III

Komponisten und Kompositionen

 

Johann Sebastian Bach: Präludium und Fuge cis-moll aus dem ersten Teil des Wohltemperierten Klaviers

Im Namen der Treue zu Stil und geschichtlichem Wesen, im Haß gegen eine ›Romantik‹, die sie nicht einmal vor sich, geschweige denn hinter sich haben, versuchen heute Schulmeister aller Art, den Bach-Spieler zu zwingen, im Meister einzig ihre eigene Langeweile und Undifferenziertheit aufzusuchen. Der starre Orgelklang, die ›Terrassendynamik‹, der Verzicht auf jegliche phantasiereichere Darstellung Bachs werden da als neusachliche und womöglich kollektive Ideale gepriesen. Wenn Bach mit seinen homophonen Feinden durch die Jahrhunderte fertig ward, dann gilt es nunmehr, ihn vor seinen historischen Freunden zu schützen.

Gewiß soll der romantischen Umdeutung im neunzehnten Jahrhundert nicht im leisesten das Wort geredet sein; die Wiedergabe Bachs hat nicht aus dem ›Ausdruck‹, sondern aus der kompositorischen Gestalt zu schöpfen, und Unternehmungen wie etwa die Lisztschen Bearbeitungen von Orgelfugen sind nicht zu retten. Aber: der Interpret hat die Pflicht, den unmeßbaren absolut-musikalischen Reichtum Bachs mit allen Mitteln der Darstellung zu realisieren, über die sich nur verfügen läßt. Strenge der Tempi bleibt unangreifbar; ist ein Thema starr und statisch hingesetzt, so wäre es sinnlos, dem Phantom des ›Ausdrucks‹ zuliebe mit Crescendo und Diminuendo es aufzuweichen. Ist aber dafür ein großer Fugenabschnitt, wie die Schlußseiten der cis-moll-Tripelfuge, in einer kontinuierlichen, aufs dichteste vermittelten und gedrängten Entwicklung komponiert, so wäre es musikalisch sinnwidrig, ihn zu ›registrieren‹, die zahllosen Themeneinsätze in dynamischen ›Terrassen‹ gegeneinander abzusetzen, wo die Musik selber einem undurchbrochenen dynamischen Zuge folgt.

Der Hinweis auf die Orgel besagt nichts dagegen. Bach ist nicht bloß der Vollender, sondern mehr noch vielleicht der Vernichter der Orgelkunst; der vielberufene alte Orgelklang wird, selbst in seinen Orgelwerken, derart vom Bachschen Reichtum der Konstruktion und Dynamik dementiert, daß die Königin der Instrumente als Magd dahinter zurückbleibt und vielleicht erst unser Orchester – freilich nicht die modernen Monstre-Orgeln – jene Gehalte aufdecken könnte, um die es geht, wenn einmal die reizsame Betroffenheit vorm uralten Orgelton gewichen ist. Kein Zufall mag es sein, daß nach Bach keine große Orgelmusik mehr geschrieben ward: die Gewalt der polyphonen Konstruktionen selbst hat ihren ehrwürdigen Basilika-Raum gesprengt. Um so weniger kann es uns obliegen, das freigewordene Werk Bachs absichtsvoll dorthin zurückzuversetzen: das, nicht das Gegenteil, wäre romantisch. So viel als allgemeine Spielanweisung zu einem Werk, das vom Spieler nicht die muckerische Geste der Strenge verlangt, sondern den treuen Dienst der exakten Phantasie: weil es selber zu den höchsten Zeugnissen von Phantasie zählt, die der musikalische Genius gewährte.

Polyphoner als andere geleitet zum polyphonischen Reichtum der Fuge bereits das Präludium und hat auch deren gesammelten Ernst im Ton: der subjektive Entschluß gewissermaßen, dem sich nicht zu weigern, was in der Fuge objektiv vollzogen wird. Die Oberstimme vom fünften Takt an gleicht den klagenden Holzbläsermelodien, die wir aus den Passionen kennen; der Sekundakkord überm großen cis im zwölften führt ins Dunkel der tiefsten Versenkung; ungeschieden zwischen Klage und Trost breiten die Stimmen sich auseinander, sinken dissonant herab: fragender Schluß. Die Fuge dann, an expansiver Kraft den größten Orgelfugen ebenbürtig, durch Konzentration des Ganzen und kontrapunktische Disziplin ihnen vielleicht noch überlegen, ist eine fünfstimmige Tripelfuge. Ihre drei Themen, die wohl trotz des vorgezeichneten Viervierteltaktes alla breve zu verstehen sind, lauten:

 

Theodor W. Adorno: Johann Sebastian Bach. Präludium und Fuge cis-moll aus dem ersten Teil des Wohltemperierten Klaviers, Gesammelte Schriften, Band 18, S. 180.

Das Gesetz der Tripelfuge fordert, daß diese drei Themen – die im Beispiel bereits kombiniert, also gleichzeitig erklingend geschrieben sind – untereinander im Verhältnis des dreifachen Kontrapunktes in der Oktav stehen. Was damit gemeint ist, wird am Beispiel ganz einfach klar. Die drei gleichzeitig erklingenden Themen lassen sich nämlich derart beliebig versetzen, daß jedes von ihnen Ober-, Mittel- oder Unterstimme wird und trotzdem ein harmonisch sinnvoller Verlauf der vier Takte erhalten bleibt. Während also im Beispiel Thema 1 die Unter-, 2 die Ober- und 3 die Mittelstimme darstellt, kann darin ebenso auch Thema 1 Mittel-, 2 Unter- und 3 Oberstimme werden usw. Alle sechs mathematisch möglichen Kombinationen sind auch musikalisch möglich.

Um die kombinatorische Gestaltung plastisch und dabei durchsichtig zu halten, sind die drei Themen kontrastierend angelegt: das erste in engstem Raum cis umkreisend, in ganzen und halben Notenwerten; das zweite, figurativ aufgelöste – gewissermaßen nur Nebenthema – in Achteln; das dritte, knappes, dynamisch rufendes Motiv, in Vierteln. Sie werden weiter dadurch voneinander abgehoben, daß das dritte, nach einer sinnvollen alten Fugenregel, merklich später als das erste und zweite einsetzt; darum eben als Motiv konzentriert.

Derart ist das Material vorgeordnet, mit dem Bachs Phantasie schaltet. Der Charakter des Stückes, offenkundig der eines geistlichen Gesichts, läßt ihn auf ältere, sonst längst von ihm aufgegebene Fugenelemente deutend zurückgreifen. Er verzichtet auf größere selbständige Zwischensätze: die vermittelnde Funktion wird vom zweiten Thema geleistet; die Drängung der Themeneinsätze, vor Bach oftmals nur mühsames Stammeln der geahnten Fugenform, wird ihm zum Mittel des Ausdrucks: als ob aus allen vier Richtungen des Himmels die gleiche Stimme ertöne.

Zunächst ist das erste Thema allein exponiert, in einem absichtsvollen Halbdunkel, aus dem keine thematische Gestalt deutlich sich löst, als die des Hauptthemas. Großartige Einheit von Inspiration und ›Technik‹: technisch darf kein zu selbständiger Kontrapunkt sich auskristallisieren, um nicht der Deutlichkeit des späteren zweiten und dritten Themas im Wege zu sein: der Inspiration wird die technische Not zum Anlaß, das erste und Urthema – dessen Intervalle übrigens deutlich an das berühmte B-a-c-h-Thema mahnen – aus dem amorphen ›ausdruckslosen‹ Klang bis zur klaren E-Dur-Kadenz ansteigen zu lassen (Takt 35).

Hier schließt sich wie ein ›Zwischensatz‹, aber sogleich mit dem Hauptthema in der Mittelstimme kombiniert, das zweite Thema, nach cis-moll zurückgewandt, an. Hellere, fließende Entwicklung, von drei Zwischentakten unterbrochen, ehe das zweite Thema zum erstenmal in den Baß versetzt ist.

In das figurale Kombinations-Spiel tönt plötzlich unvermittelt, wie eine fremde Stimme, im neunundvierzigsten Takt zum erstenmal das dritte Thema herein. Noch ist das Gewebe dicht genug, selbst diese Stimme in sich aufzunehmen und mit ihm zu ›spielen‹. Da erfolgt vom vierundsechzigsten Takt an eine erste kurze ›Engführung‹ des dritten Themas: schon erscheint es in einer Stimme, ehe es in der anderen zu Ende gebracht ist. Die Dringlichkeit des Rufes erzwingt den Umschlag. Er zeigt sich am ersten Thema, das seinen tödlichen Ernst enthält. Im sechsundsechzigsten Takt bemächtigt es sich der Oberstimme. Jetzt aber nicht mehr amorphe Zelle, sondern in höchster Bestimmtheit: über den ehernen Ruf des dritten setzt es die steinerne Schrift, und die Achtel des zweiten Themas, so figural zuvor, erscheinen mit einem Mal wie die mächtigen Züge der Hand, die diese Schrift entwirft.

Im dreiundsiebzigsten Takt erreicht das Hauptthema den Baß und tragenden Grund selber und nun ist kein Halten mehr. Den ganzen Raum füllen die drei Themen. Äußerste Spannung nochmals nach dem achtundachtzigsten Takt und dann endliche Entscheidung. Das zweite Thema fällt fort. Das dritte dafür ruft, zum Text des ersten, in zehnfacher Engführung, schließlich die rhythmische Ordnung durch Verschiebung aufhebend, alles vor sich niederwerfend. Dann wird der stürzende Kosmos über dem Orgelpunkt auf der Dominante Gis gebannt. Im dritten Takt darüber vollzieht sich der richtende Spruch des ersten Themas in der Oberstimme, weit über alle instrumentale Möglichkeit, alle Interpretation, selbst alle Musik heraus: leibhafter Zugriff der Wahrheit ins Kunstwerk. Der Schwerpunkt ist die schärfste Dissonanz als die große Septime auf gutem Taktteil. Darauf ein Nachlassen; ein dunkles Tor, die letzte Frage, die die Antwort ist, öffnet sich der Musik: das leise archaische Dur des Endakkordes.

 

1934

 

 

»Die alte Orgel«

Auf die Zuschrift von Werner Fries in Nr. 66 der »Vossischen Zeitung« möchte ich in Kürze erwidern: Daß als eine der zentralen Aufgaben der Bachinterpretation die Klarlegung der Polyphonie zu betrachten ist, bedarf nicht der Erörterung. Während aber die Orgel die gleichzeitig erklingenden Stimmen nur durch die Klangfarbe und allenfalls die Stärke voneinander abzuheben vermag, sind sie in der Komposition noch durch andere Elemente, vor allem den dynamischen Zug und die Phrasierung, voneinander abgehoben. Mein Einwand gegen die alten Orgeln – und mehr gegen die pseudo-objektive Bachinterpretation – meint nun nichts anderes, als daß Elemente, die in der Komposition angelegt und als solche objektiv darstellbar sind, durch die Orgel und den angeblich authentischen Vortrag gerade verfehlt werden. Oder glaubt Werner Fries nicht, daß vier oder fünf Stimmen, von denen jede dynamisch und agogisch sinnvoll und beweglich und nicht in archaischer Starrheit dargestellt wird, sich besser voneinander abheben, als wenn sie nur durch die gröbsten Mittel der Farbe und Stärke voneinander geschieden wären? Dient also nicht eine Darstellung, wie ich sie gerade bei der orgelhaften cis-moll-Fuge gefordert habe, der Polyphonie besser als die auf der alten Orgel? – Ja, ist sie am Ende nicht, als die angemessenere Realisierung des (von mir ja eben herausgearbeiteten) kontinuierlich-dynamischen Zuges des Werkes selber (der an dessen Form nachweisbar ist) sogar die objektivere als eine, die sich nicht um das kümmert, was die gedrängte und verjüngte Konstruktion dieser Fuge verlangt? – Was im übrigen den Streit um alte oder neue Orgel anlangt, so darf vielleicht drastisch geantwortet sein: Die neue Orgelbewegung ist im Recht und Unrecht zugleich. Im Recht gegen die mit Rollschwellern, Kling-kling, Koppelungen und sinnloser Registervielfalt aufgeschmückten Riesenorgeln der letzten Dezennien, die musikalischen Warenhäusern glichen und denen gegenüber jede Reduktion auf die Sache legitim ist. Im Unrecht gegen Bach, dessen kompositorische Gestalt derart über das Material hinausweist, in dem sie zur Ursprungszeit konzipiert wurde; und durch die musikalische Geschichte seitdem derart selber sich wandelte (denn Geschichte verwandelt die Werke in sich!), daß er im alten Orgelklang adäquat nicht mehr vorgestellt werden kann. Diese Verschränkung ist es, die die Orgeldiskussion so sehr erschwert. Aber mir scheint: die Forderungen im Bachischen Werk haben gegen die Orgel-Rekonstruktion entschieden. Bach ist zu gegenwärtig, als daß er gleich den Abgeschiedenen mit dem Namen der Vergangenheit sich beschwören ließe.

 

1934

 

 

Ludwig van Beethoven: Sechs Bagatellen für Klavier, op. 126

Ungesellig weigert der letzte Beethoven sich der Hausmusik. Vor den letzten Quartetten bleibt der Streicher-Amateur, vor den fünf späten Sonaten und den Diabelli-Variationen der pianistische ratlos: beim Spielen und leicht genug darum auch beim Hören. In die versteinerte Landschaft führt kein bequemer Weg. Aber als Beethoven den Stein reden machte, indem er mit dem Meißel Figuren daraus schlug, flogen im furchtbaren Aufprall die Splitter. Und wie der Geologe aus winzigen, versprengten Stoffteilen die wahre Beschaffenheit ganzer Erdschichten zu erkennen vermag, so zeugen die Splitter für die Landschaft, aus der sie kommen: die Kristalle sind die gleichen. Beethoven selber hat sie Bagatellen genannt. Es sind Splitter nicht bloß und Dokumente des mächtigsten Produktionsvorganges der Musik, sondern ihre befremdende Kürze offenbart zugleich jene seltsame Schrumpfung und Tendenz zum Anorganischen, die ins innerste Geheimnis wie des letzten Beethoven so vielleicht jeden großen Spätstiles führt. Obwohl in der Sammlung der Beethovenschen »Klavierstücke« allgemein zugänglich, sind sie nicht entfernt so bekannt wie die Sonaten: es ist, als ob in ihrer Luft sich schwer atmen ließe. Aber den mühsamen Atem belohnen sie mit ungeheuren Perspektiven fürs Auge. Es soll zum Spiel des zweiten späten Bagatellenzyklus ermutigt werden, dessen pianistische Anforderungen durchaus sich meistern lassen, wofern nur die musikalischen gemeistert sind.

Das erste Stück hält sich im Schema der dreiteiligen Liedform. Eine liedhafte Melodie wird, mit selbständigen Gegenstimmen von Anbeginn, achttaktig exponiert und, in reicherer Bewegung, wiederholt: sehr selbstverständlich beginnt in der Dominanztonart der Mittelsatz. Da ist es, als griffe eine riesige Hand ins friedvolle Gebilde hinein. Ein Motivglied aus dem vierten Takt des Mittelsatzes wird aufgehoben, nach seinem Gesetz der Rhythmus modifiziert, und es spaltet sich in immer kleinere Werte auf. Plötzlich ist es nur eine Kadenz noch: der Riese hat bloß gespielt, und überm Schlußglied der Kadenz beginnt die Reprise: das Thema im Baß, die Oberstimme aus dem Kadenzschluß gebildet. Dann erscheint, zu ausgreifendem Kontrapunkt, das Thema oben, nach G-Dur kadenzierend: die Reprise auf acht Takte verkürzt. Coda, aus der Umkehrung eines Motivs des Mittelsatzes, ganz polyphon, mit einer sehr rücksichtslosen Sekundreibung: die Stimmen treten auseinander und eröffnen die Sicht in den Abgrund zwischen ihnen. Am Ende der scheue, späte Friede des ersten Teiles. – Überaus merkwürdig als Form das zweite Stück: es hat keine Reprise oder Repetition des Beginns. Einsatz mit einer einstimmigen, präludienhaften Sechzehntelbewegung; als Kontrast darauf fließende Melodieachtel, beides wiederholt. Beim dritten Ansatz bremst ein fp im Baß die Bewegung; dann zeigen die Achtel, in den extremen Lagen, plötzlich geheimnisvollen Ausdruck; Kadenz und prägnanter Halbschluß. Das Schlußmotiv leitet in einen Cantabile-Mittelteil, der unregelmäßig wiederholt wird und abreißt. Wie im ersten Stück anstatt Vermittlung Zäsur: in klaffend großen Abständen erscheint das Anfangsmotiv, wird gedrängt, moduliert nach g-moll. Stürmische Bewegung: frei eintretende Sforzato-Vorhalte bedrohen das g-moll mit scheinbarem fis-moll, weiter c-moll mit Des-Dur. Aus der Sechzehntelbewegung löst sich ein neues melodisches Motiv in Vierteln heraus, wird deutlicher, von Triolen begleitet, und dann selbständig: Zitat aus dem ersten Satz der Hammerklaviersonate. Es endet mit dem Schlußmotiv des Expositionsteiles. Das wird aufgenommen, polyphon gewandt, ein dynamisches Zucken läuft hindurch, dann geht es aus wie ein Licht. – Das dritte Stück ist ein ganz einfaches dreiteiliges Lied, gesetzt in ›harmonischer Polyphonie‹. Der erste Teil wird wiederholt, der zweite öffnet sich in eine kleine Kadenz. Die Reprise bringt den Anfangsteil und dessen Wiederholung in figurativen Variationen. Coda aus dem Schlußrhythmus der Exposition zur festgehaltenen Zweiunddreißigstelbewegung; die vier Schlußtakte aus den Anfangsnoten der Melodie gebildet. – Das vierte Stück, Presto, motivisch einer Variation aus der Sonate op. 109 nächstverwandt, im Ton deutlich auf die letzten Quartette weisend, ist das wichtigste des Zyklus. Härtester Gegensatz von Polyphonie (doppelter Kontrapunkt und Engführung) und kahler, fast monodischer Einfachheit. Anfang gespannt polyphon; Antwort in Oktaven mit wilden Akzenten. Mittelsatz beginnt mit dem doppelten Kontrapunkt des Beginns, löst sich leichtlich auf in Achteln; da schlägt, mit Oktaven, das wiederholte fis des Anfangs dazwischen. Nochmaliger Ansatz: wieder das fis. Dann Sammlung in der Engführung und danach das Hauptthema über nackt akkordischer Viertelbegleitung, unmittelbar zur Wiederholung des ersten Teiles führend. Die Oktaven am Schluß breiten sich aus und kadenzieren. Trio: H-Dur, über einer fast beispiellos primitiven Dudelsackbegleitung ein nicht minder einfaches Thema; aber es ist eine trügende, schauerliche Einfachheit, die im grellen Licht eines von außen einfallenden Crescendo und Diminuendo überdeutlich wird, wie eine Landstraße im nächtlichen Licht Berge und Täler auf ihrer Fläche zeigt. Dann wird, in sakralen ganzen Noten, eines der Hauptmotive der letzten Quartette beschworen: kleiner Nonenakkord als schärfste Dissonanz und nochmals das schreckliche Pastorale. Getreue Wiederholung des Scherzos, um vier Takte gedehnt: Zäsur. Das ganze Trio nochmals; doch nach der Zäsur, als Wiederholung, bloß noch Phantasmagorie. Dur-Schluß. – Runde Meisterschaft ohne Schrecken im fünften Stück. Zarte, lyrisch gefüllte Polyphonie wie im zweiten Satz des cis-moll-Quartetts; der Mittelteil ganz gesanglich – mit einer Mittelstimme, die eine herrliche Dissonanz schafft; darin aber, wie stets bei Beethovens Lyrik, latente symphonische Energien, die ein großes, auseinandergebreitetes Crescendo freisetzt. Das Schlußmotiv stiftet die Beziehung zum ersten Teil; seine Reprise ist ganz verkürzt. – Das letzte Stück beginnt und schließt mit sechs Prestotakten, die – mit gewissen Stellen aus den Variationen des cis-moll-Quartetts – zum Rätselhaftesten und Seltsamsten rechnen, was der späte Beethoven hinterließ: denn die Erklärung als ›instrumentale Geste‹ kann bei einem Meister nicht befriedigen. Nur soviel sei gesagt: ihr Rätsel liegt im Konventionellen. Das Stück selbst ist wieder lyrischer Art; erinnert im Ton an die »Ferne Geliebte«. Das erste Thema stockend aus Motivbruchstücken gefügt; dann, modulierend, dichteres melodisches Gewebe, mit der feinen Spitze eines ornamentalen Triolenmotivs am Schluß der Exposition. Daraus wird der Mittelteil gebildet, und die Reprise hält als Begleitung die Triolen fest. Sie ist um sechs ›freie‹ Takte erweitert; ihr zweiter Teil ist zur Haupttonart gewandt. Die Coda nimmt, wie der Mittelteil, das Triolenmotiv auf und entfaltet es, indem es von allen Stimmen Besitz ergreift. Nochmals, fast rondoartig, das stockende Hauptthema. Dann zerbrechen die Prestotakte die lyrische Schale. Aus den mächtigen Händen gibt der Meister Stückwerk frei. Seine Form selber tendiert zum Fragment.

