Philosophy and History. Essays presented to Ernst Cassirer. Ed. by Raymond Klibansky and H.J. Paton. London: Oxford University Press 1936.
Der Sammelband, Ernst Cassirer zum sechzigsten Geburtstag überreicht, gibt eine instruktive Übersicht gegenwärtiger geschichtsphilosophischer Tendenzen. Es wird eine Plattform der erstaunlichsten Breite erstellt; Autoren nicht bloß disparater historischer Lehrmeinungen, sondern auch real widersprechender politischer Haltung sind aufgenommen, als seien ihre Differenzen bloß solche der akademischen Diskussion. Ein Beitrag von Groethuysen steht vor einem des italienischen Staatsphilosophen Gentile; der Neoscholastiker Gilson findet Platz so gut wie die logische Positivistin Susan Stebbing; Essays, die gegen die Verdinglichung der Gegenstandsbereiche Natur und Geschichte angehen, kontrastieren zu einer ausführlichen Arbeit von Ortega y Gasset, in der eben diese Differenz zu ontologischem Range erhoben ist. Das Millennium der Gedankenfreiheit scheint angebrochen. Gemeinsam ist den Beiträgen einzig eine im weitesten Sinne – der Anthropologie und Phänomenologie einschließt – idealistische Gesinnung und ein gewisser apologetischer Grundzug: gegen einen ungenannten Feind. Gemeinsam ist vorab dieser Feind: dialektische Materialisten sind nicht vertreten, freilich auch Denker wie Croce nicht zu finden. Es stimmt dazu, wenn Ortega y Gasset mit der Widmung an den Erben der neukantischen Schule Hermann Cohens Sätze glaubt vereinen zu können wie diesen: »Hence the necessity in the present state of humanity to leave behind, as archaic fauna, the so-called ›intellectuals‹ and to set our course anew towards the man of reason, of revelation«. Der Satz ist aus dem Zusammenhang zitiert. Er spricht einiges von dem aus, was der Zusammenhang verschweigt.
Zum einzelnen soviel: J. Huizinga bemüht sich um »a definition of the concept of history«. Sie lautet: »History is the intellectual form in which a civilization renders account to itself of it's past«. – Der Aufsatz »The Historicity of things« von S. Alexander kommt aus der Hegelschen Tradition des englischen Idealismus. Er stellt sich das Problem, wie Historizität die philosophische Wahrheit affiziere, und erreicht, echt hegelisch, einen Grenzpunkt des Idealismus mit der These, die Kategorien der Erkenntnis seien objektiv, und nicht subjektiv, auf Grund ihrer historischen Konstitution. Diese These wird in den Idealismus zurückgerufen durch ihre Deutung: die konstitutive Funktion, die gemeinhin der Subjektivität zugesprochen werde, komme der Zeit zu. Im weiteren wird versucht, die Kausalität durch Berufung auf unmittelbare Erfahrung vor den Angriffen der modernen Physik zu retten, überhaupt die tradierten Kategorien durch ihre ›historische‹ Fassung sicherzustellen. – Brunschvicg erörtert das Verhältnis von »History and Philosophy« und verdammt unterschiedslos alle großen geschichtsphilosophischen Entwürfe – ausdrücklich und nebeneinander Comte, Hegel, Spencer, Marx, Nietzsche und Sorel – als mythologisierende Vorläufer des totalitären Denkens. Die »mythologische« Konzeption von Geschichte nach dem Modell von Natur sei überholt durch die moderne Anschauung der Natur als historisch. Die Intention des Beitrags ist antisystematisch; sie geht auf Schließung des Bruchs von Geschichte und Naturwissenschaft. – Mit der von Croce und Gentile vertretenen »so-called identity of History and Philosophy«, also der Grundthese des italienischen Nachhegelianismus, befaßt sich kritisch G. Calogero. – Der Essay »Religion, Philosophy, and History« von C.C. Webb ist existentialistisch in einem Sinne, wie er in Deutschland etwa durch Buber vertreten ward, doch mit progressivem Unterton; der positive Eingriff von Philosophie und Geschichte in Religion wird zu deren Entmythologisierung gefordert. – Die Arbeit »Concerning Christian Philosophy. The distinctiveness of the philosophic order« von Etienne Gilson zählt fraglos zu den wichtigsten des Bandes. Mit außerordentlicher Bravour wird die These verfochten, es sei das Wesen der scholastischen Philosophie mit den modernen Wissenschaften voll vereinbar – vereinbarer als der Cartesianische Rationalismus. Die übliche Auffassung, der mittelalterliche Aristotelismus habe die Begriffe – die »Formen« – verdinglicht, wird auf den Kopf gestellt: »It was not St. Thomas who thingified concepts, but Descartes; and he could not avoid it once he began to raise our concepts to the status of Ideas.