Über einige Arbeiten von Anton Webern
Nur denjenigen der Arbeiten von Webern, die Sie nun vernehmen werden, möchte ich jeweils einige Worte voranstellen, auf die ich nicht bereits im Zusammenhang seines Gesamtwerks eingegangen bin*. Dabei handelt es sich vorwiegend um Stücke, die nach üblichen Vorstellungen an der Peripherie seiner Produktion liegen; einen Satz aus seiner Jugend und einige seiner Bearbeitungen traditioneller Musik. Es scheint uns jedoch bei Webern recht legitim, das Bild zu erweitern, das allzu leicht verengt wird. Aus doppeltem Grunde. Einmal, wie ich bereits andeutete, weil man die kurzen und aufs äußerste konzentrierten Kompositionen des voll expliziten Webern nicht einfach so nebeneinander stellen kann wie die irgendeines anderen Komponisten, von dem man eine vollständige Vorstellung zu geben wünscht. Durch eine solche Häufung würden sie leicht zu Genrestücken verfälscht, und er als das gestempelt, was Banausen etwa mit dem Ausdruck Meister der Kurzform bezeichnen würden. Dann aber auch, weil nur der Blick auf solche Partituren von Webern, die außerhalb seines genauesten Bereichs liegen, gewisse Aspekte freigeben, welche der eigentliche Webern in sich verschließt, die man aber wahrnehmen muß, wenn man ihn selber wahrnehmen will.
Sie hören also zunächst das Klavierquintett in C-Dur – eigentlich ist es nur ein freilich sehr umfangreicher Sonatensatz, der noch keine opus-Zahl trägt, von Webern selbst wohl als eine Art Gesellenstück betrachtet wurde, und bis nach seinem Tod unveröffentlicht blieb. Er ist durchaus tonal, etwa im Material der ersten Schönbergischen Kammersymphonie gehalten, an die einzelne Themen, auch strukturelle Ideen mahnen. Das Stück erbringt den Beweis für einen Sachverhalt, den die späteren Werke stolz und streng voraussetzen, ohne je an ihn zu erinnern: daß die Gedrängtheit der reifen Werke wirklich der strömenden Fülle abgezwungen, daß sie Konzentrate sind; daß die Kürze Weberns keinen Mangel an Fähigkeit zur Organisation großer Zeitkomplexe bekundet, sondern ein verändertes Verhältnis zur zeitlichen Extension überhaupt. Weiter läßt sich an dem Satz wie in einem Reagenzglas etwas studieren, was für die Evolution der neuen Musik in der Wiener Schule insgesamt größte Bedeutung hat: die Verschmelzung Brahmsischer und Wagnerischer Elemente als Bedingung der veränderten Tonsprache. Man wird zunächst den Brahmsischen Ton des Satzes bemerken, sogleich aber auch, daß er eigentümlich abgelenkt ist. Der Brahmsische Reichtum an Nebenstufen bricht bereits aus der Diatonik aus, unablässig treten Terzverwandtschaften und chromatische Beziehungen dort ein, wo Brahms auf archaische, kirchentonale Funktionen zurückgreift; und das Ganze ist weit dissonanzenreicher als Brahms jemals. Dadurch empfängt der Satz jenen Doppelcharakter des konstruktiv Gefestigten und des glühend Expressiven, der ihm seine besondere Schönheit verleiht. Unter der Oberfläche enthält er schon sehr viel, was den späteren Webern vorwegnimmt. Der Anfang der Durchführung ist bereits zu jenem Am-Steg-Klang entsubstantialisiert, der dann das Klima der gesamten Webernschen Instrumentation definiert. Vor allem aber, Weberns asketischer Hang, sein Verzicht auf alles Überflüssige wird antezipiert im knappen, fast eckigen, unroutinierten Klaviersatz mit all seinen Oktaven. Nichts rührender, als wo das Neue, noch nicht Gewesene in Unbeholfenheit gegenüber dem konventionell Geforderten sich regt. Diese Unbeholfenheit freilich ist bloß eine der äußeren Präsentation; strukturell ist das Quintett bereits meisterlich. Wenn Sie es hören, ist es vielleicht am besten, sich aller stilgeschichtlichen Überlegungen zu entschlagen. Hüten Sie sich zumal vor der Allerweltsreaktion, die beim Jugendwerk eines der originellsten Komponisten gar zu gern sich einstellt – daß es noch traditionell sei. Denn nur in der Reibung mit einer Tradition, die es lebendig erfahren hat, nicht im Vakuum wird das Neue verbindlich. Die Schönheit des Quintetts aber steht ganz auf sich selbst und bezwingt unmittelbar. Edlere, schwungvollere Themen als die seinen wurden in der neuen Musik kaum wieder geschrieben.