 

1934

 

 

Franz Schubert: Großes Rondo A-Dur, für Klavier zu vier Händen, op. 107

Schuberts A-Dur-Rondo ist der große Glücksfall aller vierhändigen Musik. Es ist ein Hauptwerk: eines der rundesten und vollkommensten aus der Hand des reifen Schubert; es ist aus dem vierhändigen Material herausgehört und hat doch nach Farben und Gestalten den Reichtum einer Symphonie; es hat die Länge, die göttlich ist, weil sie erscheint wie ein Augenblick; es ist – zumindest nach dem Maße der Spielfertigkeit – leicht auszuführen; Hausmusik, aber ohne Enge der Häuslichkeit und schlechte Intimität. Vielmehr durchaus eine Wandererphantasie; weite Musiklandschaft, umgangen in wechselnden Perspektiven, auf wechselnder Höhe und Tiefe; umgangen vom Menschen, menschlich gespiegelt, doch selig objektives Bild wie Tal und Staffage des Planwagens und Quelle darin. Dabei das genaue Gegenstück jener Wandererphantasie, die den Namen trägt: bleibt diese genialische Skizze, so ist hier breite Fülle gebändigt und sommerlich eingebracht; lebt dort der Schrecken vor schwarzen Erdschluchten, so ward er hier gedämpft zu den leisen Schauern einer Folklore, deren Ursprung dunkel ist wie der der Zigeuner. Wenn jener chinesische Maler der Legende in seinem Bilde verschwand, dessen Vollkommenheit zu erproben, dann darf der Hörer – nein, der Spieler des Großen Rondos darin spazieren gehen; beliebig lang, dann alles darin ist in Wahrheit gleichzeitig; beliebig tief, denn es ist unergründlich; doch ohne Furcht, sich im Grenzenlosen zu verlieren, denn die Natur, die hier laut wird und leise, ist versöhnt und gesegnet.

Es ist kein Rondo im schlichten alten Sinne der Wiederkehr des Rundenthemas, unterbrochen durch bloße Ausweichungen und ›Gänge‹, die nichts übers Thema vermögen und einzig es bestärken. Sondern ein Sonatenrondo im Beethovenschen Verstande. Das heißt bei Beethoven: eines, in dem das Thema angegriffen, verteidigt, verwandelt oder geleitet wird; eines, in dem die Objektivität des Themas, in Frage gestellt, zur Bestätigung erst findet. Technisch gesprochen: Rondo mit Durchführung, das aus dem Material konstruktive Konsequenzen zieht, anstatt durch bloße Wiederkunft es zu binden. Man mag geradezu ein Beethovensches Modell suchen: den zweiten Satz der Klaviersonate op. 90, dessen letzte Reprise, mit dem Thema im Tenor, die Idee der letzten Reprise des Schubertstückes abgibt. Ist dieser Sonatensatz der Schubertischeste vielleicht, der von Beethoven existiert, so ist es dafür höchst lehrreich, wie Schubert von dem sich unterscheidet, was allenfalls das Vorbild abgab. Nicht bloß durch die Unerschöpflichkeit der melodischen Invention, die er den Beethovenschen Motivspannungen entgegensetzt. Mehr noch durch die Handhabung des Sonatenrondos selber. Nicht setzt die Subjektivität, als ›Thema‹, in der Durchführung sich durch. Subjektivität ist gegenwärtig überall, als das Auge, das den Wechsel der Bilder vereint und hält; doch ausgewogen mit ihrer Welt, in flüchtiger Trauer nur diese übergoldend. Das Durchführungsprinzip gewinnt seinen Sinn anderswo als bei Beethoven: es bildet das subjektive Einheitsmoment, das Nächstes und Fernstes durchdringt und in Beziehung setzt; doch in die Beziehung der Gleichzeitigkeit und des Seins, nicht der Entwicklung und des Werdens, die nur eben anklingt, wo die Bilder – wie im C-Dur-Teil – selber pathetischeren Ausdruck gewinnen. Die thematische Arbeit läßt nicht, mit Ähnlichkeit und Widerspruch, eines aus dem anderen wachsen; sie steht nicht ein für Geschichte. Sie ist statisch; sie bindet die Kontraste und variiert die Gleichheiten, weil alle ruhen im gleichen angeschauten, gegenwärtigen Sein. – Technisch ist die Einheit gestiftet durch ein Kopfmotiv von drei diatonisch ansteigenden Noten, das den verschiedensten Themen gemeinsam ist. Die ›Durchführung‹, später die Coda vertieft die Perspektive der Themen, ohne deren Sein zu berühren.

Unerschöpflich viele melodische Gestalten. Verwandt untereinander; doch mag hier, wo es nicht die ›Analyse‹, sondern das Verständnis des unmittelbaren Verlaufs gilt, von jedem wesentlich nach seiner eigenen Erscheinungsweise die Rede sein. – Hauptthema, A-Dur, nach tonlichem und zeitlichem Umfang weit geschwungen, dreiteilige Liedform, von einer zaubernd sonoren Nebenstimme als zartem Schatten begleitet. Wie zwangvoll im Mittelteil, beim neunten Takt, der melodische Faden weitergesponnen wird! Wiederholung des ersten Teiles, leicht variiert. – Überleitungssatz, von fis-moll als der Paralleltonart von A-Dur nach E-Dur als der Dominante leitend. Er nutzt außer dem Kopfmotiv den Anfang des Mittelteiles des Hauptthemas und ist – also auch tektonisch zum Hauptthema kontrastierend – nach dem Prinzip doppelter Zweiteiligkeit gebaut: vier Takte fis-moll, sieben Takte A-Dur; diese in ihrer Asymmetrie besonders kunstvoll; die ganze Gruppe sogleich wiederholt, harmonisch aber derart – über H-Dur – versetzt, daß sie die deutliche E-Dur-Kadenz erreicht. Der gesamte Überleitungsteil gehört zu jenen ungemein charakteristischen Nebenthemen Schuberts, die sich nach Moll, gewissermaßen in den Schatten, wenden und dort, im Geheimen, Verborgenen, eine rätselhafte, es darf wohl gesagt sein: mythisch echte Folklore zitieren – so auch der Seitensatz der ersten Sätze der C-Dur-Sinfonie und des Oktetts. Hier ist eine ›ungarische‹ Tönung unverkennbar; eine Zweiunddreißigstelquintole mahnt ans Zimbal; aber es ist ein Phantasieungarn, eine Traumsteppe, mehr unter der Erde gelegen, durch Schluchten zu betreten, als auf ihr. – Eigentlicher Seitensatz, E-Dur; zunächst in transparenter Dreistimmigkeit über der fünften Stufe, viermal ein ganz knapp gefaßtes, zart prägnantes, zweitaktiges Thema – immer mehr verjüngen sich die Modelle des Satzes! – dann ein ausschwingender Abgesang, abermals zweitaktiges Modell, die Wiederholung schlußkräftig auf drei Takte gedehnt. – Schlußgruppe E-Dur, einsetzend pianissimo, vielleicht das schönste Thema des Satzes, mit dem Ausdruck unbeschreiblich friedvoller Ergebung, choralhaft in sich verschlossen, plötzlich umschlagend wieder nach fis-moll, wo ein neues Melos – der Seele der Klarinetten abgehört – sich loslöst. Motivisch ist das Schlußgruppen-Thema eng verwandt dem Hauptthema, im Ton jedoch am weitesten von ihm entfernt. Expositionsschluß: einschlafend in der treuen Wiederholung eines Motivgliedes; dann lange Rückleitung – wieder im doppelten Kontrapunkt; der ganze Satz zeigt besser als jeder andere die polyphonen Kräfte, die beim späten Schubert frei werden – über dem Orgelpunkt E. Dann erste Reprise des vollständigen dreiteiligen Hauptthemas, unmittelbar danach die Durchführung oder wenn man will der ›Gang‹, in C-Dur beginnend, ein Motivglied verarbeitend, das, als ›Umkehrung‹, dem Hauptthema entstammt, weiterhin fließend bewegt das Choralthema der ›Schlußgruppe‹ verarbeitend. Im Zentrum der Durchführung ein Perspektivenwechsel wie beim Beginn des fis-moll Überleitungsteiles. Es ist B-Dur erreicht, c-moll angedeutet; da wird plötzlich die sechste Stufe von c-moll (lax gesprochen: der As-Dur-Akkord) enharmonisch umgedeutet zur fünften Stufe von cis-moll und von dort bruchlos nach H-Dur moduliert. Das klingt, wie wenn man aus einem Tal in einen Wald tritt und, ihn verlassend, ein völlig neues, fremdes Tal gewahrt: ohne daß man es wußte, ist eine Schlucht durchschritten. – Folgt zweite Reprise des Hauptthemas, A-Dur, weise auf acht Takte verkürzt; dann streng nach Sonatenweise die treue Repetition des übrigen, nur leicht variierten Expositionsteiles, natürlich ohne die Wendung zur Oberdominante. – Coda, beginnend mit der Rückung nach F-Dur und den Sechzehnteltriolen des Primo-Spielers, sinnvoll die Idee der Durchführung-Versetzung des Schlußgruppenchorals in den bewegten Fluß – aufnehmend, mündend in aufgelöste Flötenlinien, sich erinnernd an die Rückleitung zur ersten Reprise. Schließlich erscheint, nach jenem Beethovenschen Muster, die letzte Reprise des Hauptthemas, im Tenor. Es ist, als ob das Thema bei seinem Namen gerufen würde: ein überwältigender Augenblick Musik, den Worte nicht erreichen. Ebenbürtig der Schluß, der endlich das Schlußgruppenthema dem Hauptthema anfügt und aussagt: ihr beiden, verschiedenen, entlegenen, der bewegte Gesang und der verhaltene Choral, seid das gleiche: nun dürft ihr beieinander sein. Hier, in der letzten Coda beim Zitat der Schlußgruppe, kommt es zu Dissonanzen, kleinen Nonenakkorden, die zu den schmerzlichsten der Musik zählen: Dissonanzen dessen, der sich verlassen weiß, sobald die Musik verstummt. Noch einmal das Kopfmotiv, wie ein Entschluß: der Getröstete wendet sich vom seligen Bilde. Das Pianissimo der Endtakte zeigt ihm nicht mehr davon als das letzte helle Gewölk. Der Satz schließt nicht. Er verschwindet.

Kaum, allenfalls in der C-Dur-Durchführung, gibt es ein paar schwierigere Griffe und rhythmische Aufgaben. Die Spieler können sich gänzlich auf die Musik konzentrieren und deren Forderung: daß die bunte Mannigfaltigkeit wahrhaft als die Einheit erscheine, als welche sie komponiert ist. Dem dient vorab das Tempo, das, von geringfügigen Rückungen abgesehen – Beschleunigungen über den Orgelpunkten, in der Durchführung und dem Beginn der Coda; unmerkliche Verzögerungen beim jeweiligen Beginn der Schlußgruppenpartien und am Ende nach der letzten Reprise – einheitlich durchzuhalten ist und auch bei den kleinen Modifikationen als Grundtempo fühlbar bleiben muß. Dies Tempo ist nicht leicht zu treffen und schon Schuberts Bezeichnung, Allegretto quasi Andantino, verrät einiges Zögern. Es darf vielleicht als Regel gelten: so rasch, daß die Achtel nicht stocken, aber so langsam, daß die Sechzehntel noch als Melodienoten verständlich sind (Metronomfreunde können sich etwa an der Angabe Viertel = 72 orientieren; eher etwas rascher). Keinesfalls dürfen ›ausdrucksvolle‹ Stellen, wie der Abgesang des Seitensatzes oder die ›Klarinetten‹-Melodie des Schlußsatzes, gebremst werden; alle Gestalten müssen in stetem Fluß bleiben. Damit freilich beginnt erst die Interpretationsaufgabe. Es ist nicht schwer, rasch zu spielen; wohl aber, in fließendem und gleichmäßigem Zeitmaß die Einzelgestalten so zu charakterisieren, daß sie zugleich gebunden bleiben und voneinander sich abheben. Dazu noch einige Hinweise. Der fis-moll-Überleitungsteil ist vor allem durch den Klang zu verdeutlichen; der Klang ist ›abzublenden‹, muß gleichsam ›irreal‹ werden (Dämpferpedal!). Der zweite Spieler muß den ersten seine Zimbalfiguren ausspielen lassen; ihm dazu die Zeit gewähren. – In den dreistimmigen Partien des Seitensatzes muß die Sechzehntelbegleitstimme durchaus zurücktreten; die ganze Stelle möglichst ohne Pedal; die beiden anderen Stimmen aber, die ruhigere und die mit den Sechzehnteltriolen, sind, wie sehr oft bei Schubert, gleichberechtigt; also nicht die eine bloßer Kontrapunkt zur anderen; sie müssen sich polyphonisch verschlingen, keine ist ›Hauptstimme‹. Der Abgesang forte und warm, aber nicht brutal; Vorsicht vor dem drohenden ›vierhändigen‹ Klang. – Den Schlußsatz pianissimo und legato, ebenfalls möglichst ohne Pedal. Da er ganz homophon ist, keine selbständigen Nebenstimmen enthält wie die anderen Themen, bietet er gerade dem vierhändigen Spiel gewisse Schwierigkeiten. Es ist leichter, Stimmen vierhändig zu spielen als Akkorde. Genau auszählen. Dann die ›Klarinettenmelodie‹ sehr heraus! Bis zum Wiedereintritt des Themas das Rondo recht fließend halten; die Spannung wird allein schon vom Orgelpunkt E erzeugt. – Die ›Durchführung‹ ist im Verhältnis zum Ganzen kurz und darf darum nicht durch den Vortrag belastet werden, wenn das Stück nicht seine Proportionen einbüßen soll. Eher etwas ›darüberhin‹ im Tempo; nur rhythmisch recht exakt; erst nach dem harmonischen Umschlag etwas mehr ›ausspielen‹. – Die Anweisungen für die Exposition gelten im wesentlichen auch für deren Wiederholung; nur ist hier alles etwas mehr zusammenzuziehen, die Kontraste auszuschleifen. Die Coda vom F-Dur-Einsatz an wieder etwas flott, analog der Durchführung; die letzte Themenreprise sehr voll und rund im Klang, aber streng im Zeitmaß. Die nochmalige Andeutung der Schlußgruppe mag allmählich ritardiert werden. Dissonanzen gut betonen! Vom letzten Mezzoforte an nochmals straff; die Schlußtakte frei und aufgelöst.

 

1933

 

 

Eduard Steuermanns Brahms-Ausgabe

Meine Damen und Herren, vor nicht langer Zeit sind die Werke von Brahms frei geworden. Es ist eine ganze Reihe neuer, gegenüber der alten erheblich verbilligter Brahms-Ausgaben erschienen, und fraglos hat dadurch die Popularität des Brahmsischen Werkes sehr zugenommen. Manche der neuen Brahms-Ausgaben tragen den Namen eines Bearbeiters. Welchen, das wird der Mehrzahl der Käufer ziemlich gleichgültig sein. Denn einmal, so denken sie, ist Brahms ein immerhin so moderner, uns zeitlich so naheliegender Komponist, daß seine Musik uns unmittelbar vertraut dünkt und der Interpretation keine Rätsel aufgibt. Als Meister eines bewußt individuellen Stils hat er den Interpreten wenig Freiheit, nur geringen Spielraum für ihre Deutungen mehr gelassen, die Darstellung seiner Werke selbst genau festgelegt, die Notentexte sorgfältig bezeichnet; anders als in Zeiten gemeinschaftsmäßiger Musikübung, wo der Autor gleichsam nur den Umriß der Musik notiert und die Ausfüllung dem Kollektiv freigibt, sucht eine Musik, wie die Brahmsens, orientiert am Ausdruck der Person, auch in der Bezeichnung deren Recht sicherzustellen und vor jeder Willkür des Interpreten zu behüten. Bemächtigt sich nun ein ›Bearbeiter‹ dieses Werkes, dann, so wird es Ihnen scheinen, werden nachträglich noch der Interpretenwillkür die so sorgsam versperrten Türen geöffnet. Ein Bearbeiter, so meinen Sie, mag allenfalls in einer Brahmsausgabe die Fingersätze hinzufügen, und das kann ein Pianist so gut wie der andere: was er mehr tut, schadet bloß und entstellt den echten Brahms. Aber so einfach verhält es sich nicht. Zunächst ist der Notentext keineswegs eine so eindeutige Gegebenheit, wie die landläufige Meinung annimmt. Wohl liegt alle Musik in ihm beschlossen. Aber sie liegt beschlossen in ihm; sie liegt nicht obenauf, sie muß entziffert werden und die Mühe des Entzifferns kann durchaus nicht jeder leisten, der die Noten zu lesen versteht und die Vortragszeichen kennt. Der Notentext läßt sich nur dann lesen, wenn er als Zeichen einer kompositorischen Gesetzmäßigkeit verstanden wird. Ob etwa eine Stelle piano oder forte gespielt werden muß, darüber entscheidet nicht bloß, ob sie mit piano oder forte bezeichnet ist – die Zeichen können ja auch fehlen oder mehrdeutig sein –, sondern auch der Satz; ob eine Stelle voll oder schwach gesetzt ist, ob ihre Setzweise von der vorhergehenden sich abhebt oder sie fortsetzt und was solcher Momente mehr sind; mit anderen Worten: die Bezeichnungen, die natürlich von einem gewissenhaften Interpreten in aller Strenge und Treue genommen werden müssen, sind sinnvoll allein im kompositorischen Zusammenhang und die treue Interpretation eines musikalischen Kunstwerkes erwächst allein aus der genauesten Wechselwirkung zwischen den Zeichen des Textes und dem musikalischen Zusammenhang. Bedenken Sie, daß das Problem von Zeichen und Zusammenhang nicht bloß für isolierte Fälle gilt, sondern für jeden Augenblick jeglicher Musik, so werden Sie sogleich erkennen, daß das Problem des musikalischen Bearbeiters keineswegs aus der Willkür des Interpreten entspringt, sondern aus der Beschaffenheit von Musik selber. Für alle die, welche das Verhältnis von Zeichen und Zusammenhang nicht von sich aus zu meistern vermögen, ist die Arbeit des Bearbeiters schlechterdings notwendig: nicht als willkürliche Zutat, sondern als Enträtselung des Werkes selbst. Denn jedes musikalische Kunstwerk gibt sich zunächst dem Hörer und Spieler als Rätsel. Es ist danach selbstverständlich, daß der Auswahl von Bearbeitungen die größte Aufmerksamkeit gebührt: von der Auswahl hängt oft genug nicht weniger ab, als ob das Stück richtig oder falsch enträtselt wird oder ob es gar in der Interpretation genauso unverstanden und darum auch unverständlich bleibt, wie es zuvor war. Es kommt hinzu, daß gerade bei Brahms die Bezeichnungen nicht entfernt so sicher und eindeutig sind, wie sie erscheinen. Brahms hat zwar sehr viel bezeichnet, aber zu zahllosen Stellen in einer Weise, die den verschiedensten Ausdeutungen Spielraum läßt. Es genügt, daß ein Bindebogen über zwei Akkorden steht, ohne daß man weiß, welche der Stimmen, ob etwa die obersten Töne oder die Mittelstimmen aneinandergebunden sind; oder daß eine Stelle »sempre con Pedale« bezeichnet ist, ohne daß ersichtlich ist, wie oft und an welchen Stellen das Pedal gewechselt werden soll – es genügt, sage ich, daß solche Fragen in einem Stück sich erheben, um die Arbeit des Bearbeiters unmittelbar aufzurufen.