« Eine eindringliche Descartesanalyse datiert die idealistischen Antinomien auf diesen zurück. Die entscheidende Stelle sei wiedergegeben. »When others after« Descartes »take up the problem of ›communication of substances‹, they take it up on exactly those foundations laid by Descartes; consequently, they involve themselves in a series of costly hypotheses, each of which, however much it differs from the rest, comes back at last to joining by a bridge fragments of the real between which the Cartesian method had dug a ditch which could not be crossed ... The occasionalism of Malebranche, the pre-established harmony of Leibniz, the parallelism of Spinoza are so many metaphysical ›epicycles‹ to solve an ill-stated problem by rescuing, with the aid of complementary devices, the very principle which makes the problem insoluble. The great metaphysical systems of the seventeenth century are pure works of art, possibly the most adjusted systems of ideas ever produced, and precisely because, like mathematics, they deal with pure ideas, and so are entirely unhampered by the complexities of the real. What does hamper them is the difficulty of obtaining contact with reality. Having eliminated quality from extension, they are incapable of accounting for it when it reappears in thought. They set out in triumph from the idea, and in the end it is sensation they have failed to explain – that inferior act, suspect, even contemptible if you will, which yet reveals something which is not pure thought since it does not belong to the intelligible, and still is not extension since it already belongs to thought«. Das rührt in der Tat an die innerste Antinomik des Idealismus. Ebenso das Folgende: »After Hume, if Kant was to save a causality which could not be found in things, all that was left for him to do was to make thought impose causality upon things. In this way the Cartesian cycle was completed with the purity of a perfect curve and in accordance with the demands of its original principle: starting from mind, philosophy, after several fruitless attempts to get outside it, declared its definite intention to remain inside. This resignation must not, however, be regarded as a triumph: it recalls that of Descartes when, having given up the attempt to prolong the life of man, he declared himself content to teach him not to fear death«. Bei der späteren Durchführung der Kritik im Bereich der praktischen Philosophie gewinnt Gilsons restaurative Tendenz die Oberhand; die Scheidung von Organisch und Anorganisch ist unreflektiert übernommen, und gegen den Idealismus wird, wie in Schelers katholischer Periode, der ordo als Heilmittel aufgerufen. – Groethuysen legt das alte Gnoti seayton existentiell aus, mit dem dialektischen Motiv, daß die »Frage nach dem Menschen« von der »Frage nach mir« emanzipiert werden soll; wobei – wie für die Irrationalisten – die Reflexion sich als Selbstentfremdung des Menschen bestimmt, die durch Kunst und Religion korrigibel sei. »Anthropological Philosophy« wird erläutert als Interpretation des »Gesprächs des Menschen mit sich selbst« in Philosophie, Kunst und Wissenschaft. – Die Arbeit »The transcending of time in History« von Gentile exponiert einen gewalttätigen Idealismus. Seinen totalitären Zug dankt dieser Idealismus Hegel; seinen subjektiv-»dynamistischen« Fichte; beide sind einer hitzig-paradoxalen Rhetorik dienstbar gemacht, die sich möglicherweise an Pirandello schulte. Die Wirklichkeit sei »Geist als freie Tätigkeit« und damit Geschichte: der radikal-historische Charakter wird nicht bloß menschlichen Schöpfungen, sondern der Bedingung der Möglichkeit der Existenz von »Geist« selber zugeschrieben: Geschichte wird zum Hegelschen »Absoluten«, frei von Reflexionsbestimmungen. Dabei erhält sich, dem Idealismus zum Trotz, eine merkwürdig naiv-realistische Zeitmetaphysik. Die ideologische Brauchbarkeit der Theorie liegt darin, daß historisches Wissen sich nicht auf »Fakten«, sondern absolute Aktualitäten beziehen soll; daß die zeitliche Ordnung in ein Relationssystem zur Aktualität transformiert wird; mit anderen Worten, daß der aktuelle politische Zweck, in sophistischer Überspannung des idealistischen Motivs, über die objektive historische Wahrheit objektiv entscheiden soll. Nichts könnte die barbarische Inhumanität dieser Geistesphilosophie drastischer enthüllen als ihre Geste wider die Erinnerung, das rettende Motiv der Geschichtsschreibung: »a world remembered, like the world of dreams, is nothing; and remembering no better than to dream.