Die erst ums Jahr 1930 wieder entdeckten Deutschen Tänze Schuberts vom Oktober 1824, neben der Originalausgabe für Klavier in Weberns Instrumentation 1931 publiziert, zogen ihn nicht allein deshalb an, weil er der wunderschönen Musik, die dem Österreicher besonders nahe war, zu bunterem Klang verhelfen mochte. Er wollte, nach seinen eigenen Worten, die Essenz des klassischen, eben also auch des Schubertischen Orchesters geben. Seine Absicht war, ebenso die gleichsam platonische Idee des klassischen, geschlossenen Orchesterklangs, mit doppelten Holzbläsern, zwei Hörnern und chorischen Streichern, nachzukonstruieren wie die latente Fülle des Komponierten durch die Farbe ins Licht zu heben. Besonders hinweisen möchte ich auf den unbeschreiblichen dritten Walzer, dessen alle Worte übersteigende lyrische Zartheit erst durch die motivische Aufteilung, durch die Gegenüberstellung und Mischung feinster Valeurs von Holzbläsern und Solostreichern ganz in die orchestrale Realisierung gefunden hat. Dann aber auch auf den weinseligen, volkssängerhaften fünften Ländler, mit der Sologeige. Seine Instrumentation zeigt Webern von einer mimetischen Seite, für die das Wort Humor viel zu grob ist und die doch etwas damit zu tun hat – es ist die Sphäre, in der Webern mit dem Wiener Alexander Girardi, darüber hinaus schon mit Karl Kraus sich berührt. Dies Moment hat Webern im Schubertischen Original überhaupt erst entdeckt. Es tritt sonst kaum in Weberns Werk offen hervor, findet aber als sublimierter Ausdruck in vielen seiner eigenen Stücke sich wieder – die Probe auf die Wahrheit jenes Wortes, mit dem er den ersten Satz des Saxophonquartetts einen Walzer nannte und ihn dann auf dem Klavier so darstellte, daß an der Verwandtschaft mit Schubert kein Zweifel blieb. Damit Sie das Produktive seines Instrumentierens nachvollziehen können, spielen wir Ihnen erst die Klavier- und dann die Orchesterfassung.
Beispiel: die Deutschen Tänze Schuberts vom Oktober 1824, erst auf dem Klavier, dann in Weberns Instrumentation.