Wenn ich Ihnen für Klavierwerke Brahmsens die in der Universal-Edition erschienene Ausgabe von Eduard Steuermann aufs wärmste empfehle, so geschieht das darum, weil mir diese Ausgabe der doppelten Forderung an echtbürtige Interpretation in schlechterdings vorbildlicher Weise gerecht zu werden scheint: gewissenhafteste Treue zu Text und Zeichen vereint sie mit der tiefsten und fruchtbarsten Anschauung des musikalischen Zusammenhanges. Sie gibt sich in einer Bescheidenheit, die von den aufgeblähten Prätentionen virtuoser Bearbeitungen um so wirksamer sich abhebt, je mehr an neuer Erkenntnis des Werkes die unscheinbare Darstellung enthält. Die Anmerkungen unter dem Text sind von äußerster Knappheit und bringen einzig das wahrhaft Notwendige; die Zusätze und Vortragsbezeichnungen im Notentext selbst sind durch kursiven kleinen Druck sinnfällig gemacht, so daß diejenigen, die an der Fiktion eines ›reinen‹ Textes festhalten, auch gleichwohl auf ihre Kosten kommen. Aber was in solcher Bescheidenheit und völligen Unterordnung unters Werk gerät, ist schlechtweg entscheidend. Die grübelnde Zeichendeutekunst eines Schriftgelehrten, die kompositorische Kenntnis eines großen Musikers und die klavieristische Erfahrung eines großen Pianisten verschränken sich in den kargen Notizen der Ausgabe. Und wie jede echte Treue so findet auch die von Steuermanns Ausgabe sich belohnt dadurch, daß sie ihren Gegenstand verändert. Was aus der exakten Darstellung des Verhältnisses von Zeichen und Zusammenhang schließlich hervorgeht, ist nicht weniger als ein neuer Brahms; nicht einer, der durch Ausdeutungskunststücke des Bearbeiters zufällig zustande kommt, sondern einer, der gereinigt ist vom Staub der traditionalen Schlamperei und der damit unvermerkt zu einer Aktualität gelangt, die man bei jenem Brahms vergebens sucht, der von respektlosen Händen als Genrebild in die Wohnstube des musikalischen Haushalts gehängt ward und an den das Auge längst zu gut und schlecht sich gewöhnte, um seiner eigentlichen Züge überhaupt noch gewahr zu werden.

Ich will meine Behauptung, daß gerade die Treue und Gewissenhaftigkeit des Steuermannschen Verfahrens einen anderen und neuen Brahms enthülle, wenigstens an einem Beispiel erläutern. Ich greife eines der bekanntesten und abgespieltesten Stücke heraus, an dem Sie den Kontrast besonders sinnfällig beobachten können: die h-moll-Rhapsodie, op. 79, Nr. 1. Sie alle haben das Stück als Schulbeispiel jenes ›dicken‹, akkordisch schweren, vollgriffigen Brahms im Gedächtnis, an dessen kompakten Klängen Klavierschüler und Dilettanten sich und anderen mit Vorliebe ihre Kraft beweisen und sich virtuos vorkommen, wenn es recht laut klingt. Steuermann bemerkt zum Anfang: »Man beachte den relativ dünnen Satz der ersten Takte. Das Forte und Agitato darf keine ›homophone‹ Betonung der Zusammenklänge der Rechten oder der Oktaven der Linken herbeiführen und soll durch das ausdrucksvolle Legato der Oberstimme zum Ausdruck kommen.« Steuermann meint: es sollen nicht wie die schlechte musikalische Gewohnheit es stets noch verlangt, die guten Taktteile skandiert und dadurch jener bekannte hackende Akkordklang hervorgebracht werden, der zu fürchten ist, sondern die Oberstimme soll als Linie, also unabhängig von den Taktteilakzenten deutlich werden und die Gegenstimme soll zurücktreten. Die Gefahr des Lärmens nun wird vor allem von den zerlegten Akkorden der linken Hand, in einer sehr starken Klavierlage, nahegelegt. Steuermann begegnet der Gefahr, indem er den Text genau betrachtet. Dabei findet sich, daß immer die erste Note der Begleitfigur durch die tiefere Oktav verdoppelt ist, während die zweite und dritte jeweils ohne Oktav kommen. In der Setzweise steckt also bereits ein Diminuendo, das gerade den dicken Klang korrigiert. Es kommt nur darauf an, dies Diminuendo, das komponiert, wenn auch nicht geschrieben ist, durch den Vortrag tatsächlich zu realisieren. Steuermann fügt also bei jeder der absteigenden Figuren ein Diminuendozeichen hinzu. Zugleich gibt er nur von der ersten bis zur zweiten Note der Begleitfigur Pedal, so daß auch die Begleitfigur nicht zu einem dröhnenden Akkord verschwimmt, sondern Stimme bleibt, und zwar, mit jenem Diminuendo, eine sinnvolle Stimme. So löst sich der kompakte Akkordklang in ein klares, ganz durchsichtiges Gegeneinander einer melodischen Haupt- und einer Nebenstimme, die jeweils aus einem zerlegten Akkord gewonnen ist. Ebenso wird die Fortsetzung aufgelockert, die die beiden Systeme vertauscht. Hier steht im Text wieder Forte. Die Oberstimme bringt drei vollgriffige Akkorde, die sie durch eine zweistimmige, später wieder auf der ersten Note oktavweise verstärkte Legatobewegung in Sexten fortsetzt, während die Hauptstimme im Baß liegt. Steuermann setzt nach den Akkorden, also sobald die Oberstimme die Achtelbewegung bringt, ein Diminuendozeichen und schreibt dazu: »Hier bedeutet das bewegte Legato der Oberstimmen praktisch ein Diminuendo.« Er liest also wieder die Dynamik aus der Konstruktion der Musik, nämlich dem Wechsel der Setzweise heraus. Und der Text selbst rechtfertigt ihn. Wenige Takte später steht nämlich bei Brahms ein längeres Crescendo, das nach drei Takten zu einem Forte führt. Dies Crescendo wäre aber sinnlos, ja unmöglich, wenn die Stelle forte bliebe. Brahms hat kein Diminuendo notiert. Indem er aber Forte schreibt, dann Crescendo und dann abermals Forte, macht er ein neues Diminuendo selber notwendig und Steuermann entdeckt das Diminuendo da, wo es komponiert ist; nämlich wo an Stelle der vollgriffigen Akkorde wieder Stimmen treten. Sie sehen also, wie die Interpretation Steuermanns aus den Forderungen des Textes selber hervorwächst. Zugleich aber schafft sie, als Konsequenz des Textes, ein Klangbild, das von dem herkömmlichen ganz verschieden ist und rein aus dem Material heraus den ›dickflüssigen‹ Brahms durch einen reicheren, differenzierten, konstruktiveren ersetzt, der ihm nicht unterschoben wird, sondern der er in Wahrheit war und den zu entdecken es nur der Treue zur Sache bedarf. An Stelle des unterschiedslosen, plumpen Forte treten dynamische Kontraste: forte bleiben nur die wirklichen Marcatostellen, und die motivisch kontrastierenden Gestalten werden auch dynamisch abgehoben, ohne daß der Zusammenhang des Ganzen dadurch gefährdet würde: im Gegenteil, ein Ganzes wird ja um so deutlicher, je deutlicher die Teile in ihrer Verschiedenheit sich einander zuordnen, aus denen es sich komponiert. An Stelle der akkordischen Homophonie tritt, wenn ich so sagen darf, eine harmonische Polyphonie, die auch wesentlich harmonisch gedachte Ereignisse noch in die Logik der Stimmen zu verwandeln vermag.

Solcher Art sind die Probleme, die die Ausgabe stellt, und solcher Art die Lösungen, die sie gibt. Sie zeigt Ihnen das Vertraute neu und das Neue mit der Notwendigkeit des Selbstverständlichen. Das ist es, was von einer Ausgabe vorab verlangt werden muß.

 

1931

 

 

Brahms aktuell

Im »Neuen Musiklexikon« von 1926, das den Anspruch erhebt, samt der Moderne auch den Bestand der jüngeren Vergangenheit nach gegenwärtigen Maßstäben zu sichten, wird von Brahms gesagt: »Für die ›Moderne‹ ist er zweifellos der einflußloseste aller Meister, was seiner Größe, der Erfüllung seiner geschichtlichen Mission, nicht den mindesten Abbruch tut.« Die Logik des Satzes, eingegeben von jenem fröhlichen Eifer zur Neuheit, der endlich das Neue um des in Wahrheit Abgestandenen willen preiszugeben geneigt ist, wofern es nur für noch neuer ausgegeben wird, zeugt gegen sich selber: denn was soll wohl die »Erfüllung der geschichtlichen Mission« eines vor wenig mehr denn dreißig Jahren Verstorbenen bedeuten, wenn gleichzeitig gesagt wird, er habe keinen »Einfluß« mehr? Trotzdem verlohnt es sich, sachlich zu widersprechen: nicht um Brahmsens willen, der der Verteidigung nicht bedarf, sondern der stichhaltigen neuen Musik zuliebe, die durch solche Thesen mißdeutet und diskreditiert wird und um so eher sich rechtfertigt, je weiter sie tatsächlich von jener eilfertigen Gesinnung abliegt, die da nicht bloß Undankbarkeit vorm Gewesenen, sondern mehr noch Oberflächlichkeit im Heutigen erweist.

Zunächst, selbst die historische Rückschau auf den Ursprung der neuen Musik vermag die These nicht zu rechtfertigen. Reger, von dem das gleiche Lexikon generös versichert, er sei »geschichtlich das eigentliche Bindeglied zwischen der Nachklassik und Nachromantik und der Neuen Musik«, ist ohne Brahms schlechtweg undenkbar: die Wiederaufnahme der absoluten Musik im Rahmen der kammermusikalischen Sonate, der Klaviersatz in ›Griffen‹, tieferhin aber die Technik der motivischen Aufspaltung der Themeneinheit, ihre Verwandlung durchs überall waltende Prinzip der Durchführung, und vor allem der Stil der harmonischen Polyphonie ist ohne Brahms nicht zu denken; selbst das radikalste Ergebnis Regers, die musikalische ›Prosa‹ durch metrische Lockerung, ist den Brahmsischen Dehnungen und Kürzungen verpflichtet. Wieviel der junge Schönberg ihm verdankt, kann selbst der oberflächliche Blick noch an dem Lied »Am Wegrand« aus op. 6, also bereits der evolutionären Periode, erkennen. Weniger bekannt ist, daß auch die ersten kammermusikalischen Arbeiten Hindemiths (vor op. 10) sich offen mit Brahms auseinandersetzen. Das sollte historisch genügen; immerhin könnten Historiker auf den Einfall kommen, Brahms sei eben ›überwunden‹ worden. Wie steht es nun damit?

Gewiß, keiner schreibt mehr die lastenden Sexten über nachschlagenden Triolen; wenige die treulichen Reprisen, gar im kürzeren Klavierstück, und der Brahmsische ›Ton‹, die mühsam gelöste Stummheit, das schwere Atemholen eines gleichsam unablässigen Alterns der Musik, wird als Nachahmung kenntlich, wann immer ihn einer versuchte – eben weil er so tief dem Brahmsischen Ursprung, und das sagt zugleich: seiner Verfahrungsweise, verschwistert ist. Aber das zeigt doch nicht mehr von Brahms, als was, nach seinem eigenen Ausdruck, »jeder Esel hört«.

Das Eigentliche ist nicht ebenso kenntlich, in Verborgenheit jedoch um so wirksamer. Es erschließt sich am ehesten der Besinnung auf Brahmsens Ausgangsmaterial. Es war das Schumannsche, jene melodische Homophonie, die dem Gesang und dem harmonischen Fund zuliebe die große Beethovensche Sonatenkonstruktion durch subjektiven Ausdruck aufgeweicht, ihre Kontraste in lyrisches Liederspiel, ihre tektonischen Wiederholungen in den kreisenden Wiederholungszwang des eingeschlossenen Ich verwandelt hatte.

Nach dem Schumannschen Opfer besinnt in Brahms der objektive Sonatengeist sich gleichsam auf sich selber. Seine ganze Größe ist darin gelegen, wie streng solche Besinnung sich an den Ort und die Stunde bindet, da sie sich vollzieht. Der unmittelbare Rückgriff auf Beethoven ist, im Namen der Schumannschen Subjektivität und ihres verwandelten Musikstoffes, nicht möglich; die neudeutsche und Chopinsche Chromatik, die noch nicht vom Theater her ihr großes Gelingen im reifen Wagner gefunden hat, scheint einstweilen, im Bereich der Sonatenform, bloße Steigerung der Schumannsituation. Der sprengende Weg hindurch ist nicht der Brahmsische, aber auch nicht, oder nur gelegentlich, der zurück: vielmehr die Versenkung. Tiefsinnig schaut seine Musik ihr Material, eben das der Schumannschen Hochromantik, in seiner Selbstgegebenheit solange an, bis aus dessen eigenen Forderungen die Objektivation gerät: Objektivation des Subjektiven. Was bei Wagner der dynamische Sturm vollbringt, leistet bei Brahms die hartnäckige Insistenz. Seine Resultate aber haben um so mehr Dauer, Dauer gerade für die nachfolgende kompositorische Praxis, je weniger sie an der Außenfläche des Klangphänomens haften, je weniger sie darum der Abnutzung als ›Reiz‹ ausgesetzt sind.

Ihre genaue Analyse wäre ein großer kunsttheoretischer Gegenstand: gewiß kein geringerer als die Bruckners. Mögen nur Stichworte gegeben sein: die harmonischen Funde Schumanns werden aus ihrer expressiven Vereinzelung gelöst und nach ihnen die harmonische Struktur neu bestimmt: sie bilden selbständige Nebenstufen, die sinnvolle akkordische Gleichgewichtsverteilung auch über lange Strecken ermöglichen und, gegenüber dem ›klassischen‹ Schema von Subdominante, Dominante und Tonika, gleichwohl den subjektiv erschlossenen Reichtum halten. Beethovens symphonischer Lapidarstil mit der Sequenzierung identisch durchgehaltener Motive (erster Satz der Fünften) ist mit solchem harmonischen Bewußtsein so wenig vereinbar wie die Wagnerische chromatische Sequenz: statt dessen wird Beethovens spezifische Durchführungstechnik weitergebildet und zu einer Kunst der Variation gesteigert, die in den Expositions- und Durchführungsteilen aus dem Bewahrten, Bekannten unablässig Neues entwickelt, ohne eine ›freie‹, konstruktiv zufällige Note sich zu gestatten. Dem entspricht eine Kunst der ökonomischen Themenaufteilung in kleinste Motive, die als Konsequenz aus der Sonate ähnliches entwickelt wie Wagner aus dem Zwang der dramatisch prägnanten Charakterisierung, ohne doch, zwischen Motiv und Großform, das gestalthafte Thema als Träger der Substanz zu opfern. Es ist eine großartige, unbequeme, doch im heutigen erhellten Materialbewußtsein wahrhaft erst fällige Unnaivetät des Komponierens, die Brahms, im entscheidenden Gegensatz zu Bruckner, beherrscht und deren seltsamer musikalischer Erkenntnischarakter seine heilende Kraft erst beweist, wenn der schmerzhaft romantische Drang der Affekte abgestorben ist. Die Umschmelzung und Rekonstruktion der Sonate selber bleibt als dessen bis heute noch unbewältigte Idee zurück: in dem unvergleichlichen ersten Satz von Brahmsens Vierter Symphonie ist sie aufs genaueste formuliert.

Die Situation der gegenwärtigen Musik aber und die Problemgeschichte ihrer besten Vertreter macht die Wiederaufnahme jener Brahmsischen Intentionen unabweislich. Nachdem unsere Dissonanzen nicht als Reiz mehr frommen und nicht mehr als Ausdruck chaotischer Seelenverfassung, sondern bloß als neuer Musik-Stoff; nachdem der neoklassizistische Rückgriff als zu kurz, als materialfremd sich herausstellte, werden jene Kategorien musikalischen Bewußtseins fällig, die Brahms aus dem Material entwickelte und die, unentdeckt bis heute, eben darüber hinausweisen. Das Brahmsische Stufendenken gibt den Grund ab aller legitimen Reihenkomposition; seine verschlossen abwandelnde Dynamik wird zum Korrektiv der imitierten Terrassenstarrheit; die Ökonomik seiner Variationskunst lehrt zwangvoll die Ökonomik materialgerechten Verfahrens; und die in Brahmsens besten Werken geforderte Umorganisation der großen Form bleibt, mit Nachdruck sei es wiederholt, noch erst zu leisten. Leicht könnte es sogar geschehen, daß man die Substanz der Neuen Musik gerade in der Erfüllung jener Brahmsischen Postulate – die gewissen Theorien des späten Hölderlin verwandt sein mögen – finden wird, während die beunruhigenden Klänge als notwendig zwar, doch bloße Akzidentien ihre Selbstverständlichkeit gewinnen.

Mag immer der Brahmsische Ton ohne ›Einfluß‹ sein; was gilt überhaupt in Kunst jener offenkundige Einfluß? Er hat dafür Gesetze gestiftet, deren verpflichtende Genauigkeit mit ihrer wartenden Verborgenheit wetteifert. An künftigen Brahms-Aufführungen, die die Gesetze, und nicht das akademische Erbe oder die herbstlichen Farben realisieren, wird es wesentlich gelegen sein, ob sie aufgedeckt werden, so, wie sie bislang schon fruchtbar waren.

 

1934

 

 

Notiz über Wagner

Es kann nicht übersehen werden, daß das Gedächtnis an Richard Wagner, vom halbsäkularen Jubiläumsbetrieb lärmend produziert, trotz und wegen des Lärmes in einiger Unsicherheit gefeiert wird. Die beste Art, Wagner zu feiern, ist, ihn sinnvoll aufzuführen. Dafür steht im Augenblick exemplarisch Furtwängler ein; so jüngst, im Rahmen der Berliner Festwochen, mit einer Wiedergabe der Meistersinger, deren kammermusikalisch durchsichtige, lockere, bis zur letzten Phrase sinnvolle Anlage allein genügen könnte, die herkömmlichen Einwände der Formlosigkeit, des dicken Klanges, der leeren Theatralik zu widerlegen. Fraglos ist auch von anderen Interpreten Wagner gültig zu hören. Als Antwort auf die Aufführungen aber wird kaum mehr als die vage Gebärde des ›Denn er war unser‹ gefunden; die Berufung auf Macht und Größe der Persönlichkeit als letzten künstlerischen Seinsgrund, wohl auch auf die spezifisch nationale Substanz, von der die Texte und die theoretischen Schriften reden. Die genauere Besinnung auf die Leistung, und das will heute vorab doch heißen: die musikalische Leistung, wird vermieden und statt dessen unvermittelt an Gehalte appelliert, die, mögen sie tatsächlich dem Wagnerschen Werke zentral innewohnen, anders nicht zitierbar sind als in den konkreten Zellen seiner künstlerischen Verfahrungsweise. Gern wird heute künstlerische Technik mit dem Schimpfwort l'art pour l'art verlästert und der ›Gehalt‹ ihr, als ablösbar, positiv gegenübergestellt. Dabei ist eine schlechte Vorstellung von Technik im Spiel; eine solche, die die Verfahrungsweise als beliebig erlernbare, modifizierbare, letzthin zufällige Weise des Sich-Gebens nimmt und vergißt, daß solche geläufige, ›artistische‹ Technik schlecht ist nicht bloß nach dem Maß des Gehaltes, sondern eben bereits als Technik; daß sie für die Erlernbarkeit zu zahlen hat mit ihrer Unstimmigkeit vorm gestellten Problem, für ihre Modifizierbarkeit mit bloßem Geschmack an Stelle kontrollierbarer Gefügtheit, für ihre Zufälligkeit mit Unverbindlichkeit auch bei sich selber. Es gibt in Wahrheit kein ›technisches Können‹ unabhängig vom Gehalt; darum aber auch keinen im Kunstwerk sich darstellenden Gehalt unabhängig von Technik; Fragen, die auf ihn als solchen gehen, ohne ihn im technischen Begründungszusammenhang zu ergreifen, verfehlen ihn gerade und unterschieben statt dessen bloße Inhalte, die, als Stoff, solange dem Kunstwerk fremd und kunstfremd verharren, wie sie nicht aus dessen eigener Gesetzlichkeit aufsteigen. Davon nimmt die offizielle Wagner-Begeisterung keine Notiz. Kein Zufall, daß das Werk von Alfred Lorenz, das bislang zur musikalischen Erkenntnis Wagners am meisten beitrug, außerhalb des engeren Fachkreises kaum bekannt wurde.