« Das historische Führerprinzip aber lautet: »The historian, in short, knows well enough that the life and meaning of past facts is not to be discovered in charters or inscriptions, or in any actual relics of the past; their source is in his own personality.« Man möchte ihr nicht ausgeliefert sein. – Susan Stebbing analysiert in einem besonnenen sprachkritischen Traktat McTaggarts Behauptung von der »Unwirklichkeit der Zeit«. – Theodor Litt diskutiert anregend das Diltheysche und südwestdeutsche Problem des Verhältnisses von Allgemeinbegriff und individuellem Sein als eines der Sprache des Historikers, die Eigennamen und allgemeine Bedeutungen benutzt, und betont richtig, daß das ›Allgemeine‹ schon im Rickertschen und Diltheyschen Individuellen enthalten sei (nämlich, so wäre zu interpretieren: als dessen gesellschaftliche Bedingung). Das Allgemeine wird aber als vorgegeben ontologisiert und schließlich identitätsphilosophisch interpretiert. Fruchtbar ist ein Beitrag zur Urteilslehre. Im übrigen zeigt sich an der Littschen Arbeit, wie nahe sich heute Phänomenologie und Lebensphilosophie gekommen sind. – Wie Gentile vertritt der Aufsatz von Fritz Medicus »On Objectivity of Historical Knowledge« einen intransigenten Idealismus; jedoch mit politisch umgekehrtem Akzent und wirklicher Treue zum humanistischen Impuls: Garant historischer Objektivität ist ihm nicht die ›Persönlichkeit‹ des Historikers, sondern die »Idee der Humanität«. Gut kommt heraus die historische Bedingtheit der angeblich zeitlosen mathematischen Naturwissenschaften. – E. Bréhier sieht »The Formation of our History of Philosophy« gegliedert nach drei Stadien: dem pragmatisch-enzyklopädischen Bericht (wie bei Pierre Bayle); der ideengeschichtlichen Konstruktion (wie bei Comte und Hegel); endlich einem modernen Verfahren, das laut Bréhier auf Renouvier basiert und der Diltheyschen Geistesgeschichte nahekommen dürfte. – Ernst Hoffmann will den spezifisch philosophischen Gehalt von Augustin, insbesondere dessen Beziehung zu Platon herausarbeiten. Diese beruht nicht auf unmittelbarer Kenntnis sondern auf der stoischen Adaptation Platons. Die Auffassung vom Platonismus oder Neuplatonismus Augustins wird differenziert: der neuplatonische Gott sei bloßer ›Zuschauer‹; der augustinische tätige Liebe. Nach Hoffmanns Theorie ist der perennierende Bruch zwischen Platonismus und Aristotelismus, zwischen Augustinismus und thomistischer Scholastik gleichsinnig dem zwischen radikal antithetischem, ›thematischem‹ und prozessual vermittelndem, kontinuierlichem Denken. – In einem kurzen Artikel führt Lévy-Bruhl Gründe für die antihistorische Haltung des Cartesianismus auf: den niedrigen Stand der historischen Wissenschaft zu Descartes' Zeit; den Zusammenhang der Geschichtswissenschaft mit dem von Descartes bekämpften Autoritätsprinzip, nämlich der Funktion der Historiographie als Hilfswissenschaft zur Herstellung autoritärer Texte; endlich den Cartesischen Wahrheitsbegriff selber, der intuitio und demonstratio als einzige Rechtsquellen gelten läßt. – Aus dem engeren Kreis der Bibliothek Warburg, die die Publikation unterstützt hat, kommen zwei gelehrte Untersuchungen zur Allegorik. Fritz Saxl beschreibt den Wandel der politischen Funktion des Mottos von Pietro Aretino: Veritas filia temporis. In einem schönen Beitrag behandelt Erwin Panofsky Ursprung und Bedeutung der allegorischen Beschriftung Et in Arcadia ego, den Bedeutungswechsel der Idee des Arkadischen selber und endlich Poussin und Watteau als die entscheidenden Maler des Arkadischen. Die Vorstellung von Arkadien als der bukolischen Urheimat schöner Liebe geht auf die Vergilischen Eklogen zurück, in denen der Schauplatz des Schäferglücks vom nahen Sizilien in die Ferne der – in Wahrheit unwirtlichen – hellenischen Landschaft verlegt wird. Die allegorische Brechung des arkadischen Glücks durch das Bild des Todes, die die späteren Darstellungen beherrscht, ist selber bereits vergilisch. Die eigentliche Entdeckung Panofskys ist zunächst philologischer Art: Et in Arcadia ego kann grammatisch nicht, wie bei Schiller, »Auch ich war in Arkadien geboren« bedeuten, sondern einzig: »auch (= sogar) in Arkadien bin ich (scil. der Tod)«; damit ist der Spruch nicht dem Verstorbenen, sondern