte Auffassung, schon vorbereitet. Hören Sie dies Kunststück selbst an:
Beispiel: vom Band spielen von Takt 476 bis zum Ausbruch Takt 481.
Das letzte, worauf ich Sie aufmerksam machen möchte, ist das Ende des Konzerts, aber aus gar keinem anderen Grund, als daß Sie die außerordentliche Schönheit dieses in seiner Art einzigartigen Schlusses bemerken. Sie besteht darin, daß das Klavier mit größter Kraft, von der tiefsten bis zur höchsten Lage, eine Tonfolge setzt, die den Charakter des Definitiven hat und gewissermaßen eine Entscheidung herbeiführt, einen Schlußpunkt setzt. Während dieser Schlußkomplex durchhallt, bringen Geige und Bläser nochmals eine Reihe von Motiven, mit immer längeren Pausen dazwischen, aber immer verkürzter und fragmentarischer, so daß das motivische Leben sich ins Nichts auflöst und verklingt, während der mächtige Schlußakkord immer vernehmbar ist. Selbstverständlich kann man die ganze Kraft dieser Stelle nur in dem Zusammenhang erfahren, in dem sie ihre Funktion erfüllt: vielleicht hören Sie sie sich jedoch jetzt schon an, damit sie Ihnen dann bei der Aufführung des Werkes nicht entgeht:
Beispiel: spielen von dem Klaviereinsatz auf das zweite Viertel von Takt 780 bis 785.
Es ist mir bewußt, daß, wenn nun das Werk gespielt wird, Sie kaum all das gegenwärtig halten können, worauf ich Sie aufmerksam gemacht habe. Vielleicht aber ist es mir gelungen. Sie wenigstens auf die Ebene zu geleiten, auf der das Kammerkonzert sich zuträgt, und Ihnen Hinweise zu geben, worauf Sie am besten Ihre Aufmerksamkeit richten. Versuchen Sie nun, möglichst konzentriert der Sache selber sich zu überlassen.