Kein Zufall – warum aber? Fraglos ist im Wagnerschen Werke selber ein Moment der Irritation angelegt, das die technische Besinnung als eine ›artistische‹ gefährlich und suspekt erscheinen läßt. So wenig von solchen Instinkten in die Wagner-Hymnik sich hineintraut, anderwärts kommt es zutage; etwa angesichts des Jubiläumsgenossen Brahms, der da gelegentlich schon als der gesunde, volkstümliche, gemeinschaftsmäßige Meister dem ›hyperchromatischen‹, expressiven, erotisch überhitzten und individualistisch-privaten Wagner gegenüberstehen soll. Es ist die alte Nietzsche-Argumentation vom décadent, die unter der Hand sich regt; nur freilich hatte Nietzsche es abgelehnt, Brahms als Antipoden aufzustellen. Andererseits ist das polemische Recht Nietzsches gegen Wagner heute nicht mehr gegenwärtig; der Asket verführt so wenig nun wie der Berauschte; Musik als Opium der Gebildeten wird einzig noch im Frankreich Ravels, nicht aber von uns als Gefahr gefürchtet; die lebende Komponistengeneration zeigt sich gegen das wogende Orchester mit den tragenden Hörnerharmonien, den chromatisch gedehnten Mittelstimmen, den Geigenekstasen und Holzbläserdrohungen gründlich gefeit. Fragend nur, fremd und vertraut wie Träume aus der Kindheit liegt das Wagnersche Werk selber vor uns; unverständlich zuweilen im Gewohntesten, den Sequenzen, dann wieder jäh gegenwärtig in der Ausnahme. So fordert es Erkenntnis – aber auch bereits Apologie gegenüber einer in aller Neusachlichkeit weder neuen noch sachlichen Kunstgesinnung, die da hofft, das Eigentliche, Wirkende an Wagner verdrängen zu können. Dies Wirkende aber ist die Sprengkraft seiner Musik; ihr schlechtweg revolutionärer Zug; ihre Macht, das Naturmaterial der Musik – und schließlich nicht bloß der Musik – in die Gewalt zu nehmen und aus Freiheit zu verändern; aus einer Freiheit allerdings, die selber entspringt im dumpfen Naturdrang und aus ihm ihre tiefste Rechtfertigung empfängt. Jeder Versuch, diesen eigentlichen Wagner, heute wie stets den des Tristan, als naturfremd und artistisch zu diffamieren, ist oberflächlich. Er setzt den Musikstoff als statisch an, dessen Dynamik nirgendwo mächtiger aufging als bei Wagner, und verleumdet den Prozeß, mit dem die tief gründende Dynamik im Material sich durchsetzt, als artistische Isolierung. Noch die Einsamkeit des Artisten, die sie an Wagner bemängeln, ist gesellschaftliches Phänomen, und in ihr stellt der wirkliche Zustand angemessener sich dar als in einer Gemeinschaftskunst, die Einsamkeit verleugnet nur darum, weil sie sie nicht zu meistern und zu ändern vermag. Man braucht, anders als Nietzsche, die Größe Brahmsens gewiß nicht zu verkennen; ja man wird manche seiner Lösungen, insbesondere die der konstruktiven Variation, als fortgeschrittener und bündiger ansehen denn die Wagnerischen, die musikalisch nie gänzlich vom theatralischen Formgesetz sich sondern lassen; man muß aber doch zugestehen, daß der verständliche, folkloristische, gesunde Brahms gerade in Wahrheit einen Zustand, sei's der einstimmenden Gemeinde, sei's der innerlichen Person, zu konservieren sucht, der als Realität seine Musik bereits nicht mehr trägt; daher die Brahmsische Trauer, in der das ungebrochene Lied, die karge Gemeinde, die gehaltene Symphonie sich als ohnmächtige Wunschbilder anzeigen. Brahms war seiner Welt verständlich, weil seine Musik den Entwurf einer Welt enthielt, die, jüngst vergangen, nicht mehr existierte. Wagner aber, der Artist, den Nietzsche als Falschmünzer und Hexenmeister denunzierte, geriet ins Geheimnis des chromatischen Handwerks, konnte sein Publikum allein mit dem Zauber noch überlisten, eben weil seine Musik mit Einsamkeit, Geheimnis und selbst Schein die gesellschaftliche Struktur real bezeugte und in ihrer Dynamik zugleich über sie hinaus, auf das Mögliche, Zukünftige hindeutete.

An diesen Wagner und nicht an den der Fanfarendreiklänge ziemt uns zu denken, und er ist, als Durch- all unseres Musikstoffes, um so aktueller, je weniger er zur Nachahmung mehr lockt. Ihm kommt aller mythische Gehalt zu, der echt ist an ihm und nicht prähistorisches Arrangement; das Echtheitszeichen der Wagnerschen Mythen ist allemal ihre Moderne, kraft welcher er, Höllenfürst des neunzehnten Jahrhunderts, gebietet über das, was war von jeher. Wenn Tristan, im dritten Akt, aus dem Reich des Unbewußten erwacht, indem das Horn im Orchester unhörbar leise sich an die traurige Melodie des Hirten oben heftet, dann ist diesem Ruck des Erwachens nicht die pure Diatonik einer Altertümlichkeit gesellt, die das Gewesene mit dem Vergangenen verwechselte, sondern er vollzieht sich in jäher chromatischer Rückung. Oder das Thema des Amfortas, wie es zuerst vorübergleitet, ein déjà vu der Musik; in zwei, drei Takten drängt sich mit dem Schicksal des verfallenen Königs das einer Musik zusammen, die aus den Schmerzen ihres übermäßigen Dreiklangs unbestimmt, ungewiß und doch – mit welcher durchscheinenden Hoffnung verschwindet in der tonischen Harmonie. Die Schauer der akustischen Urbilder, die Wagner bannt, manchmal so eindeutig, daß sie sich nicht verändern, bloß wiederholen lassen – stets und stets geraten sie den letzten Wagnissen des Artisten; stets ist der einsame Experimentator den Quellen der Erinnerung näher als der Wagner der romantischen Kraftgeste, und so mag es seinen strengen Grund haben, daß gerade die Hörner, einmal im Tristan zu Fanfaren aufgerufen, diese zu Harmonien koppeln, die unseren Quartenakkorden gleichen; sie erst dürfen in mythischer Zweideutigkeit zum Rieseln des Baches sich verwandeln, in den Laut der Natur, weil sie der geschichtlichste Laut sind im Werke; so wie der Fünfklang der warnenden Rheintöchter der Götterdämmerung die schärfste Dissonanz ist, die eintrat, solange Tonalität ihr Recht behauptete. Umgekehrt bezeugen die Meistersinger, in allem und jedem Stück Umkehrung und treuer Schatten des Tristan, die rätselvolle Bezogenheit des Ältesten und Neuesten, die Wagners Kern und wohl den seiner Kunstepoche insgesamt ausmacht. Was hier sich anschickt, als wäre es Kostümstück, Historie und dünnes Ornament – dort, wo es den Butzenscheiben am nächsten kommt, im zweiten Akt, mit dem Flieder vor Sachsens Tür und der sicheren Lampe, verzaubert es sich, aus der eigenen Substanz, in die Riten der Vorzeit. Der entbundene Glanz der Musik, ihr Flimmern, das man mit Grund dem impressionistischen vergleicht, bewährt den Durchbruch der Triebmacht inmitten der bürgerlichen Ordnung und Enge bündiger als selbst Hans Sachsens Gedanken an die heidnische Johannisnacht, die das Glück der Person ihm raubt, um, vielleicht, das eines zukünftigen Geschlechtes ihm dafür zu schenken.

Eifrige Leute mögen das wieder Romantik, Hyperchromatik schelten und nichts daran gewahren als den Schein; aber in diesem Schein sind echtere Chiffren der Zeit und Vorzeit gelegen, seine Zweideutigkeit leuchtet besser zur Wahrheit als eine Echtheit, die sprachlos mit der Ohnmacht von Trauer einstürzt in die leere Tiefe der eigenen Existenz. Nicht kann es darum gehen, dem »Zauberer« Nietzsches einen schlichten, wahren, gebundenen Wagner gegenüberzustellen – der wahre Wagner ist der Zauberer selber, und alle seine Schätze werden dem zufallen, der seine Zauberschrift zu lesen vermag, diese Runenstenographie der Leitmotive, welche die orphischen Siegel des bürgerlichen Zeitalters umschließt wie sonst vielleicht nur noch Manets Bilder. Nicht bloß, daß gleich aller großen Kunst Wagner die Region der großen Kunst übersteigt; daß seine Gewalt im Mitnehmen des sonst Abgeworfenen und Verbotenen, im Aufschließen intentionsloser, stumpfer Stoffmassen – gerade nämlich der mythischen – ihren Ursprung hat. Weiter noch als das Wagnis des Banalen und der Kolportage, das den nie gehörten Seesturm des Holländers entfesselt, treibt das des Gewählten, Einmaligen und Besonderen; das des Exzesses, als welchen Wagner selber einmal den Tristan bezeichnete; das des Artisten. Denn dessen Wahl ist stellvertretend. Nicht umsonst ist alle spätere Musik, keineswegs bloß die ›neudeutsche‹ und nachromantische, aus dem dunklen Tor des Tristan hervorgetreten. Die Emanzipation der Klänge vom System ihrer Stufen, die als Exzeß des Individuums im Tristan sich vollzog, hat die Musik sprengend befreit aus eben jenem Gehäuse individuellen Ausdrucks, darin der Alchimist seine Klänge bereitete; der Kontrapunkt, mit welchem er die Verästelungen der harmonischen Abfolge auskomponiert, ist frei geworden in den Melodiezügen der neuen Polyphonie; die Farben, die als Nuancen sein Werk beherrschen, haben sich verselbständigt bis zur Bildung von Klangfarbenmelodien, die aus ihrer Konstruktion sich schichten. Die zwangvolle Bewegung des Materials, die mit dem Tristan beginnt und aller Gegenwehr zum Trotz heute noch durchhält, ist mehr als ein intellektueller Geheimprozeß zwischen Ästheten; unausweichlich wird sie von jedem Takt gefordert, der seitdem sauber gefügt ist. Darin aber bewährt sie sich als eine gesellschaftliche, mag auch ihre Konsequenz dem Publikum von heute und hier nicht gegenwärtig sein. Die Erhellung der Welt aufsteigen zu lassen aus den Schächten ihrer unbewußten Tiefe; ihr treibendes Zukunftsbild im Schein; ihre endlich werdende Freiheit im Drang: dahin zielt Wagners Musik. Entmythologisierung in Kraft des Mythischen selber hat sie sich als Geheimnis ihres Artistenzaubers gewählt und bewährt sie unvergleichlich vollkommener als die Antithese von Schuld und Erlösung, an der sie ›weltanschaulich‹ sich orientiert und die ihren eigentlichen Gegenstand verzerrt nur spiegelt. Diesem Geheimnis Wagners, mit ihm der Bildermacht seines Werkes ist heute die Treue zu halten: mehr denn je zuvor.

 

1933

 

 

Wagner und Bayreuth

In Erinnerung an Wieland Wagner

 

Ursprünglich war meine Absicht, mehr oder minder den Vortrag über Wagners Aktualität zu wiederholen, den ich vor ein paar Jahren in Berlin bei den Festwochen improvisiert hatte und der dann im Bayreuther Programmheft abgedruckt wurde*. Davon ging ich ab, nicht nur, weil ich annehme, daß viele von Ihnen jenen Vortrag kennen, und weil ich mich ungern wiederhole, sondern auch deshalb, weil ich glaube, daß das Interesse in Ihrem Kreis doch ein wenig anders gelagert ist als das einer rein werkimmanenten Betrachtung.

Vorausschicken möchte ich, daß ich, wenn ich von Aktualität rede, nicht meine, man müsse, wie es heute vielfach, und freilich auch nicht zufällig geschieht, Werke aufpulvern, damit eine Generation, die dem emphatischen Anspruch von Kunst weitgehend entfremdet ist, nicht davonläuft. Keineswegs stelle ich mir oberflächliche Aktualisierung vor, sondern möchte nach dem gegenwärtigen Wahrheitsgehalt des Wagnerschen Werkes und der Aktualisierung solchen Wahrheitsgehaltes fragen. Ich stelle mir vor, daß Sie, oder wenigstens manche von Ihnen beunruhigt werden von der Frage, ob dies Bayreuth weiterbestehen soll und wozu es weiterbestehen soll, nachdem der Stil, mit dessen Konzeption Bayreuth so tief verbunden war, sich als problematisch erwiesen hat. Daß im Sinne der Orthodoxie, wie Frau Cosima sie vertreten hat, Bayreuth nicht fortzuführen sei, ist offenbar. Die gegenwärtige Praxis, für welche die beiden Enkel verantwortlich einstehen, hat das ausdrücklich ratifiziert. Man darf wohl sagen – und damit verleihe ich meinem Einverständnis Ausdruck –, daß sie gerade an der produktiven Kritik der Tradition ihr Wesen hat, aus der sie hervorgingen. Damit jedoch ist die Frage nach der Möglichkeit und Aktualität von Bayreuth nicht verschwunden, sondern eher geschärft worden. Solche, die noch etwas vom alten Bayreuth verspürt haben, werden leicht eine Praxis, die auf Wagners Aktualität abzielt, der Zerstörung seines Werkes gleichsetzen. Diese Ansicht teile ich nicht, sondern vertrete mit aller Entschiedenheit, daß es einer solchen Praxis wie der gegenwärtigen von Bayreuth um des Wagnerschen Werkes selbst willen aufs dringendste bedarf.

Dazu sei wenigstens an eine Reflexion erinnert, die seit meiner Jugend mich bestimmt. Werke sind nichts Unveränderliches. Ihr Wesentliches ist ihr geistiger Gehalt. Der aber ist etwas, was – in sich selbst eine Art geschichtliche Dynamik – Schicht um Schicht hervordringt, sich ändert, sich verschiebt, keineswegs auch indifferent ist gegen die reale Geschichte und gegen die reale Gesellschaft. Dieser Gehalt ist gewiß nicht abzulösen von dem, was fixiert ist, was dasteht. Aber er befindet sich doch in sehr komplexer, nicht einfach durch die Treue zum Buchstaben definierter Beziehung zum Geschriebenen. Die Kunst der wahren Interpretation gerade von historisch zurückliegenden Werken besteht nicht zum letzten darin, in etwas wie Wahrtraumdeuterei, wenn ich das Wagnersche Wort benutzen darf, auch das zur Erscheinung zu bringen, was sich in der inneren Zusammensetzung des Werkes geändert hat. Das Handgreiflichste dazu: ein bestimmter Aspekt kann vom Wagnerschen oeuvre nicht weggeleugnet werden, der des aggressiven Nationalismus und einer rassistisch getönten Elitetheorie. Nach dem Unausdenklichen, wozu diese geistigen Momente in der geistfernsten Realität sich entfaltet haben, sind jene Aspekte schlechterdings nicht mehr zu ertragen. Sobald man daran auch nur herumdiskutiert, betritt man eine Zone jenseits alles Ästhetischen, und frevelt durch ihre Ästhetisierung. Es gibt, im Allerernstesten, einen Vorrang der Realität vor der Kunst. Unvergeßlich ist mir, daß mir einer der bedeutendsten und leidenschaftlichsten Künstler der Epoche, Arnold Schönberg, in den ersten Monaten der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Berlin, als ich ihn mit musikalischen Fragen behelligte, mit großem Nachdruck sagte, in der Welt seien andere Dinge wichtiger als die Kunst. Da diese nichts in sich selbst Begrenztes ist, da sie über sich hinaus weist, tut sie nur dann ihrer eigenen Idee Genüge, wenn sie dessen eingedenk bleibt. Derlei Aspekte, über die viel zu reden ich Hemmungen verspüre, sind aber nicht isoliert, nicht ohne Narben wegzuoperieren. So etwa ist das Butzenscheibenhafte in den Meistersingern, eine gewisse Atmosphäre von Spitzwegheimeligkeit, tief verwandt der reaktionären Ideologie und heute noch dazu angetan, muffige Instinkte zu wecken. Aber ohne dies Ingrediens ist die großartige Phantasmagorie des zweiten Aktes sehr schwer vorzustellen. Ganz konsequent haben die Brüder Wagner das Heikelste angepackt und mit vollem Bewußtsein die Meistersinger gegen das inszeniert, was man als die subjektive Intention Wagners bezeichnen mag. Freilich ist die Möglichkeit eines solchen Umfunktionierens – so wenig eindeutig liegen solche Fragen – im Text Wagners ebenfalls enthalten. Der zweite Meistersinger-Akt enthält genug Zeichen dafür, daß er nicht nur das altertümliche Nürnberg verherrlichen, sondern auch kleinbürgerlich-sadistische Gehässigkeit denunzieren wollte. Schließlich nannte Wagners Sprecher Hans Sachs im Monolog des dritten Aktes das, was in der Nacht zuvor geschah und was man so leicht im Sinn fatal harmloser Freude an der süddeutschen Keilerei mitsamt ihren finsteren Implikationen mißversteht, Wahn und nichts anderes, blinde Befangenheit im Eigeninteresse. Unausweichlich danach die Frage, ob man die Meistersinger heute überhaupt aufführen soll. Aber die Meistersinger bleiben ein unwiderstehliches Meisterwerk, dessen Gewalt ebenso das Moment der Enge, der Kleinstadtidylle übersteigt, wie darin dem Nationalismus gehuldigt wird. Im Wagnerschen oeuvre behaupten die Meistersinger ihre einzigartige Position vor allem wegen ihres unendlichen Reichtums an Formen im Sinn immanenten Gegliedertseins, des lateinischen Formosus, das ›schön‹ bedeutet; der artikuliert gegeneinander abgesetzten musikalischen Charaktere und Profile, aus denen ein Ganzes sich baut. Anstelle des Gleitenden, des permanenten Übergangs, der das Gestaltungsprinzip so vieler Werke Wagners aus der reifen Zeit bildet, waltet bei allem großen Zug eine Technik glücklicher, rückhaltlos selbstvergessener Detailarbeit. Klänge es nicht kitschig, so könnte man von spätgotischer, rein-musikalischer Figurenfülle sprechen, wie sie dem Stoff gemäß ist. Von ihr geht jene Faszination aus, die Hans von Bülow, heroisch noch in den Tagen des äußersten Konflikts, zugestand. Man kann sich kaum damit abfinden, daß ein Werk dieser Eindringlichkeit, der noch der Widerstrebende nicht sich entziehen kann, wenn er auch nur den Klavierauszug durchspielt, dem Theater verloren sein soll, auf dem sie erst ganz frei wird. Um einer Wahrheit willen, die mehr ist, als was das Werk selber meint, ist es besser, es gleichsam in Brüchen aufzuführen, als gar nicht. Die Vorstellung, das Selbstverständnis eines Kunstwerks, also wie der Autor das Werk selbst auslegt, sei für es das letzte Maß, ist oberflächlich. Sie schätzt die Kunst zu gering ein. Große Kunstwerke – Hegel hat das besser als jeder andere erkannt – werden es dadurch, daß sie sich von ihrem Autor und dem von ihm Gemeinten und Gewollten ablösen, verselbständigen. Ihre Objektivität vermag auch gegen den Sinn des Autors sich durchzusetzen. Für wenige gilt das so sehr wie für Wagner.