Die Bearbeitung von Bachs berühmter sechsstimmiger Ricercata, aus der Zeit von Weberns Symphonie und in der Behandlung des Kammerorchesters mit chorischen Streichern dieser verwandt, ist, ohne daß sie es wollte, durch ihre bloße Existenz Kritik alles dessen, was es sonst an Bachinstrumentationen gibt. Einerseits wird nirgends, wie es die Praxis der älteren Bachbearbeitungen versuchte, der Orgelklang nachgeahmt und womöglich pathetisch überhöht. Vielmehr ist der Klang, bei aller Rundung, so sachlich und sparsam wie nur möglich. Andererseits aber unterscheidet sich die Webernsche Bearbeitung ebenso nachdrücklich von den vielen Unternehmungen aus unserer Zeit, die sich einbilden, das romantische Mißverständnis Bachs zu korrigieren, indem sie primitiv die Bachische Orgelpolyphonie irgendwelchen durchgehaltenen Instrumentalparts überantworten, gewissermaßen nur die Bachischen Stimmen in Orchesterpartitur ausschreiben. Weberns Instrumentation dagegen ist konstruktiv. Er intendierte, die feinsten motivisch-thematischen Ereignisse innerhalb der Komposition, einer der großartigsten aus Bachs Hand, durch Farbwerte in die Erscheinung zu setzen. Schon das Thema – es stammt bekanntlich von Friedrich II. von Preußen – wird gemäß seiner motivischen Zusammensetzung zwischen verschiedenen Instrumentalstimmen aufgeteilt. Dies Prinzip der Aufteilung ist weithin, in ständiger Variation, durch das ganze Stück hindurch befolgt. Wenn ich einmal formulierte, die wahre Interpretation sei die Röntgenphotographie des Werkes, dann bietet Weberns Instrumentation der Bachfuge, vor aller Aufführung, bereits eine solche Röntgenphotographie im Text der Partitur. Nicht nur modelliert der Klang alles, was in der Komposition sich zuträgt, sondern dem Prozeß der Differenzierung und Aufspaltung antwortet einer der Integration, der die kleinsten Elemente so bruchlos wieder miteinander vereint, daß ein Ganzes, prismatisch Gebrochenes, dabei doch ganz und gar Objektives resultiert. Die Bearbeitung scheint mir nicht nur ein Zeugnis für Weberns Instrumentationskunst und für sein Verhältnis zur großen Musik der Vergangenheit, sondern auch ein Muster dafür, wie man heute solchen mächtigen Spätwerken Bachs, deren Besetzung im Original nicht fixiert ist, gerecht werden könnte, ohne sie zu verfälschen, aber auch ohne sie historistisch einfrieren zu lassen.
Es werden nun die Stücke für Cello und Klavier op. 11 gespielt. Hier möchte ich Ihnen ein wenig beim Hören helfen. Die drei Stücke sind, nach Kürze und Aufgelöstheit, wohl das Äußerste in Weberns Produktion und bedürfen darum solcher Hilfe besonders. Andererseits ist es gerade diese Kürze, die Hilfe erlaubt: sie sind so übersichtlich, daß Sie sie gleichsam in einem Augenblick, wie Kierkegaard sagt: mit dem spekulativen Ohr, zusammenhören können. Das, worauf es dabei ankommt, ist eine Art von Umstellung. Sie müssen sich dessen bewußt sein, daß hier ein einzelner Klang soviel bedeutet wie sonst eine ausgesponnene Harmonienfolge; ein einzelner Ton soviel wie ein ganzes Thema; ein einzelner Rhythmus, und die Konsequenz aus ihm, soviel wie sonst eine ganze Verarbeitung. Kann man den Kompositionsstil des mittleren Webern mit Fug mikrologisch nennen, so erheischt das, umgekehrt, daß man durch eine Art von Mikroskop oder wenigstens Vergrößerungsglas hört; daß also musikalische Momente, die sonst als unbeträchtliche Bestandteile größerer Ganzheiten entgleiten, ohne daß das viel schadete, nun als selber substantiell und belastet festgehalten werden. Schlicht gesagt, es bedarf vervielfachter Aufmerksamkeit. Ich möchte Ihnen das an dem ersten Stück zeigen. Es ist als dreiteilig mit abschließender Coda zu verstehen. Dabei sollten Sie aber nicht an eine dreiteilige Liedform, sondern beinahe an einen zum äußersten reduzierten Sonatensatz denken. Denn der durch eine kleine Beschleunigung, ein Accelerando, bezeichnete Mittelteil b ist eine Art rudimentärer Durchführung des Teils a. Dieser Teil a gliedert sich in einen Vordersatz und einen Nachsatz. Der Vordersatz, stellvertretend für ein Thema, enthält nichts als einen einzelnen Ton des Cellos und hinzutretend einen einzelnen Akkord des Klaviers.
Der Nachsatz dafür bringt ein melodisches Motiv im Klavier, gewissermaßen die Fortsetzung jenes Cellotons, abermals über einem Akkord und abklingend in einem zweitönigen Motiv des Cellos, das als Halbschluß durch ein Ritardando charakterisiert wird.
Beispiel: Takt 2 und die erste Hälfte von Takt 3
Vordersatz und Nachsatz verhalten sich zueinander fast wie Frage und Antwort. Hören Sie nun den ganzen Teil a.