der Allegorie des Todes selber zugewiesen. Daran schließt sich die subtilste ikonographische Deutung an. Es ist geschichtsphilosophisch relevant, daß die falsche Lesung des Textes genau mit dem Verfall der Allegorese koinzidiert. Der Verfall der Allegorese wird zum Kanon der geschichtsphilosophischen Interpretation der arkadischen Maler des Poussinschen ›Platonismus‹ und der trügenden serenitas Watteaus. Dessen Auffassung enthält Analogien zu Mozart, die das genaueste Durchdenken verdienen. – Der Aufsatz von Edgar Wind richtet sich prinzipiell gegen die in Deutschland übliche Sonderung der historischen ›Geisteswissenschaften‹, indem er an konkreten Punkten, wie der Funktion der »Störung«, Übereinstimmungen der geistes- und naturwissenschaftlichen Methode dartut. Die Tendenz geht auf eine Art Ehrenrettung des Positivismus vor dem Forum der litterae humaniores. – Hendrik J. Pos skizziert, angeregt wohl durch Husserl, eine »vergleichende Bedeutungslehre« (»Comparative Semantics«), die freilich nur als historische möglich sei. Die »naiv-realistische« Auffassung vom onomatopoietischen Ursprung der Beziehung der Sprache auf ihr Objekt wird ebenso abgelehnt wie die »idealistische«, die die Gegenstände erst durch die Sprache entstehen läßt. Das Korrektiv für beide soll die vergleichende Sprachwissenschaft abgeben. Gut wird die naive Annahme kritisiert, durch identischen Objektbezug entspreche jedem Wort der einen Sprache eines der anderen. Die These jedoch, daß die Schwierigkeit der Übersetzung mit dem Grade der Abstraktheit steige, bei Wahrnehmungsgegenständen dagegen virtuell verschwinde, wird sich kaum halten lassen. Schon »nuage« ist nicht dasselbe wie »Wolke«. – Aus dem Nachlaß Gundolfs gibt es die Einleitung eines Buches über deutsche Historiographie. Diese wird der Literatur so gut wie der Wissenschaft zugerechnet. Im übrigen ist vom angeblich ewigen Kampf von Intuitionismus und Positivismus in der Geschichtsschreibung die Rede. – Der Aufsatz von Ortega y Gasset ist reaktionär gewandter Bergson; dessen Lebensbegriff ist aktivistisch versetzt. Es gibt viele geistreiche Formulierungen; in letzter Instanz dienen sie allesamt der Denunziation des Geistes. Zu ihrem Zweck wird der Kantisch-Hegelsche Unterschied von Verstand und Vernunft mobilisiert. Bemerkenswerterweise ist eine der Hauptkategorien der von Ortega am ›naturwissenschaftlichen‹ Geiste geübten Kritik die der Verdinglichung – deren Ursprung aber wird als »Glauben« der rationalistischen Menschheit seit der Renaissance hypostasiert und nicht in seinen realen Bedingungen analysiert. Klar gesehen ist die Einheit von Idealismus und Verdinglichung. Zur Gentileschen These steht die Ortegasche komplementär. Wie für jenen ist für Ortega das ontologische Konstituens des Menschen Geschichte als sein ›Leben‹; während aber bei Gentile das Vergangene nur durch ›Aktualität‹ lebt, ist bei Ortega die historische Substanz des Menschen – das einzige, was ihm, nach der Mode der Desillusionsmetaphysiken, übrig geblieben sein soll – bloß das Vergangene, und es gibt keinen Fortschritt. Es wäre leicht zu zeigen, daß die scheinbar kontradiktorischen Thesen aufs tiefste zusammenhängen. – Der Herausgeber des Bandes, Raymond Klibansky, faßt, ausgehend von der mittelalterlichen Philosophie, die historische Erkenntnis als die des Quale oder der Quiditas. Im weiteren gibt er den Umriß seiner Vorstellung von einer Kritik der historischen Vernunft. Deren Organon soll, ähnlich wie bei Gundolf, die Einbildungskraft sein; ihre Grundkategorie der an Bergsons durée orientierte qualitative Zeitbegriff. Die Haltung ist pointiert antisoziologisch.
Sämtliche Beiträge sind englisch publiziert; manche, wie der Gentilesche, in vorzüglicher Übersetzung; andere in recht problematischer. Es wäre immerhin zu fragen, ob nicht durch die Treue zur eigenen Sprache Publikationen mehr helfen könnten als durch Anpassung an fremden Sprachgeist; und ob durch solche Assimilierung nicht gerade wesentliche Impulse gelähmt werden, deren die emigrierte deutsche Theorie nicht entraten kann. Sei bloß an die Tatsache erinnert, daß die englische philosophische Sprache durchwegs darauf aus ist, Distanzen zu verkleinern, sich umgänglich zu machen; die deutsche vielmehr, Distanzen zu setzen und durch ihre Komplexion bereits die Konformität des Denkens anzugreifen. Man möchte wohl gern Beiträge wie den von Panofsky im Original gelesen haben.
1937