Mit einer Aufführung in Brüchen meine ich nichts Willkürliches. Sie sind, als die Unmöglichkeit, das Werk nach dem Maß geschlossener Totalität vor Augen zu stellen, in ihm selber angelegt und treten allmählich hervor. Sachgerecht und aufrichtig gegenüber dem Werk ist es, seine Brüche auch zur Evidenz zu bringen. Ich kann mir nicht die Spekulation versagen, ob nicht gerade die geflissentlich bruchlose Form des Musikdramas als eines geschlossenen Kontinuums von Anbeginn ein Versuch war, das Brüchige zu überdecken. Die Wagnersche Ästhetik des permanenten Übergangs – er hat ja Komponieren bekanntlich als die Kunst des Übergangs definiert –, sein ›Stilwille‹ würde dazu sehr genau passen. Den Rang großer Gebilde macht es aus, daß in ihren Brüchen und Widersprüchen nicht weniger als in ihrem Gelingen der Wahrheitsgehalt sich manifestiert. Wagners Aktualität verwirklicht sich durch die Abweichung nicht nur von der Tradition, sondern möglicherweise auch von dem, was da geschrieben steht. Dabei möchte ich mich auf etwas sehr Einfaches berufen. Er hat im Musikdrama alle Dimensionen, vorab Drama, Musik und Theater, aber auch das visuelle Element einbezogen und wollte sie integrieren. Gerade in den Meistersingern, aber eigentlich schon im Tannhäuser, hat er die Arbeitsteilung als zünftlerisch verspottet, die schließlich auch in der Antithetik der Künste gegeneinander sich niederschlägt. Gleichwohl war er selbst das Kind künstlerischer Arbeitsteilung. In der Moderne, der er bereits sehr nachdrücklich angehörte, ist ihr, wenn man so will: der Spezialisierung, nicht zu entrinnen, auch wenn man ihres Fragwürdigen sich bewußt ist. Dafür hatte er den Zoll zu entrichten. Keineswegs waren alle Medien, derer er sich bediente, in ihm gleich substantiell. Heute kann kaum mehr ein Zweifel daran sein, daß seine primäre Kraft die musikalische war, allerdings versetzt mit jenem spezifisch gestischen Element, das seine musikalische Begabung von vornherein untrennbar ans Theater band. Wort und Szene werden von der Musik mitgerissen. Ich will nicht leugnen, daß auch die Dichtung Wagners großartige Augenblicke und Formulierungen kennt; manchmal antezipiert er die Sprache von Nietzsches Zarathustra. Durchweg jedoch ist die seine – und Sprache ist das entscheidende Organ alles Dichterischen – eher Vehikel; sie dient der Musik, bar jener Autonomie, welche die orthodoxe Bayreuther Ästhetik auch ihr zubilligte. Sie ist retrospektiv; literarisch, könnte man sagen, auf einem älteren nachromantischen Niveau fixiert, zurückgeblieben hinter dem Stand der musikalischen Entwicklung, der im Komponisten Wagner sich realisierte. Seine Sprache leidet an einem gewissen Mangel freier und sicherer Verfügung über ihr Material; die Stabreime sind ein archaistisches Surrogat, unvereinbar mit der musikalischen Chromatik. Hinzu kommen dramaturgische Mängel, die jedem Kenner des Rings geläufig sind. Erzählungen überwiegen oft die Aktion; vielfach wird allzu weit ausgeholt, und dann das Wichtigste wie in Hast erledigt. Vor allem aber krankt die Dichtung daran, daß ihr abgeht, was ich, um einen besseren Ausdruck verlegen, geschichtsphilosophischen Instinkt nennen möchte: an einer Naivetät, die hofft, ein kultisches, für ein ganzes Volk verbindliches Kunstwerk inmitten der hochkapitalistischen Gesellschaft aufrichten und ihm die Kräfte von Mythen zuführen zu können, die keine Verbindlichkeit mehr haben und unweigerlich in tönende Pseudomythologie ausarten. Die klügeren unter Wagners zeitgenössischen Kritikern haben das noch unbefangen gesehen, zumal solche aus dem jungen Deutschland, die ihm ursprünglich nahestanden; diese Einsicht ist dann durch die Gewalt und den Erfolg des Werkes in Vergessenheit geraten. Insgesamt eignet der Dichtung Wagners ein Moment verfallender, abgesunkener Romantik. Ihren geistigen Ort hat sie noch vor der neuromantischen Bewegung, die seine Musik bereits inaugurieren half.

Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang Ernest Newman nennen. Seine große Biographie Wagners bedürfte dringend der Übersetzung. Ich sage das nicht ohne Hintergedanken. Vielleicht finden sich in Ihrem Kreis Menschen, die doch bereit wären, den vier voluminösen Bänden endlich zur würdigen deutschen Erscheinung zu verhelfen. Er hat, aus seiner einzigartigen Kenntnis der Wagnerschen vita heraus, einmal bemerkt, Wagner habe überall dort, wo er wirklich zuständig, wenn Sie so wollen, Fachmann war, auch die verbindlichsten Einsichten gehabt, die bedeutendsten Erkenntnisse geäußert. Man braucht nur die Schrift über das Dirigieren oder über die Aufführung der Neunten Symphonie, oder die Bemerkungen über das cis-moll-Quartett von Beethoven zu lesen, um das bestätigt zu finden. Wo jedoch – auch darin möchte ich Newman folgen – Wagner vom Kern seiner Erfahrung sich entfernte, verfiel er leicht einem gewissen amateurhaften Drauflosdenken, gelegentlich dem Apokryphen. So hat er die Gibellinen, die Hohenstaufen, über Stock und über Stein mit den Nibelungen in legendären Zusammenhang zu bringen getrachtet. Gern hat er sich, wo Kenntnis und Erfahrung nicht ausreichten, mit geistigen Ersatzlösungen begnügt; ein Verhalten übrigens, das keineswegs auf ihn beschränkt ist, sondern das sich bei zahlreichen bedeutenden Musikern konstatieren läßt. Offenbar führt die höchste spezialistische, unabdingbar isolierte Steigerung der musikalischen Produktivkraft weg vom geistigen Gesamtbewußtsein der Epoche; die größten neueren Komponisten tendieren dazu, hartnäckig in die eigene Naivetät sich zu verbeißen. Hier nicht zuletzt wird man eine der Erklärungen für Wagners Antisemitismus suchen dürfen: durch ihn wähnte er das ihm undurchsichtige gesellschaftliche Getriebe durchschauen zu können.

In einem Brief an Frau Wesendonck schrieb er, zu dessen Genie bei allem Herrschaftsdrang auch eine außerordentliche Fähigkeit zu kritischer Selbstbesinnung gehörte, ihm gehe eigentlich die primäre Beziehung zur bildenden Kunst ab, Mathilde müsse für ihn mit ihren Augen sehen. Auf den selbstkritischen Aspekt an Wagner achtet man im allgemeinen viel zu wenig, obwohl er allein eine Entwicklung erklärt, die wie mit einem Sprung vom Rienzi zum Holländer führte und später, noch erstaunlicher, vom Lohengrin zum Ring. Man muß sich nur die ersten Skizzen zum Preislied ansehen, die, wenn ich mich recht erinnere, unmittelbar nach dem Lohengrin entstanden, um dessen innezuwerden, welcher Kraft der Selbstkritik es bedurfte, damit Wagner das musikalische Idiom entwickeln konnte, das dann zu dem des Tristan geworden ist. Kaum vorzustellen, was alles er an sich selbst verwerfen, was er an Eigenem hinter sich lassen mußte, um Wagner zu werden. Eben diese Kraft, eine dialektische zur Selbstnegation, unterscheidet ihn vielleicht am tiefsten und am radikalsten von seiner anderen Seite, dem sich selbst blind ins Recht setzen, die sonst an der Wagnerschen Ideologie so grell hervortritt.

Ihm war ein Moment der fortschreitenden, produktiven Reflexion eigentümlich. Aus ihr ist, glaube ich, ein Gesetz der Wagnerschen Aktualität herauszulesen. Man muß dort, wo sein wahrer Schwerpunkt, seine wahre Produktivität lag, also in der Darstellung der Musik, aufs gewissenhafteste und ehrfürchtigste seinen Anweisungen folgen; dort aber sich von ihm entfernen, unter Umständen rücksichtslos, wo er selbst von seinem Kern sich entfernte, wie ich es für den visuellen und auch poetischen Bereich andeutete. In den reifen Werken sollte kaum ein anderes als die Musik sakrosankt sein; gewiß nicht die veralteten szenischen Anweisungen. Nicht kann ich umhin, die Häresie auszusprechen, daß auch die Texte keine heiligen Texte sind. Das zeigt etwa der Meistersinger-Schluß. Manche von Ihnen, gerade auch solche, die durch eine tiefe Beziehung an Wagner gebunden sind und die Gewalt des Werkes in ihrer Jugend nachdrücklich erfahren haben, werden darüber chokiert sein. Aber ich glaube, daß die Besorgnis deswegen übertrieben ist. Das, was ich die peripheren Schichten Wagners nennen möchte; das, was von seinem Werk abzufallen beginnt, ist ja in den Partituren auf das genaueste verzeichnet und bleibt unverloren. Hält man aber diese Schichten in der Aufführungspraxis unverändert fest, so werden sie das am Werk wahrhaft Aktuelle in ihre Vergänglichkeit hineinreißen, es zum historischen Veralten verurteilen; dann wird man Wagner wirklich, nach der nächstliegenden Metapher, einen Bart wachsen lassen. Die Bart-Ästhetik dürfte ihm in Wirklichkeit sehr fremd gewesen sein. Wer einmal eine Photographie von Mathilde gesehen hat, weiß, wie verschieden sein Geschmack von jenen Typen war, über die selbst ein so orthodoxer Wagnerianer wie Pfitzner in der Arbeit über Bart und Bühne sich mokierte.

Will man dem an Wagner Aktuellen sich nähern, so ist das Problem seiner Wirkung auf das Publikum kaum zu umgehen. Sie war bis heute nicht eindeutig. Vielleicht ist das latent bei aller großen Musik der Fall, aber kaum bei einer so offenbar und in so krassen Widersprüchen wie bei ihm. Tatsächlich vom breiten Publikum musikalisch rezipiert, ins allgemeine Bewußtsein übergegangen sind wohl nur die Werke seiner Jugend bis zur Schwelle des Lohengrin, dieser allenfalls inbegriffen; dann aus der reifen Zeit einzelne als Glanznummern bestaunte Stücke, die in sich eine gewisse Geschlossenheit aufweisen und die man darum mühelos herausoperieren konnte, wie Winterstürme wichen dem Wonnemond, Wotans Abschied, Feuerzauber aus der Walküre, Am stillen Herd und das Preislied aus den Meistersingern oder der unter dem wahrhaft grausigen Titel Liebestod popularisierte Schlußgesang Isoldes. All das wird ungefähr so gehört wie der Abendstern, die teure Halle oder der Brautchor, ohne daß außerhalb des cénacle registriert wurde, daß der Formsinn dieser Stücke in großen Musikdramen vollkommen verschieden ist von dem der in sich fertigen, buchstäblich stückhaften Nummern aus den früheren, vorwagnerischen Opern. Es bedarf nur der flüchtigsten Kenntnis seiner Idee zur Einsicht, daß ihr diese Art Rezeption, die er selber nicht verhindern konnte und im Kampf um die Durchsetzung seines Werkes dulden mußte, entgegenläuft.

Weiter hat die Wagnersche Technik der wörtlich wiederholten oder sequenzierend fortgesponnenen Leitmotive diese den Hörern wie Erkennungsmarken eingehämmert. Sicherlich spielt in der Wagnerschen Wirkung eine gewisse Rolle der nicht allzu edle Stolz des Zuhörers, der das prompt und düster geblasene Fluchmotiv im Ring wiedererkennt, sobald wieder einmal irgendeine der Personen eines gewaltsamen Todes stirbt. Das Leitmotiv wird von dieser Art des Hörens wie im Hohn auf Wagner erniedrigt zum Effekt eines Kammerdieners alten Stils, der, damit auch alle Anwesenden erfahren, welcher Hochgeborene da hereintritt, seinen Namen laut ausruft. Das aber, worauf es Wagner bei der leitmotivischen Technik ankam, die Ausdehnung des symphonischen Prinzips auf das musikalische Theater, also die Entwicklung großer, in sich konsequent aufgebauter musikalischer Flächen, der die Leitmotive helfen und die sie sinnfällig machen wollen, wird demgegenüber von den Hörern immer noch gänzlich vernachlässigt. Dazu stimmt, und ist kaum Zufall, daß man das Problem der großen Form bei Wagner bis jetzt kaum zureichend anging. Die einzige Ausnahme ist das Werk von Alfred Lorenz. Ich möchte diesem heute schon wieder vergessenen Werk alle Verdienste zusprechen, die ihm gebühren: die einer Fragestellung, die vorher gänzlich verdeckt war. Andererseits aber hat Lorenz es sich mit seinen Formanalysen Wagners, der ja mit herkömmlichen Formen nichts zu tun hat, bei allem Fleiß zu leicht gemacht. Er entwarf mehr oder minder abstrakte architektonische Schemata, gleichsam graphische Grund- und Aufrisse wie die Barform oder die Bogenform; begriff nicht die musikalische Form als ein konkret Werdendes, Spezifisches und Lebendiges. Offen bleibt die allerdings überaus schwierige Frage, die nicht nur Wagner sondern die gesamte traditionelle Musik betrifft; ob das Moment des Mechanischen, das sich in den Darstellungen von Lorenz so bestürzend dokumentiert, wirklich bloß die Schuld des Betrachters sei, oder ob in der Sache selber sich auch etwas dergleichen finde. Ich deute das eben nur an.

Zu Wagners Zeit hatten die Hörer, auch die besten, wie Nietzsche, das Gefühl, bei der Musik und beim musikalischen Verlauf den Boden unter den Füßen zu verlieren, zu schwimmen. Das ist wohl das sicherste Symptom dessen, daß sie die Musik selber noch nicht hörend eingeholt hatten. Ich zweifle nicht daran, daß, wenn man Hörer methodisch befragte, und wenn es zuverlässige Mittel gäbe, musikalische Erfahrungen in anderen Menschen überhaupt zu erkennen, ähnliches auch heute noch zutage käme. Wagner wird also, um es zusammenzufassen, auf der einen Seite von den meisten atomistisch, nach einzelnen Motiven oder einzelnen Stücken gehört, auf der anderen mitschwimmend, passiv dösend, in einer Weise, welche die aktive Leistung der Konstruktion, der Form, vom Hörer aus gar nicht erst in Angriff nimmt.

Dieser letztere Aspekt nun hängt eng zusammen mit dem, was an Wagner psychologisch und sozial gewirkt hat, eben jenem Ideologischen, dem gleichsam sich an sich selbst Berauschen. Solche Wirkung ist um so stärker, je weniger das Ohr die Arbeit und Anstrengung genauen Erfassens leistet. Statt dessen überläßt es sich dem Rausch kollektiver Begeisterung fürs eigene, erweiterte Ich. Dann folgen jene leise oder gar nicht so leise unheimlichen und bedrohlichen Ausbrüche, wie ich sie einmal mit Schrecken nach einer Rienzi-Aufführung Anfang 1933 erlebte. Dem ist im Sinn von Wagners Aktualität entgegenzuarbeiten. Hört man ihn adäquat, angemessen; versteht man ihn lebendig, so widerstrebt das strikt dem Ideologischen, dem Pauken- und Trompetengedröhn, gegen das er selber das verdeckte Orchester von Bayreuth erfand. Das volle musikalische Verständnis Wagners, und das ist eigentlich die These, die ich Ihnen unterbreiten möchte, wäre eins mit seiner Entideologisierung.

Andererseits sind die Momente des Unverstandenen oder falsch Verstandenen an Wagner zugleich prototypisch für das, was man an der modernen, avancierten neuen Musik mißversteht und was so leicht die Menschen zur Wut aufreizt. Neue Musik wäre vermutlich erst dann voll und in einiger Breite zu verstehen, wenn das musikalische Verständnis Wagner voll eingeholt hätte. Man kann sagen, daß die neue Musik in ihren bedeutenden Repräsentanten insgesamt eine Gegenbewegung ist gegen das atomistische Hören, gegen eines, das an die Details sich verliert, ohne den strukturellen Zusammenhang des Ganzen wahrzunehmen. Sie verlangt Integration und Aktivität: das, was Wagner verlangt und was ihm im allgemeinen von den Hörern bis heute vorenthalten wird.

Ich nannte den Namen Alfred Lorenz. Von ihm existiert der zunächst verwegen klingende, aber einsichtsvolle Gedanke, der ideale Hörer müsse den gesamten Ring in einem Augenblick sich bis ins letzte Detail vergegenwärtigen können. Das umschreibt recht gut das Ideal der Integration durch den Hörer. Freilich, um sie zu ermöglichen, bedürfte es einer Aufführungspraxis, die gänzlich verschieden wäre von der traditionellen. Sie wird gerade von Wagner gefordert. Wichtig dafür sind, außer der Suspension der vorgegebenen Formschemata, die er vollzog, auch die exzessiven Dimensionen vieler einzelner Akte der reifen Musikdramen. Sie gemeinsam mit dem Zwang, sich ganz dem jeweils musikalisch sich Ereignenden zu überlassen, gleichsam ohne Stütze an Außenarchitektur, haben das fatale Mißverständnis auch Nietzsches gezeitigt, Wagner sei formlos. Kein Vorwurf gegen ihn war ungerechter als dieser. Autonome, spezifisch aus den Ereignissen erwachsende Form zu hören, fällt darum immer noch so schwer, weil an jener exponiertesten Stelle die Rezeption Wagners scheiterte. Die Unfähigkeit dazu bewirkt mehr an Widerstand als die viel bemerkten harmonischen Kühnheiten mancher Partien vor allem im Tristan, in der Götterdämmerung und im Parsifal. Wagner war, trotz seiner romantisch-retrospektiven Seite, musikalisch der Prototyp von Moderne, ähnlich wie Baudelaire, mit dem er befreundet war, literarisch es gewesen ist. Die Riesendimensionen, von denen ich sprach, werden aber zur Form nur, indem man sie zusammenhört, als eines hört, wie es das Wort von Lorenz indiziert. Dies Zusammenhören der Teile als eines Ganzen hängt davon ab, daß man alle Momente des Zusammenhangs erfaßt, also etwa die aufsteigende, ungebrochene Kurve des ersten Aktes der Walküre durch die Gliederung hindurch wahrnimmt. Ich habe an diesem Aspekt die geschichtlichen Veränderungen Wagners sozusagen am eigenen Leibe erfahren. Als Kind, ich glaube während des ersten Weltkrieges, hörte ich die Walküre unter Nikisch. Die Aufführung ist mir unvergeßlich. Sie schien mir eine Folge von Explosionen. Zum Bewußtsein der Einheit, der großen Kurve ließ sie es überhaupt nicht kommen. Jedenfalls empfing ich damals den Eindruck eines großartig zerrissenen Gebildes, nicht eines bruchlosen Bogens. Vor ein paar Jahren nun führte Georg Solti die Walküre in Frankfurt auf. Einige von Ihnen werden sich gewiß daran besinnen, wie unter ihm der erste Akt tatsächlich als ungebrochen sich steigernder, gleichsam durchlaufender Satz sich darstellte. Die Aktualisierung Wagners besteht in Wahrheit kaum in etwas anderem als darin, solche Strukturveränderungen, die sich in dem sich entfaltenden Werk selber abgespielt haben, auch durch die Interpretation zu treffen.

