Zum Rundfunkkonzert vom 11. Juni 1940
Die Klaviersonate op. 1 von Alban Berg ist noch während seiner Lehrzeit bei Arnold Schönberg entstanden. Sie ist ein Sonatensatz, ein melancholisch getöntes Stück von einer gewissen dunklen Weichheit. Die kompositionstechnischen Mittel sind vorwiegend noch die traditionellen, insbesondere der nach-Wagnerschen Chromatik, und die neuen Elemente, insbesondere die Quartenakkorde, sind vorsichtig und zögernd in das Gefüge eingebaut. Trotzdem zeigt das Stück seiner inneren Struktur nach deutlich Züge des reifen Berg. Das für Berg charakteristische Prinzip läßt sich am besten bezeichnen mit Richard Wagners Satz, Musik sei die Kunst des Überganges. In der Tat ist in dieser Sonate alles Übergang. Die Themen stehen nicht für sich selbst da, sondern sind aus kleinsten Einheiten gebildet und werden sogleich in kleinste Einheiten aufgelöst. Kontraste sind vermieden. Es wird angestrebt, eine große Mannigfaltigkeit musikalischer Charaktere bruchlos, in vollkommener Kontinuität auseinander zu entwickeln. Von den Themen bleiben nur Teile, dann Motive, schließlich nur einzelne Töne als Reste übrig. Diese Reste sind dann das Verknüpfungsmittel, das jeden Teil mit dem nächsten in Beziehung setzt, der sich dann gleichsam vom einzelnen Ton aus wieder zum Thema entfaltet. Das seltsam Gleitende, resigniert Nachgebende im Ausdruck des Stückes wird durch diese Technik erzielt. Nichts ist statisch, alles ist Durchführung. Dadurch verliert der Durchführungsteil der traditionellen Sonatenform an Bedeutung; der eigentliche Durchführungsteil der Sonate ist nicht wie üblich besonders kompliziert und reich, sondern stellt eher eine gewisse Vereinfachung dar und konzentriert sich auf eine große Steigerung. Sie können daran sehen, wie unsere traditionellen musikalischen Formen durch die inhärenten Tendenzen des modernen Komponierens sich abwandeln.
Sie hören die Klaviersonate op. 1 von Alban Berg, gespielt von Trude Rittmann.
Die Lieder von Gustav Mahler, die Sie jetzt hören werden, sind an der Oberfläche so einfach, daß sie keiner Erklärung zu bedürfen scheinen, es sei denn um ihrer Einfachheit willen. Sie klingen wie Volkslieder. Aber es sind keine Volkslieder, auch keine Imitationen von Volksliedern. Sie bedienen sich weit eher der einfachen musikalischen Sprache, um etwas von der Trauer darüber zum Ausdruck zu bringen, daß die Unmittelbarkeit der Gemeinschaft, von der das Volkslied zeugt, für uns verloren ist. Es sind gebrochene Volkslieder: daher die jähen Übergänge, die schneidende Chromatik, der grelle Wechsel von Dur und Moll. Daher auch der seltsam träumerische Charakter, wie Sie ihn zumal in den Stücken »Wo die schönen Trompeten blasen« und »Ich ging mit Lust durch einen grünen Wald« finden: wie wenn Bruchstücke einer vergangenen, kaum mehr ganz verstandenen musikalischen Volkssprache uns im Traum ereilten. Es ist nicht zufällig, daß die Gedichte, die Mahler in diese musikalische Sprache übersetzt hat, fast stets solche sind, in denen die Trauer der Unfreiheit zum Ausdruck kommt. Die Mahlersche Trauer hält den Opfern die Treue.
Sie hören vier Lieder von Gustav Mahler, gesungen von Lore Meyer, Klavier: Eduard Steuermann.
Sie werden jetzt zwei Sätze aus der Sonate für Oboe und Klavier von Stefan Wolpe hören. Der Komponist, der heute in New York lebt, ist ein Outsider im besten Sinne des Wortes. Es ist unmöglich, ihn zu subsumieren. Die bewegende Kraft seiner Musik ist die Rekonstruktion des espressivo. Wolpes Musik hat nichts mit dem herkömmlichen romantischen Ausdrucksideal zu tun und nicht einmal etwas mit dem musikalischen Expressionismus. Hier will nicht ein Ton oder ein Akkord einen Abgrund der Seele aufdecken. Aber die musikalische Sprache als ganze wird so leidenschaftlich gesprochen, daß sie den Eindruck des Extremen hervorbringt: etwa so wie orientalische, zumal arabische Musik, die gar nichts mit unserer Ausdruckstradition zu tun hat, durch ihre ganze Diktion von der glühendsten Leidenschaft zeugt. In der Tat ist Wolpe, der mehrere Jahre in Palästina gelebt hat, von orientalischer Musik angeregt worden, hat aber diese Anregungen auf ein höchst differenziertes musikalisches Material übertragen. Die Wahl des grellen und ekstatischen Oboenklangs hängt mit diesem Ausdruckswillen zusammen. Er kommt besonders klar zum Ausdruck in dem ersten der beiden Sätze, einem ganz kurzen, fast redenden Stück, das den Titel »Erbitterte Empörung« trägt. Der zweite Satz ist ein zweifach gesteigertes Adagio. – Nicht ohne Absicht haben wir Wolpe in ein Programm gestellt, das Lieder von Mahler bringt. Beide treiben die musikalische Sprache zum deklamatorischen Extrem, weil nur das Extrem noch eine Chance hat, überhaupt gefühlt zu werden.
Nun Herr Marx, Oboe, und Fräulein Rittmann, Klavier.