Beispiel: Takt 1 bis erste Hälfte Takt 3
Beachten Sie, daß das abschließende Cellomotiv synkopiert, mit einem punktierten Achtel einsetzt.
Beispiel: Takt 2 und erste Hälfte Takt 3
Dieser synkopierte Rhythmus, ein Ferment von Unruhe, löst den Teil b aus, die Quasi-Durchführung. Die Begleitung tritt sofort in den synkopierten Rhythmus ein, während die Oberstimme des Klaviers den Anfangston des Cellos widerspiegelt.
Beispiel: zweite Hälfte von Takt 3 bis erstes Sechzehntel von Takt 4
Dem Geist einer Durchführung entsprechend verjüngen sich die rhythmischen Werte zu einer Sechzehnteltriole des Cellos.
Beispiel: Cellofigur auf Taktteil zwei des Takts 4
Diese Gestalt wirkt nun vergrößernd weiter in der Fortsetzung des Klaviers, dem Höhepunkt des Ganzen, wobei nochmals der synkopierte Rhythmus der Durchführung, jetzt in einem Fortepizzicato des Cellos, markiert wird.
Beispiel: zweite Hälfte von Takt 4
Das folgende c des Cellos ist der erste Einsatz auf einem guten Taktteil in dem ganzen Stück. Er entspricht dem, was man in der traditionellen Sonatenform ein Auflösungsfeld nennen würde, will sagen, durch die betonte Eins wird der synkopierte Gegenrhythmus der Durchführung beschwichtigt. Hören Sie nun den ganzen Teil b, die Durchführung.
Beispiel: von dem fis des Klaviers in Takt 3 bis zum c des Cellos in Takt 5
Das Ritardando auf dem c leitet zu einer ungemein freien, als solche nur durch die strukturellen Analogien zu fassenden Reprise. Ihr Anfang kombiniert den vereinzelten Celloton von Takt 1 mit einer Variante des Klaviermotivs von Takt 2.
Beispiel: Takt 5 zweite Hälfte
Der nächste Takt würde dann dem Takt 2 selbst entsprechen. Aber das Formgefühl Weberns verlangt, daß die Bewegung des Durchführungsteils b nachwirkt. Es gibt daher jetzt Sechzehntelbewegungen und sogar nochmals Synkopierungen.
Beispiel: Takt 6
Der siebente Takt entspricht erweitert der abschließenden Cellophrase aus Takt 2 bis 3. Die Beziehung wird hergestellt nicht nur durch den synkopierten Einsatz des Klaviers sondern vor allem durch den Flageolettklang des Cellos, der außer an den beiden korrespondierenden Stellen in dem Stück sonst nicht vorkommt; die Farbe allein genügt, die Formbeziehung herzustellen. Hören Sie also die Phrase von Takt 2 bis 3 und dann den Takt 7.
Beispiel: Takt 2-3, danach Takt 7.
Was folgt, völlig verklingend, hat den Charakter des Nachher, der Coda.
Beispiel: Takt 8/9
Es ist nicht meine Absicht, die Stücke alle Ihnen auf diese Weise zu erläutern. Das könnte Sie vielleicht eher verwirren. Statt dessen hören Sie nun das ganze erste Stück und versuchen Sie, jetzt seinen Zusammenhang so wahrzunehmen, wie ich es angedeutet habe. Unmittelbar anschließend wird dann das zweite und dritte Stück gespielt; vielleicht können Sie die Art des Hörens, zu der ich Sie beim ersten ermutigt habe, darauf einigermaßen übertragen.
Beispiel: op. 11
1958
Fußnoten
* Adorno hielt im März 1959 im Norddeutschen Rundfunk zwei Vorträge unter dem Titel »Webern der Komponist«; während der erste Vortrag, überarbeitet, in die »Klangfiguren« Eingang fand (vgl. Gesammelte Schriften, Bd. 16: Musikalische Schriften I–III, Frankfurt a.M. 1978, S. 110ff.), blieb der vorliegende zweite Vortrag zu Adornos Lebzeiten ungedruckt.