Hans Gál hat mir vorgeworfen, ich hätte Wagner fälschlich für die moderne Musik reklamiert. Er tat mir Unrecht, denn ich habe gerade das Janusköpfige an Wagner aufs stärkste hervorgehoben: daß zwar alles bei ihm nach der traditionellen Musiktheorie zu erklären ist, daß aber die Konsequenz der radikalen Durchbildung eines nicht von oben her Gedeckten aus der Sache heraus gezogen wird. Dadurch ist Wagner zugleich Fleisch von unserem Fleisch, moderner Komponist in sehr belastetem Sinn. Ich erwähne nur die innere Vorherrschaft der Dissonanz, weiter die Emanzipation und dann Reintegration der Farbe. Die moderne Musik hat derlei Züge bis zum Extrem getrieben. Schönberg, der, wie allgemein bekannt und mit Wonne wiedergekäut, vom Wagnerschen Idiom ausging, ist dem im Wagnerschen Idiom selber schon vorhandenen Potential rückhaltlos nachgegangen. Überwiegt etwa bei Wagner die Dissonanz, wird ihre Auflösung oft unbetont, fast zur konventionellen Nebensache, einem vorkompositorisch Selbstverständlichen, so hat Schönberg, mit einem der entscheidenden Schritte zur neuen Musik, auf die Auflösung ganz verzichtet, wie übrigens Wagner selbst an einigen der nachdrücklichsten Stellen, am Ende des Parsifal-Vorspiels oder in der Harmonisierung des Kundry-Motivs, verfuhr. Seine wichtigsten Neuerungen aber galten wohl dem Problem der Farbe, also des Orchesterklangs. Nicht nur ist bei ihm zum ersten Mal die Farbvorstellung ebenso zur eigenständigen Dimension der Musik geworden wie vorher Melodie, Harmonie, Kontrapunkt es waren. Sondern das Bedürfnis nach Artikulationsmitteln, als die schematischen der älteren Oper ausgeschieden waren, trieb ihn dazu, die Farbe als konstruktives Mittel zu verwenden. Sie wird bei ihm formbildend; er hat die emanzipierten Klänge aufs neue, in einer vor ihm ganz ungeahnten Weise, integriert zu einem ebenso differenzierten wie sprunglosen Klangspiegel. So ließe der gesamte Aufbau des Siegfried, eines in Wahrheit unbekannten, aber kompositorisch höchst wichtigen Werkes, als Farbkonstruktion sich erweisen. Vielleicht bringt einmal jemand den Fleiß und die Phantasie auf, das im einzelnen darzutun. Die Objektivität großer Gegenstände wird nicht dadurch erkannt, daß man stumpfsinnig registriert, was darin vorliegt, sondern vermöge der Phantasiekraft sie anders sieht, als die Konvention es will.

Diejenigen, welche die neue Musik als angeblich vollkommenen Bruch mit der Tradition ächten und die unerträgliche Standardfrage ›Ist das noch Musik?‹ nachplappern, könnten an Wagner lernen, wie tief dies, was sie befremdet, geschichtlich entsprang. In ihm ist es präformiert; er hat Probleme des Komponierens, die damals durch die tonalen Mittel noch zugedeckt waren, aufgerissen. Die gesamte neue Musik, soweit sie radikal und nicht kompromißlerisch, neoklassizistisch ist, trat aus Richard Wagner hervor; ihre Sphäre ist die seine.

Lassen Sie mich unter diesem Gesichtspunkt zurückkommen auf das Phänomen des Schwimmens, des den Boden unter den Füßen Verlierens. Es verhält sich damit kompliziert. Auf der einen Seite muß man jenes Gefühls, als eines der Desorientiertheit, sicherlich ledig werden; anstatt nach einem vorgegebenen musikalischen Gerüst auszulugen, wirklich von Sekunde zu Sekunde mithören, mitspringen, wenn Sie wollen auch mitschwimmen. Die Wagnersche Chromatik und Sequenztechnik verlangt geradezu diesen Typus der Apperzeption: ein Gleiten im Zeitkontinuum. Von der Form her gesehen, erfüllen jene Elemente die Funktion, durch möglichst dichte, fugenlose Verbindung von Augenblick zu Augenblick zu ersetzen, was als Organisationsprinzip des Idioms, an alten Arien, Duetten, Ensembles und Finali wegfiel. Andererseits aber ist jenes Gefühl des Schwebenden, Bodenlosen, Ungedeckten, der Ausdruck des Verlassens abgezirkelter Formbereiche, selber auch eminent produktiv. Bei Wagner hat sich die Musik buchstäblich freigeschwommen. Die Wahrnehmung dessen wäre nicht zu bekämpfen, sondern das Hören müßte lernen, ihr sich zu überlassen, ohne sich selber dabei zu verlieren. Wie in der Dichtung von Poe und Baudelaire gleicht in Wagner das Neue dem Schauer des abgründig Offenen. Schwindelt einem bei Wagner, so soll einem auch schwindeln. Von ihm geht ein Baudelairescher goût du néant aus; die gleichsam positive Erfahrung des Nichts haust im Zentrum des Tristan. Zum Zukunftsträchtigsten und zu Errettenden in Wagner zählt eben das, was Nietzsche und andere an ihm als dekadent angriffen. Die Züge, die Nietzsche mit gutem Instinkt und altmodischem Ohr Nihilismus schalt, sind an Wagner aktueller als alles andere. Erst ein Hörer, der ihnen gewachsen wäre, und eine Aufführungspraxis, die sie realisierte, würden ihm gerecht. Worum es dabei geht, das überschattet auch in der gegenwärtigen Dichtung alles andere. Jener Gehalt stünde im äußersten Gegensatz zum schlecht Positiven, zur Kaisermarschsphäre, in der ja nicht nur der Kaisermarsch dröhnt.

Die unerledigte Spannung zwischen der Moderne und der retrospektiven Wilhelminischen Nachromantik in Wagner wäre aufzuheben nur durch verändernde Wiedergabe. Sie allerdings würde auch, und damit gehe ich über das eingangs Gesagte hinaus, die Musik tangieren. Ihre Darstellung müßte aufs Monumentale verzichten, sie müßte durchsichtig werden, damit das innere Gewebe, vor allem auch die bei Wagner unendlich wichtige Führung der Nebenstimmen auffaßbar wird. Weiter wären raschere Tempi zu wählen als die üblichen, Gegenmittel gegen jene Dickflüssigkeit, welche die Wagnerianer älteren Stils offenbar so sehr goutierten. Sie allein trügen auch der Veränderung des musikalischen Zeitbewußtseins Rechnung. Was man rascher auffassen kann als vor hundert Jahren, gleichsam mit einem einzigen akustischen Blick, das muß auch rascher gespielt werden. Das wird dazu helfen, bei den Wagnerschen Dimensionen nicht zu ermüden. Überdies wird durch raschere Tempi strukturell vieles Divergente zusammengerafft und dadurch strukturelles Hören gefördert. Neuerungen können und müssen demnach Widersprüche riskieren zu dem, was an musikalischen Bezeichnungen bei Wagner selber steht. Auch davor würde ich nicht zurückschrecken.

Mit all dem wird die Aktualität Wagners in Proportion gerückt zu einem freilich sehr hoch und nachdrücklich verstandenen Begriff musikalischer Pädagogik: der Bildung der Hörer zu künstlerischer Mündigkeit. Daß Wagner durch Bayreuth das deutsche Volk zu seinen Idealen, einer Art von Religionsersatz erziehen wollte, war ideologisch. Nicht ideologisch aber der Gegensatz seiner Musik zu dem herrschenden Musikbetrieb seiner Tage. Diesem gegenüber hat er verändertes musikalisches Bewußtsein verlangt, inauguriert und durch Pläne einer Stilbildungsschule versucht, praktisch darauf hinzuarbeiten. Der Gegensatz zum Betrieb aber, in dem er bereits sich wußte, ist heute durch die Kulturindustrie ins Unmäßige angewachsen. Um so dringender bedarf es der Anstrengung zu konkreter musikalischer Bildung, für welche der Name Bayreuth steht. Ich hoffe, niemanden zu verletzen, wenn ich ausspreche, was ich jüngst aufs empfindlichste spürte, als ich für eine Radiosendung zahlreiche musikalische Interpretationen der verschiedensten Art durchging: fast allen haftete das Stigma der Unzulänglichkeit an, aus Gründen, die gar nicht so sehr in der individuellen Schwäche der einzelnen Künstler zu suchen sind wie in gesellschaftlichen Bedingungen. Vorab denke ich dabei an das Dilemma zwischen dem aufgeputschten Stagionetheater auf der einen Seite und dem an Kargheit der Mittel krankenden, zuweilen auch erstarrten Betrieb der festen Opernhäuser. Die Bayreuther Idee vermöchte dieser fatalen Alternative entgegenzuwirken. In Bayreuth kann man sich die gründlichste, auch nicht mit der Zeit geizende Vorbereitung gestatten, wie zuweilen in besseren Tagen an städtischen Bühnen. Orchester und Ensemble können integriert werden. Diese singuläre Möglichkeit wiederum weckt kritisches, von der Routine freies, gleichsam aus dem Ausnahmezustand der Stagione inspiriertes Musizieren und künstlerisches Denken. Das außerordentliche Prestige, das sich stets noch und wieder mit Bayreuth verbindet, dürfte es gestatten, auch Mitwirkende zu finden, die bereit sind, einmal für ein paar Monate nicht jeden Tag nach Tokio oder San Francisco zu fliegen. Bayreuth könnte zum Mikrokosmos einer möglichen, aber durch tausend zumal soziale und ökonomische Motive verhinderten musikalischen Praxis werden; zum Modell dessen, wie musikalisches Theater gehandhabt werden sollte, damit es nicht kindisch hinter der Zeit herläuft, sei es als Mekka für Kleinbürger, die sich nach der Vergangenheit sehnen, sei es als angestrahlte Stätte des Fremdenverkehrs. Insofern ist die Aktualität Wagners von der Aktualität Bayreuths nicht zu trennen: die einer Enklave inmitten der allherrschenden Tradition von Schlamperei. Ihr gegenüber müßte Bayreuth das an Tradition verkörpern, was bewahrt werden soll, den ästhetischen Ernst.

Das allerdings ist nicht zu sondern von dem, was Wagner selbst einmal in einer Bayreuther Ansprache, jovial von oben herab, mit den Worten: »Kinder, schafft Neues« ausdrückte. In der Konzeption von Bayreuth durch ihren Begründer, der einer Schule der Moderne, liegt, wenn ich dies »Kinder, schafft Neues« richtig verstehe, oder wenn ich mir etwas zu extrapolieren gestatten darf, daß Bayreuth sich auf die Dauer nicht auf die Werke Wagners allein ritualistisch beschränkt, sondern wirklich bedeutenden späteren und zeitgenössischen Kompositionen sich öffnet und ihnen die volle Chance bietet. Dadurch könnte wohl auch das beschädigte Verhältnis zwischen zeitgenössischer Oper und Publikum verändert werden: sobald nämlich das Publikum endlich einmal authentische Aufführungen moderner Werke hörte und unter der Autorität von Bayreuth es sich abgewöhnte, die Oper als Museum abgestandener Emotionen und Kulturwerte zu genießen, die längst keine mehr sind. In diesem Sinn erwarte ich mir von Bayreuth eine eminent fruchtbare Wirkung. Ich weiß, daß manche von Ihnen zur musikalischen Moderne und damit auch zu manchem von dem, was ich ungeschminkt und provokativ formuliert habe, skeptisch sich verhalten. Auch an Sie möchte ich appellieren: ergreifen Sie in der Tradition, die Bayreuth heißt, ihr modernes Potential und helfen Sie diesem Potential, ohne Fesseln sich zu entfalten. Tradition heißt legitimerweise: genaueste und treueste Kenntnis der Details. Viele sind unter Ihnen, die über solche Kenntnis, die verloren zu gehen droht, noch verfügen. Ihrer bedarf es gegenüber dem Vagen und Unverbindlichen der universalen Halbbildung, damit das Werk Wagners selbst sich verbindlich aktualisiere.

 

1966

 

 
Fußnoten

* Vgl. jetzt GS 16, s. S. 543ff.

 

Mahler heute

 

Das gegenwärtig herrschende Bewußtsein steht zu Mahler schief. Galt seine Symphonik vor zwanzig Jahren als Kolossalgemälde einer Zukunftsmusik, die das Auge des bürgerlich Einzelnen nicht zu umfassen vermochte; als Wagnis eines besessen fortschrittlichen Programmatikers, dessen Wollen und Vollbringen, nach der marktgängigen Phrase, nicht übereinstimmten – heute drückt man sich an Mahlers oeuvre eilends vorbei und behauptet, man habe es längst hinter sich gelassen, während man sich nur beeilt, es nicht allzu genau anzuschauen. Den man als Nutznießer von Autohupen und Sirenen höhnte gleich einem vorwitzigen Dadaisten, der ist heute den ältesten Konservatorianern nicht mehr sachlich genug und jedes bessere musikhistorische Seminar fühlt sich moderner als er, indem es seine Begriffe von Bewegungsspiel und Ablaufmusik, von vorklassischer und neuklassischer Polyphonie hersagt. Keine Romantik, auch die Pfitzners nicht, hat man so behend überwunden wie die Mahlers, von der doch noch nicht einmal feststeht, ob sie eigentlich romantisch ist. Daß ein Werk unmodern geworden, ehe es richtig modern war, genügte freilich allein nicht, zu belegen, daß die Menschen sich falsch dazu verhalten, obwohl immerhin im analogen Fall Schönbergs, den man solange als einsamen Propheten in die Zukunft abschob, bis man meinte, ihn als einsamen Artisten überholt zu haben – obwohl in diesem tief analogen Fall der reaktionäre Trick sehr durchsichtig ist und nahelegt, in der Zeitstimmung gegen Mahler verwandte Motive zu vermuten, wie denn ganze Gruppen von Formeln dem Kampf gegen Schönberg und gegen Mahler gemeinsam sind: der jüdische Intellektuelle, der mit wurzellosem Geist die ach so gute Natur verdirbt; der Destruktor ehrwürdig traditionaler Musikgüter, die sei es banalisiert, sei es schlechthin zersetzt werden; der abstrakte Fanatiker, der mit jenem von Riemann entdeckten Willen, »Unerhörtes zu leisten«, die schöne grüne Weide rings herum verbrennt, auf der es den anderen so wohl zumute ist: all dies wird gegen Mahler wie Schönberg vorgebracht, als ob nicht schließlich zwischen ihnen der radikale dialektische Bruch der neueren Musik liege. Allein, wie immer es sich mit der geschlossenen Abwehrfront gegen die gründlich verschiedenen Häupter der Wiener Schule verhält – die wilde Schlagkraft jeder Mahler-Symphonie, die ein Publikum unvermittelt zwingt, das sich zu Heldenleben und Domestica fühlbar distanziert; der Choc, der stets wieder von Mahler ausgeht, während seine Zeitgenossen allesamt fatal durchsichtig sind; das unentzifferte Geheimnis, das kompositorisch seine Musik von jeder anderen der Spätromantik, des Neudeutschtums und des Impressionismus fernhält, lassen die modische Aversion gegen Mahler als sachlich inadäquat erkennen und deren Konsequenz, der die reale Wirkung widerstreitet, als absichtsvoll ideologisch. Mahler ist nicht überwunden: er ist verdrängt. Die bürgerliche Musikkultur der Vorkriegswelt hat sich neu statuiert und scheidet strikt aus, was ihrem mittleren Frieden nicht gemäß ist. Was sich nicht einfügt, gilt als verrückt und esoterisch oder als banal und Kitsch. Aber gerade eine Situation, die die sprengende Produktivkraft von Musik vergraben möchte, ist reif, nach ihren Extremen gemessen zu werden. Heute entscheidet, was oberhalb der Immanenz des Musiklebens in Schönbergs Sphäre geschieht oder unterhalb jener Immanenz in der tiefsten Depravation. Die echte Aktualität Mahlers, die zu entdecken ist, liegt eben in der Gewalt, mit der er aus jenem Musikraum ausbrach, der ihn heute vergessen will. Freilich ist der Ausbruch Mahlers aus dem bürgerlichen Musikraum nicht eindeutig und kann wahrhaft verstanden werden nur aus der Dialektik zu dem, wovon er abstieß; nicht als Flucht. Mahler ist kein Gauguin gewesen und hat sich kein Tahiti gesucht, obwohl der Exotismus des Liedes von der Erde, der so disparat zu allem früheren Mahler steht, unvergleichlich viel realere Gründe hat als Neigung zu impressionistischen Valeurs, die in der kompositorischen Entwicklung Mahlers keinen Ort hätten und als Valeurs auch im Lied von der Erde nicht vorkommen, dessen Pentatonik ja durchaus im Sinne konstruktiver Grundgestalten verarbeitet und als Reizmittel unfühlbar gemacht wird. Wie Fichten und Bach des Liedes von der Erde der südtiroler Landschaft zugehören, das seit Schubert als einziges Lied die Erde ergreift; wie selbst die Lasuren des Porzellans darin aus dem Kontrast der roten Berge und der dichten Bläue des Himmels könnten gewonnen sein, deren nachmittägliche Begegnung das spröde Geschirr bewahren möchte: so haftet jeder Blick aus Mahlers schauender, erkennender Musik an der Welt, die er schmerzlich übersteigt. Das sagt vor allem, daß Mahler die Geschlossenheit eben der Musik erretten wollte, von der er Abschied nahm. Man hat immer wieder die Unangemessenheit bemerkt, die in seinem Werk zwischen der einsamen Subjektivität und ihrer objektiven Sprache waltet; an der gewollten Einfachheit sich gestoßen, grelle Ironie und zweideutiges Sentiment als Stigmata von Manier genommen. So wenig eine Kunst durch den Begriff der Manier insgesamt gerichtet wird, so wenig Mahler durch den psychologischen Aufweis typischer Formeln, die er als Vokabeln seiner Affektsprache ausbildete. Wenn vielleicht überall dort Manier in Kunst auftritt, wo die objektiven Bilder den Menschen derart überwältigen, daß ihm das Recht ihrer subjektiven Formung schwindet und daß er statt dessen sie durch Wiederholung und Benennung zu halten trachtet, dann hat gewiß die herkömmlich bemängelte ›Problematik‹ Mahlers und alle Maniermomente seiner Form ihren Grund in objektiver Konstellation. Seine Konstellation ist von der Art, daß er die Rettung des Formkosmos der abendländischen Musik versucht, indem er die Trümmer von dessen niedrigster Schicht mit ihren obersten Wahrheitsgehalten zusammendenkt. Ihm ist das verworfene Wesen unterhalb der Form der Ort, an dem allein die wahren Bilder bewahrt werden, die die Form vergebens anredet; er nimmt sie mit, wie man Scherben am Weg mitnimmt, deren zersetzte Masse die Sonne spiegelt, wie es der wohlerhaltene und gefüllte Suppentopf kaum vermöchte. Nicht dumpfe pantheistische Liebe zu Kreatur und Natur, nicht romantische Rückbewegung zur verlorenen Einfalt ereignet sich in Mahlers Werk, wenn es sich zum Unteren hinabneigt, vielmehr: er sucht die oberen Gehalte in ihrem Sturz durch die Geschichte dort auf, wo sie ihm jetzt und hier erscheinen. Die Trümmer des mittleren, geformten Musikwesens sind ihm transparent zu den Gestirnen, die ehemals jenes Musikwesen überstrahlten. Seine Neigung zu Dostojewskij hat ihren Grund nicht in vag mitleidiger Seelenstimmung, sondern in Erkenntnis und Form des Werkes. Sein Werk ist zentriert um den Indifferenzpunkt des Oberen und Unteren; der theologischen Bilder und der verlorenen, gänzlich scheinhaften Profanation. Ihre Indifferenz sieht er in der Totalität eines geschlossenen und umspannenden Werkes und in ihm eben meint er die Formimmanenz des 19. Jahrhunderts zu erhalten. Er stellt nicht die Extreme hin, aus ihrer Figur den gemeinsamen Sinn zu konstruieren, er biegt sie gewalttätig zusammen, daß sie sich durchdringen. Das ist mit der Dynamik Mahlers gemeint, mit dem Pathos, das so ungebärdig Lied und Tanz und Folklore vorbringt, mit dem schluchzenden, fessellosen Überschwang; mit der unaufhörlich frischen Improvisation. Die Unterwelt der Musik wird gegen die schwindende Gestirnwelt mobilisiert, daß sie ergriffen werde und leibhaft unter den Menschen sei. Großartiges Paradoxon Mahlers: die gleiche Dynamik, die die Extreme zur Formtotalität binden will, sprengt unvermittelt die Sphäre von Kunst selber und wird zum Bildersturm, der die eroberten Bilder in die gegenwärtige menschliche Wirklichkeit zwingen möchte. Hier enthüllt sich die Achte Symphonie. Daß man ohne Gemeinde und mit gänzlich disqualifiziertem Material keine Kathedrale bauen kann, merkt jeder Esel, wie nach Brahmsens Wort jeder Esel die Ähnlichkeit des Finalthemas seiner Ersten Symphonie mit dem von Beethovens Neunter hört, die ja beide um des gleichen Bildersturmes willen gewagt wurden, dem später Mahlers atemlose Symphonik bis zur letzten fiebrigen Note gilt. Aber wenn einer auf der Stelle, die der Kathedrale bestimmt ist und in deren Dimensionen ein gewaltiges Zeltlager der Revolte errichtet, darin Predigt und Chor und Orgel die Menschen zum Sturm überredet, dann sollte keine Baupolizei sich in die Nähe getrauen und im Auftrag des Hochbauamtes aus geschmacklichen Gründen Einspruch erheben. Mahlers ecclesia militans ist eine Heilsarmee, besser als die wirkliche; nicht kleinbürgerlich gemäßigt, nicht retrospektiv bekehrend, sondern gewillt, die Unterdrückten zum richtigen Kampf aufzurufen um das, worum sie betrogen sind und was doch allein nur noch ihnen erreichbar ist. Die Sprache, in der Organisation und Disziplin jener Armee benannt wird, ist nicht schlecht, weil sie vergangen und gestürzt ist. Sondern weil sie vergangen und schlecht und gestürzt, deshalb ist ihr die Macht der Organisation und Disziplin gegeben. Es ist keine Zeichensprache, sondern eine von Parole und Kommando; nicht zufällig sind Hornsignale ihre liebsten Worte. So ist es um Mahlers Romantik bestellt. Mit Romantik ist bei Mahler nicht mehr ausgemacht, als wenn man dem Sozialismus Romantik vorwirft; allenfalls nämlich der historisch-dialektische Ursprung. Aber Utopie hört auf romantisch zu sein, sobald sie die Produktivkraft des Unteren wirklich in die Gewalt nimmt.

Es ist die Aufgabe kommender Formanalysen und zumal kommender Aufführungen der Musik Mahlers, all dies an den Sachen herauszustellen. Denn darin eben unterscheidet sich Mahler radikal von der Romantik, daß nicht an Stelle von Gehalten Ideologien frei über seinem Werke schweben, um die es sich müht, sondern daß das objektiv mit ihm Gemeinte vollständig im Material realisiert ist. Verdeckt war es durch die Bedingungen der Ursprungszeit, in der es auftrat. Schönberg hat das Mahlersche Espressivo im weitesten Sinne, bis zu den programmatischen Rahmen der Symphonien, großartig geschichtsphilosophisch interpretiert: als Mittel, das fremd Begegnende faßlich zu machen. So verhält es sich in der Tat; die Deutungen der Sätze, die so variieren, daß man auf gedruckten Erklärungen des öfteren die der Zweiten und Dritten Symphonie vertauscht finden kann und nie recht weiß, wann eigentlich die Natur aus ihrer Winterstarre erwacht und was sich die Tiere zu erzählen haben, diese Deutungen und die charakterisierenden Vortragsbezeichnungen sind nicht qualitativ verschieden von den unvergleichlich viel wichtigeren musikalischen Bezeichnungen, die die Plastik und Faßlichkeit des Vortrages sicher stellen sollen; das Schönbergsche System der Haupt- und Nebenstimmenbezeichnungen, heute Index strengster Konstruktion, ist im Mahlerschen »hervortretend« und »zurücktretend« vorgedacht, und Faßlichkeit ist geradezu das Prinzip der Mahlerschen Instrumentation, wodurch sie sich von dem homogeneren und diffuseren Gruppenklang der Spätromantik, zumal Straussens, so scharf abhebt. Allerdings wäre es verfehlt, Mahler, wie man ihn bislang der Romantik blank zuordnete, nun von ihr blank zu sondern, während er ihr doch eben dialektisch verbunden bleibt. Sein Werk will in Schichten verstanden werden. Die äußere, mit der es sich schützte und die ihm wohl auch aus der Ursprungszeit zuwuchs, kommuniziert mit der Romantik; jene Beziehungen sind bis zum Überdruß erörtert. Die Form Mahlers resultiert aus der Auseinandersetzung seiner Substanz mit jener romantischen Schicht, die ihm, immerhin, noch Garantie der Objektivität bedeuten mochte, bis sie vor dem furchtbaren Ernst der letzten Werke endlich zerfiel. Als Oberfläche ist uns die romantische Schicht durch die Zeit verfallen, die für Mahler seit seinem Tode ein ähnliches tat, wie er selber im bewußten Gange der Entwicklung intendierte. So erscheint uns bereits das Verhältnis von Einzelthema und symphonischer Form, das ›Problem‹ Mahlers für die übliche Betrachtungsweise, sehr verändert. Es hat guten Sinn, daß Mahlers Themen keine Symphoniethemen sind derart, wie immer man den Begriff des symphonischen Themas von Beethoven herleiten möchte; daß sie nämlich nicht in symmetrischen Verhältnissen von Motiven angelegt sind. Stürzte die Objektivität des Beethovenschen Symphoniethemas durch die Subjektivität des Liedes, wie sie bei Wagner begegnet, der vergebens subjektiv einmalige Liedzellen zu objektivieren trachtet, ohne ihre Einmaligkeit angreifen zu können, so daß er sie sequenzierend wiederholen muß, so erfaßt Mahler diese Liedthematik dort, wo sie selbst sequenzierend nicht mehr gehalten werden kann: wo sie in der Ungebundenheit der Improvisation aus jeder Formimmanenz herausfällt. Es ist eine archaische Banalität, die er findet, sie liegt noch vor der Konstitution der harmonisch-symmetrischen Verhältnisse und zersetzt sie. Großartig schlägt die Mahlersche Dynamik in diesen Themen durch, indem sie ›offen‹ bleiben; weder also wird aus ihnen die Form durch wiederholende Motivarbeit gebildet, noch werden sie statisch – wie in folkloristischen Versuchen – nebeneinander aufgereiht; ihre Grenzen gegeneinander sind weggenommen, eines folgt aus dem anderen in unaufhörlich frischer Produktion. Damit ist keineswegs die Motivarbeit fortgefallen. Im Gegenteil, der inkommensurablen Themenproduktion Mahlers liegen stets fast Motivzusammenhänge zugrunde, die gelegentlich, in der Sechsten und im Lied von der Erde, faßlich werden. Aber die Motivzusammenhänge sind meist latent: sind nicht Prinzipien der Architektur, sondern Zellen, aus denen die Totalität erwächst, ohne daß sie je nach dem abstrakten Maß der Totalität konstruiert wären. Das Prinzip der Grundgestalt als der latenten thematischen Einheit, die im Oberflächenzusammenhang des Ganzen kaum je aufgedeckt wird, zuweilen nur durchschimmert: dies Konstruktionsprinzip, das das Recht der vorgegebenen Formoberfläche erst wahrhaft gebrochen hat, ist bei Mahler bereits wesentlich ausgebildet und hier, nicht im Harmonischen oder Melodischen oder Instrumentalen, auch nicht in einer legendären Leichtverständlichkeit, die es bei Mahler ja doch nur mißverständlich gibt, liegt seine echte Aktualität beschlossen. Hier auch liegt seine wahrhafte Berührung mit Schönberg: an völlig verschiedenem Material haben beide – Mahler am archaisch zersetzten der Romantik, Schönberg am dialektisch vorwärts getriebenen – die gleichen Intentionen der Formbildung entwickelt; beide im Protest gegen die bürgerliche Formsymmetrie, der beide die freien Konturen der frisch betretenen Phantasielandschaft entgegenstellen. Beiden ist denn auch, als dialektisches Mittel, vom Vorgegebenen ins Unbetretene einzudringen, die Variationstechnik gemeinsam. Ist sie bei Schönberg Moment der Durchführung, das allmählich die gesamte Form sich unterwirft, so erwächst sie bei Mahler als Mittel strophischer Monodie aus dem Lied, tilgt aber rasch genug die Strophengrenzen und fügt die Themenkomplexe aneinander, die wie Dörfer nach unbekanntem Plan zur großen Stadt zusammenschießen. Mahlers Variieren ist die unfixierbare Regel der dynamischen Improvisation. Sie zieht alle Formschemata in sich hinein; im ersten Satz der Dritten sind Introduktion und Exposition doppeldeutig gegeneinander, bleiben es in der doppelten Durchführung und der Reprise; in der Vierten maskiert sich die Reprise variierend hinter der Durchführung; die Fünfte hat kraft des Variationsprinzips gleichsam zwei erste Sätze und löst das symphonische Beginnen ins Nebeneinander zweier dynamischer Komplexe auf, die wie zwei in der Zeit zerlegte Kontrapunkte zueinander stehen. Das Finale der Sechsten, wohl das gewaltigste Formwesen aus Mahlers Reich, schmilzt endlich die Formkruste, die der erste Satz dialektisch gehärtet hatte, wie wenn ganze Länderregionen vulkanisch erglühten und ihre Siedlungen in einem Feuerstrom ineinanderstürzten; der Marschrhythmus wird zum Signal der Katastrophe und der tragische Ausdruck des Satzes – wer wird je die Halbendezimen aus den Ohren verlieren, die das Hauptthema fortsetzen – rechtfertigt sich aus der Form selber; hier wird nichts von ewiger Liebe und Auferstehung einer verblasenen Allnatur erzählt, sondern vom Ende der symphonischen Sonate oder, um das intentionale Objekt beim rechten Namen zu nennen, vom Ende der Ordnung, die die Sonate trug; nie, vielleicht Van Goghs Bilder ausgenommen, ist die Krise der bürgerlichen Welt materialgerechter und unliterarischer, nie aber auch mit größerem revolutionären Impuls in ästhetische Bilder gebannt worden als in diesem Satz. Er ist die Zäsur von Mahlers Entwicklung und alles Spätere bricht aus dem vorgesetzten Musikraum aus; der erste Satz der Siebenten antwortet aufs Finale der Sechsten wie vom anderen Ufer des Grenzstromes, darüber den Mahlerschen Traumbataillonen die schwankenden Pontons geschlagen wurden. Vom Ufer der Siebenten aus erscheint die archaische Welt, die den Anstoß der Revolte gab, bereits gespenstisch und schemenhaft; darum ist sie, die erste unromantische aus Mahlers Hand, zugleich die offiziell romantische geworden mit Ronde und Rondo der Ersten Nachtmusik und den Schatten eines Scherzos, daraus die verdammte Klage der Oboe furchtbarer tönt als alle edle Trauer der Romantik; deren Bilder sind verloren. Oder doch nicht ganz verloren; unergründliche Tiefe Mahlers, daß er in der Serenade der Zweiten Nachtmusik schüchtern errettet, was eben in bodenlosen Trichtern zu versinken schien; vom Traum der Romantik ist übrig die flüchtige Spur, die über dem ungewissen, grauen Heute gleich einem bunten Wimpel schwingt. Es ist daraus die seltsame Organisation der Hoffnung in der Achten Symphonie geworden, die nicht als neureligiöse Kantate, wohl aber als improvisatorischer Sturm auf die zitternden transzendenten Bilder ihr mächtiges Recht hat. Dies Recht haben die letzten Werke bekräftigt, die den Ausbruch der Hoffnung, das gewagte »Es ist gelungen« fundieren durch alle lastende Schwere über dem verlassenen Menschen, der ohne Form, die ihn umfängt, ungetröstet stirbt. Die vollendete Hoffnungslosigkeit des Liedes von der Erde, der nichts bleibt als die Erinnerung an ein Mädchenlachen, ist die Realität, die allein den Traum legitimiert, der vom Ungewissen aufsteigt ins Ungewisse hinein.

Es ist unsere Realität zugleich. Daß sie aus dem verfallenden Traum sich hebt, ohne doch intentionslos sich bei sich selber zu bescheiden; daß sie zugleich kahl ergriffen und über sich hinausgetrieben wird: das macht Mahlers Aktualität aus. Sie ist gegenwärtig in der Formensprache unserer Musik; wahrhaft aller, denn wie sie aus den Extremen gezeugt ist, so wirkt sie in den Extremen; sind Schönbergs Gehalte den Mahlerschen aufs nächste verwandt, die er in anderer Sprache anredet, so liegt wiederum Mahlers Sprache als Medium zwischen den Polen der gegenwärtigen Oper; die Ländlerszene des Wozzeck und »Können einem toten Mann nicht helfen« aus Mahagonny berühren sich im getrübten, abgeblendeten Ton Mahlers. Wichtiger als die kenntlichen Zusammenhänge mit dem Mahlerschen Stil sind die geheimeren der kompositorischen Verfahrungsweise. Alle gegenwärtige kompositorische Technik liegt in Mahlers Werk unter der dünnen Hülle der spätromantischen Ausdruckssprache bereit. Es bedarf allein echter Interpretation, sie herauszustellen. Mahlers Werk ist nicht historisch; seine musikalische Gestalt ist gegenwärtig unter uns und seine Gehalte sollten es sein, wenn nicht die Menschen ängstlich die Sprünge verdecken wollten, die trotz aller Sachlichkeit die Sachwelt durchschneiden und deren Sinn im Mahlerschen Werke lesbar wird.

 

1930

 

 
Gesammelte Werke
adorno-theodor-w.xml
adorno-theodor-w-0000001-0000001.xml
adorno-theodor-w-0000002-0000023.xml
adorno-theodor-w-0000024-0000024.xml
adorno-theodor-w-0000025-0000025.xml
adorno-theodor-w-0000026-0000028.xml
adorno-theodor-w-0000029-0000037.xml
adorno-theodor-w-0000038-0000124.xml
adorno-theodor-w-0000125-0000130.xml
adorno-theodor-w-0000131-0000147.xml
adorno-theodor-w-0000148-0000148.xml
adorno-theodor-w-0000149-0000151.xml
adorno-theodor-w-0000152-0000187.xml
adorno-theodor-w-0000188-0000271.xml
adorno-theodor-w-0000272-0000342.xml
adorno-theodor-w-0000343-0000382.xml
adorno-theodor-w-0000383-0000457.xml
adorno-theodor-w-0000458-0000515.xml
adorno-theodor-w-0000516-0000553.xml
adorno-theodor-w-0000554-0000632.xml
adorno-theodor-w-0000633-0000638.xml
adorno-theodor-w-0000639-0000646.xml
adorno-theodor-w-0000647-0000647.xml
adorno-theodor-w-0000648-0000652.xml
adorno-theodor-w-0000653-0000701.xml
adorno-theodor-w-0000702-0000755.xml
adorno-theodor-w-0000756-0000803.xml
adorno-theodor-w-0000804-0000844.xml
adorno-theodor-w-0000845-0000888.xml
adorno-theodor-w-0000889-0000927.xml
adorno-theodor-w-0000928-0000971.xml
adorno-theodor-w-0000972-0001004.xml
adorno-theodor-w-0001005-0001039.xml
adorno-theodor-w-0001040-0001079.xml
adorno-theodor-w-0001080-0001084.xml
adorno-theodor-w-0001085-0001086.xml
adorno-theodor-w-0001087-0001088.xml
adorno-theodor-w-0001089-0001092.xml
adorno-theodor-w-0001093-0001104.xml
adorno-theodor-w-0001105-0001175.xml
adorno-theodor-w-0001176-0001244.xml
adorno-theodor-w-0001245-0001315.xml
adorno-theodor-w-0001316-0001400.xml
adorno-theodor-w-0001401-0001476.xml
adorno-theodor-w-0001477-0001576.xml
adorno-theodor-w-0001577-0001577.xml
adorno-theodor-w-0001578-0001641.xml
adorno-theodor-w-0001642-0001643.xml
adorno-theodor-w-0001644-0001645.xml
adorno-theodor-w-0001646-0001653.xml
adorno-theodor-w-0001654-0001751.xml
adorno-theodor-w-0001752-0001795.xml
adorno-theodor-w-0001796-0001894.xml
adorno-theodor-w-0001895-0001955.xml
adorno-theodor-w-0001956-0002055.xml
adorno-theodor-w-0002056-0002146.xml
adorno-theodor-w-0002147-0002177.xml
adorno-theodor-w-0002178-0002178.xml
adorno-theodor-w-0002179-0002179.xml
adorno-theodor-w-0002180-0002246.xml
adorno-theodor-w-0002247-0002326.xml
adorno-theodor-w-0002327-0002385.xml
adorno-theodor-w-0002386-0002485.xml
adorno-theodor-w-0002486-0002583.xml
adorno-theodor-w-0002584-0002587.xml
adorno-theodor-w-0002588-0002666.xml
adorno-theodor-w-0002667-0002717.xml
adorno-theodor-w-0002718-0002817.xml
adorno-theodor-w-0002818-0002822.xml
adorno-theodor-w-0002823-0002823.xml
adorno-theodor-w-0002824-0002824.xml
adorno-theodor-w-0002825-0002828.xml
adorno-theodor-w-0002829-0002919.xml
adorno-theodor-w-0002920-0002981.xml
adorno-theodor-w-0002982-0003041.xml
adorno-theodor-w-0003042-0003120.xml
adorno-theodor-w-0003121-0003162.xml
adorno-theodor-w-0003163-0003163.xml
adorno-theodor-w-0003164-0003198.xml
adorno-theodor-w-0003199-0003298.xml
adorno-theodor-w-0003299-0003311.xml
adorno-theodor-w-0003312-0003410.xml
adorno-theodor-w-0003411-0003414.xml
adorno-theodor-w-0003415-0003499.xml
adorno-theodor-w-0003500-0003518.xml
adorno-theodor-w-0003519-0003519.xml
adorno-theodor-w-0003520-0003524.xml
adorno-theodor-w-0003525-0003526.xml
adorno-theodor-w-0003527-0003626.xml
adorno-theodor-w-0003627-0003720.xml
adorno-theodor-w-0003721-0003726.xml
adorno-theodor-w-0003727-0003727.xml
adorno-theodor-w-0003728-0003811.xml
adorno-theodor-w-0003812-0003911.xml
adorno-theodor-w-0003912-0004007.xml
adorno-theodor-w-0004008-0004013.xml
adorno-theodor-w-0004014-0004113.xml
adorno-theodor-w-0004114-0004196.xml
adorno-theodor-w-0004197-0004241.xml
adorno-theodor-w-0004242-0004341.xml
adorno-theodor-w-0004342-0004371.xml
adorno-theodor-w-0004372-0004465.xml
adorno-theodor-w-0004466-0004540.xml
adorno-theodor-w-0004541-0004611.xml
adorno-theodor-w-0004612-0004626.xml
adorno-theodor-w-0004627-0004715.xml
adorno-theodor-w-0004716-0004735.xml
adorno-theodor-w-0004736-0004742.xml
adorno-theodor-w-0004743-0004743.xml
adorno-theodor-w-0004744-0004744.xml
adorno-theodor-w-0004745-0004762.xml
adorno-theodor-w-0004763-0004800.xml
adorno-theodor-w-0004801-0004877.xml
adorno-theodor-w-0004878-0004890.xml
adorno-theodor-w-0004891-0004941.xml
adorno-theodor-w-0004942-0004983.xml
adorno-theodor-w-0004984-0005035.xml
adorno-theodor-w-0005036-0005068.xml
adorno-theodor-w-0005069-0005108.xml
adorno-theodor-w-0005109-0005145.xml
adorno-theodor-w-0005146-0005158.xml
adorno-theodor-w-0005159-0005218.xml
adorno-theodor-w-0005219-0005250.xml
adorno-theodor-w-0005251-0005347.xml
adorno-theodor-w-0005348-0005375.xml
adorno-theodor-w-0005376-0005376.xml
adorno-theodor-w-0005377-0005409.xml
adorno-theodor-w-0005410-0005444.xml
adorno-theodor-w-0005445-0005452.xml
adorno-theodor-w-0005453-0005471.xml
adorno-theodor-w-0005472-0005517.xml
adorno-theodor-w-0005518-0005528.xml
adorno-theodor-w-0005529-0005543.xml
adorno-theodor-w-0005544-0005571.xml
adorno-theodor-w-0005572-0005608.xml
adorno-theodor-w-0005609-0005635.xml
adorno-theodor-w-0005636-0005643.xml
adorno-theodor-w-0005644-0005698.xml
adorno-theodor-w-0005699-0005709.xml
adorno-theodor-w-0005710-0005724.xml
adorno-theodor-w-0005725-0005757.xml
adorno-theodor-w-0005758-0005787.xml
adorno-theodor-w-0005788-0005788.xml
adorno-theodor-w-0005789-0005789.xml
adorno-theodor-w-0005790-0005838.xml
adorno-theodor-w-0005839-0005923.xml
adorno-theodor-w-0005924-0005975.xml
adorno-theodor-w-0005976-0006025.xml
adorno-theodor-w-0006026-0006026.xml
adorno-theodor-w-0006027-0006086.xml
adorno-theodor-w-0006087-0006092.xml
adorno-theodor-w-0006093-0006129.xml
adorno-theodor-w-0006130-0006169.xml
adorno-theodor-w-0006170-0006176.xml
adorno-theodor-w-0006177-0006185.xml
adorno-theodor-w-0006186-0006204.xml
adorno-theodor-w-0006205-0006212.xml
adorno-theodor-w-0006213-0006217.xml
adorno-theodor-w-0006218-0006309.xml
adorno-theodor-w-0006310-0006335.xml
adorno-theodor-w-0006336-0006344.xml
adorno-theodor-w-0006345-0006444.xml
adorno-theodor-w-0006445-0006449.xml
adorno-theodor-w-0006450-0006511.xml
adorno-theodor-w-0006512-0006552.xml
adorno-theodor-w-0006553-0006571.xml
adorno-theodor-w-0006572-0006615.xml
adorno-theodor-w-0006616-0006653.xml
adorno-theodor-w-0006654-0006654.xml
adorno-theodor-w-0006655-0006655.xml
adorno-theodor-w-0006656-0006661.xml
adorno-theodor-w-0006662-0006670.xml
adorno-theodor-w-0006671-0006676.xml
adorno-theodor-w-0006677-0006681.xml
adorno-theodor-w-0006682-0006697.xml
adorno-theodor-w-0006698-0006716.xml
adorno-theodor-w-0006717-0006727.xml
adorno-theodor-w-0006728-0006738.xml
adorno-theodor-w-0006739-0006750.xml
adorno-theodor-w-0006751-0006783.xml
adorno-theodor-w-0006784-0006790.xml
adorno-theodor-w-0006791-0006817.xml
adorno-theodor-w-0006818-0006848.xml
adorno-theodor-w-0006849-0006849.xml
adorno-theodor-w-0006850-0006855.xml
adorno-theodor-w-0006856-0006873.xml
adorno-theodor-w-0006874-0006878.xml
adorno-theodor-w-0006879-0006884.xml
adorno-theodor-w-0006885-0006896.xml
adorno-theodor-w-0006897-0006933.xml
adorno-theodor-w-0006934-0006977.xml
adorno-theodor-w-0006978-0007003.xml
adorno-theodor-w-0007004-0007045.xml
adorno-theodor-w-0007046-0007107.xml
adorno-theodor-w-0007108-0007152.xml
adorno-theodor-w-0007153-0007177.xml
adorno-theodor-w-0007178-0007215.xml
adorno-theodor-w-0007216-0007224.xml
adorno-theodor-w-0007225-0007225.xml
adorno-theodor-w-0007226-0007288.xml
adorno-theodor-w-0007289-0007311.xml
adorno-theodor-w-0007312-0007317.xml
adorno-theodor-w-0007318-0007346.xml
adorno-theodor-w-0007347-0007354.xml
adorno-theodor-w-0007355-0007385.xml
adorno-theodor-w-0007386-0007386.xml
adorno-theodor-w-0007387-0007387.xml
adorno-theodor-w-0007388-0007421.xml
adorno-theodor-w-0007422-0007447.xml
adorno-theodor-w-0007448-0007490.xml
adorno-theodor-w-0007491-0007533.xml
adorno-theodor-w-0007534-0007577.xml
adorno-theodor-w-0007578-0007603.xml
adorno-theodor-w-0007604-0007629.xml
adorno-theodor-w-0007630-0007679.xml
adorno-theodor-w-0007680-0007702.xml
adorno-theodor-w-0007703-0007782.xml
adorno-theodor-w-0007783-0007808.xml
adorno-theodor-w-0007809-0007870.xml
adorno-theodor-w-0007871-0007871.xml
adorno-theodor-w-0007872-0007889.xml
adorno-theodor-w-0007890-0007901.xml
adorno-theodor-w-0007902-0007922.xml
adorno-theodor-w-0007923-0007930.xml
adorno-theodor-w-0007931-0007936.xml
adorno-theodor-w-0007937-0007947.xml
adorno-theodor-w-0007948-0007962.xml
adorno-theodor-w-0007963-0007973.xml
adorno-theodor-w-0007974-0007989.xml
adorno-theodor-w-0007990-0007996.xml
adorno-theodor-w-0007997-0008013.xml
adorno-theodor-w-0008014-0008049.xml
adorno-theodor-w-0008050-0008056.xml
adorno-theodor-w-0008057-0008094.xml
adorno-theodor-w-0008095-0008108.xml
adorno-theodor-w-0008109-0008145.xml
adorno-theodor-w-0008146-0008232.xml
adorno-theodor-w-0008233-0008313.xml
adorno-theodor-w-0008314-0008381.xml
adorno-theodor-w-0008382-0008385.xml
adorno-theodor-w-0008386-0008401.xml
adorno-theodor-w-0008402-0008419.xml
adorno-theodor-w-0008420-0008457.xml
adorno-theodor-w-0008458-0008467.xml
adorno-theodor-w-0008468-0008485.xml
adorno-theodor-w-0008486-0008515.xml
adorno-theodor-w-0008516-0008544.xml
adorno-theodor-w-0008545-0008563.xml
adorno-theodor-w-0008564-0008625.xml
adorno-theodor-w-0008626-0008707.xml
adorno-theodor-w-0008708-0008732.xml
adorno-theodor-w-0008733-0008762.xml
adorno-theodor-w-0008763-0008789.xml
adorno-theodor-w-0008790-0008806.xml
adorno-theodor-w-0008807-0008807.xml
adorno-theodor-w-0008808-0008907.xml
adorno-theodor-w-0008908-0009001.xml
adorno-theodor-w-0009002-0009049.xml
adorno-theodor-w-0009050-0009145.xml
adorno-theodor-w-0009146-0009205.xml
adorno-theodor-w-0009206-0009255.xml
adorno-theodor-w-0009256-0009326.xml
adorno-theodor-w-0009327-0009396.xml
adorno-theodor-w-0009397-0009469.xml
adorno-theodor-w-0009470-0009534.xml
adorno-theodor-w-0009535-0009612.xml
adorno-theodor-w-0009613-0009613.xml
adorno-theodor-w-0009614-0009647.xml
adorno-theodor-w-0009648-0009661.xml
adorno-theodor-w-0009662-0009683.xml
adorno-theodor-w-0009684-0009716.xml
adorno-theodor-w-0009717-0009736.xml
adorno-theodor-w-0009737-0009762.xml
adorno-theodor-w-0009763-0009776.xml
adorno-theodor-w-0009777-0009789.xml
adorno-theodor-w-0009790-0009806.xml
adorno-theodor-w-0009807-0009807.xml
adorno-theodor-w-0009808-0009812.xml
adorno-theodor-w-0009813-0009825.xml
adorno-theodor-w-0009826-0009829.xml
adorno-theodor-w-0009830-0009841.xml
adorno-theodor-w-0009842-0009853.xml
adorno-theodor-w-0009854-0009859.xml
adorno-theodor-w-0009860-0009865.xml
adorno-theodor-w-0009866-0009875.xml
adorno-theodor-w-0009876-0009886.xml
adorno-theodor-w-0009887-0009893.xml
adorno-theodor-w-0009894-0009897.xml
adorno-theodor-w-0009898-0009905.xml
adorno-theodor-w-0009906-0009911.xml
adorno-theodor-w-0009912-0009924.xml
adorno-theodor-w-0009925-0009931.xml
adorno-theodor-w-0009932-0009941.xml
adorno-theodor-w-0009942-0009952.xml
adorno-theodor-w-0009953-0009957.xml
adorno-theodor-w-0009958-0009981.xml
adorno-theodor-w-0009982-0009982.xml
adorno-theodor-w-0009983-0009986.xml
adorno-theodor-w-0009987-0009991.xml
adorno-theodor-w-0009992-0010030.xml
adorno-theodor-w-0010031-0010109.xml
adorno-theodor-w-0010110-0010189.xml
adorno-theodor-w-0010190-0010289.xml
adorno-theodor-w-0010290-0010316.xml
adorno-theodor-w-0010317-0010321.xml
adorno-theodor-w-0010322-0010324.xml
adorno-theodor-w-0010325-0010332.xml
adorno-theodor-w-0010333-0010334.xml
adorno-theodor-w-0010335-0010335.xml
adorno-theodor-w-0010336-0010434.xml
adorno-theodor-w-0010435-0010528.xml
adorno-theodor-w-0010529-0010573.xml
adorno-theodor-w-0010574-0010672.xml
adorno-theodor-w-0010673-0010769.xml
adorno-theodor-w-0010770-0010864.xml
adorno-theodor-w-0010865-0010865.xml
adorno-theodor-w-0010866-0010868.xml
adorno-theodor-w-0010869-0010885.xml
adorno-theodor-w-0010886-0010941.xml
adorno-theodor-w-0010942-0010953.xml
adorno-theodor-w-0010954-0010966.xml
adorno-theodor-w-0010967-0010972.xml
adorno-theodor-w-0010973-0010980.xml
adorno-theodor-w-0010981-0010995.xml
adorno-theodor-w-0010996-0011008.xml
adorno-theodor-w-0011009-0011017.xml
adorno-theodor-w-0011018-0011041.xml
adorno-theodor-w-0011042-0011052.xml
adorno-theodor-w-0011053-0011078.xml
adorno-theodor-w-0011079-0011097.xml
adorno-theodor-w-0011098-0011111.xml
adorno-theodor-w-0011112-0011146.xml
adorno-theodor-w-0011147-0011149.xml
adorno-theodor-w-0011150-0011152.xml
adorno-theodor-w-0011153-0011184.xml
adorno-theodor-w-0011185-0011192.xml
adorno-theodor-w-0011193-0011193.xml
adorno-theodor-w-0011194-0011195.xml
adorno-theodor-w-0011196-0011202.xml
adorno-theodor-w-0011203-0011265.xml
adorno-theodor-w-0011266-0011292.xml
adorno-theodor-w-0011293-0011365.xml
adorno-theodor-w-0011366-0011401.xml
adorno-theodor-w-0011402-0011429.xml
adorno-theodor-w-0011430-0011470.xml
adorno-theodor-w-0011471-0011551.xml
adorno-theodor-w-0011552-0011640.xml
adorno-theodor-w-0011641-0011740.xml
adorno-theodor-w-0011741-0011816.xml
adorno-theodor-w-0011817-0011915.xml
adorno-theodor-w-0011916-0011935.xml
adorno-theodor-w-0011936-0011937.xml
adorno-theodor-w-0011938-0011938.xml
adorno-theodor-w-0011939-0011939.xml
adorno-theodor-w-0011940-0011943.xml
adorno-theodor-w-0011944-0011947.xml
adorno-theodor-w-0011948-0011976.xml
adorno-theodor-w-0011977-0011995.xml
adorno-theodor-w-0011996-0012017.xml
adorno-theodor-w-0012018-0012040.xml
adorno-theodor-w-0012041-0012080.xml
adorno-theodor-w-0012081-0012119.xml
adorno-theodor-w-0012120-0012152.xml
adorno-theodor-w-0012153-0012183.xml
adorno-theodor-w-0012184-0012187.xml
adorno-theodor-w-0012188-0012196.xml
adorno-theodor-w-0012197-0012198.xml
adorno-theodor-w-0012199-0012204.xml
adorno-theodor-w-0012205-0012248.xml
adorno-theodor-w-0012249-0012329.xml
adorno-theodor-w-0012330-0012417.xml
adorno-theodor-w-0012418-0012478.xml
adorno-theodor-w-0012479-0012531.xml
adorno-theodor-w-0012532-0012587.xml
adorno-theodor-w-0012588-0012589.xml
adorno-theodor-w-0012590-0012593.xml
adorno-theodor-w-0012594-0012596.xml
adorno-theodor-w-0012597-0012597.xml
adorno-theodor-w-0012598-0012696.xml
adorno-theodor-w-0012697-0012796.xml
adorno-theodor-w-0012797-0012871.xml
adorno-theodor-w-0012872-0012970.xml
adorno-theodor-w-0012971-0013005.xml
adorno-theodor-w-0013006-0013006.xml
adorno-theodor-w-0013007-0013015.xml
adorno-theodor-w-0013016-0013016.xml
adorno-theodor-w-0013017-0013059.xml
adorno-theodor-w-0013060-0013083.xml
adorno-theodor-w-0013084-0013101.xml
adorno-theodor-w-0013102-0013122.xml
adorno-theodor-w-0013123-0013123.xml
adorno-theodor-w-0013124-0013169.xml
adorno-theodor-w-0013170-0013198.xml
adorno-theodor-w-0013199-0013221.xml
adorno-theodor-w-0013222-0013268.xml
adorno-theodor-w-0013269-0013338.xml
adorno-theodor-w-0013339-0013406.xml
adorno-theodor-w-0013407-0013489.xml
adorno-theodor-w-0013490-0013526.xml
adorno-theodor-w-0013527-0013599.xml
adorno-theodor-w-0013600-0013660.xml
adorno-theodor-w-0013661-0013702.xml
adorno-theodor-w-0013703-0013720.xml
adorno-theodor-w-0013721-0013721.xml
adorno-theodor-w-0013722-0013816.xml
adorno-theodor-w-0013817-0013911.xml
adorno-theodor-w-0013912-0013974.xml
adorno-theodor-w-0013975-0013975.xml
adorno-theodor-w-0013976-0013978.xml
adorno-theodor-w-0013979-0014014.xml
adorno-theodor-w-0014015-0014029.xml
adorno-theodor-w-0014030-0014039.xml
adorno-theodor-w-0014040-0014049.xml
adorno-theodor-w-0014050-0014116.xml
adorno-theodor-w-0014117-0014125.xml
adorno-theodor-w-0014126-0014192.xml
adorno-theodor-w-0014193-0014201.xml
adorno-theodor-w-0014202-0014211.xml
adorno-theodor-w-0014212-0014217.xml
adorno-theodor-w-0014218-0014224.xml
adorno-theodor-w-0014225-0014235.xml
adorno-theodor-w-0014236-0014251.xml
adorno-theodor-w-0014252-0014282.xml
adorno-theodor-w-0014283-0014289.xml
adorno-theodor-w-0014290-0014290.xml
adorno-theodor-w-0014291-0014365.xml
adorno-theodor-w-0014366-0014366.xml
adorno-theodor-w-0014367-0014419.xml
adorno-theodor-w-0014420-0014436.xml
adorno-theodor-w-0014437-0014454.xml
adorno-theodor-w-0014455-0014465.xml
adorno-theodor-w-0014466-0014472.xml
adorno-theodor-w-0014473-0014482.xml
adorno-theodor-w-0014483-0014499.xml
adorno-theodor-w-0014500-0014508.xml
adorno-theodor-w-0014509-0014523.xml
adorno-theodor-w-0014524-0014572.xml
adorno-theodor-w-0014573-0014668.xml
adorno-theodor-w-0014669-0014768.xml
adorno-theodor-w-0014769-0014868.xml
adorno-theodor-w-0014869-0014964.xml
adorno-theodor-w-0014965-0015062.xml
adorno-theodor-w-0015063-0015162.xml
adorno-theodor-w-0015163-0015212.xml
adorno-theodor-w-0015213-0015213.xml
adorno-theodor-w-0015214-0015227.xml
adorno-theodor-w-0015228-0015238.xml
adorno-theodor-w-0015239-0015244.xml
adorno-theodor-w-0015245-0015253.xml
adorno-theodor-w-0015254-0015256.xml
adorno-theodor-w-0015257-0015264.xml
adorno-theodor-w-0015265-0015268.xml
adorno-theodor-w-0015269-0015275.xml
adorno-theodor-w-0015276-0015303.xml
adorno-theodor-w-0015304-0015336.xml
adorno-theodor-w-0015337-0015342.xml
adorno-theodor-w-0015343-0015347.xml
adorno-theodor-w-0015348-0015367.xml
adorno-theodor-w-0015368-0015375.xml
adorno-theodor-w-0015376-0015383.xml
adorno-theodor-w-0015384-0015424.xml
adorno-theodor-w-0015425-0015437.xml
adorno-theodor-w-0015438-0015441.xml
adorno-theodor-w-0015442-0015444.xml
adorno-theodor-w-0015445-0015463.xml
adorno-theodor-w-0015464-0015508.xml
adorno-theodor-w-0015509-0015509.xml
adorno-theodor-w-0015510-0015522.xml
adorno-theodor-w-0015523-0015608.xml
adorno-theodor-w-0015609-0015623.xml
adorno-theodor-w-0015624-0015625.xml
adorno-theodor-w-0015626-0015627.xml
adorno-theodor-w-0015628-0015634.xml
adorno-theodor-w-0015635-0015642.xml
adorno-theodor-w-0015643-0015651.xml
adorno-theodor-w-0015652-0015666.xml
adorno-theodor-w-0015667-0015670.xml
adorno-theodor-w-0015671-0015676.xml
adorno-theodor-w-0015677-0015684.xml
adorno-theodor-w-0015685-0015698.xml
adorno-theodor-w-0015699-0015701.xml
adorno-theodor-w-0015702-0015705.xml
adorno-theodor-w-0015706-0015708.xml
adorno-theodor-w-0015709-0015713.xml
adorno-theodor-w-0015714-0015717.xml
adorno-theodor-w-0015718-0015718.xml
adorno-theodor-w-0015719-0015817.xml
adorno-theodor-w-0015818-0015902.xml
adorno-theodor-w-0015903-0015996.xml
adorno-theodor-w-0015997-0016096.xml
adorno-theodor-w-0016097-0016193.xml
adorno-theodor-w-0016194-0016202.xml
adorno-theodor-w-0016203-0016245.xml
adorno-theodor-w-0016246-0016343.xml
adorno-theodor-w-0016344-0016365.xml
adorno-theodor-w-0016366-0016465.xml
adorno-theodor-w-0016466-0016523.xml
adorno-theodor-w-0016524-0016524.xml
adorno-theodor-w-0016525-0016536.xml
adorno-theodor-w-0016537-0016546.xml
adorno-theodor-w-0016547-0016551.xml
adorno-theodor-w-0016552-0016561.xml
adorno-theodor-w-0016562-0016573.xml
adorno-theodor-w-0016574-0016578.xml
adorno-theodor-w-0016579-0016581.xml
adorno-theodor-w-0016582-0016585.xml
adorno-theodor-w-0016586-0016588.xml
adorno-theodor-w-0016589-0016597.xml
adorno-theodor-w-0016598-0016605.xml
adorno-theodor-w-0016606-0016627.xml
adorno-theodor-w-0016628-0016629.xml
adorno-theodor-w-0016630-0016665.xml
adorno-theodor-w-0016666-0016672.xml
adorno-theodor-w-0016673-0016680.xml
adorno-theodor-w-0016681-0016689.xml
adorno-theodor-w-0016690-0016697.xml
adorno-theodor-w-0016698-0016704.xml
adorno-theodor-w-0016705-0016715.xml
adorno-theodor-w-0016716-0016732.xml
adorno-theodor-w-0016733-0016738.xml
adorno-theodor-w-0016739-0016746.xml
adorno-theodor-w-0016747-0016794.xml
adorno-theodor-w-0016795-0016813.xml
adorno-theodor-w-0016814-0016818.xml
adorno-theodor-w-0016819-0016851.xml
adorno-theodor-w-0016852-0016919.xml
adorno-theodor-w-0016920-0016970.xml
adorno-theodor-w-0016971-0017001.xml
adorno-theodor-w-0017002-0017006.xml
adorno-theodor-w-0017007-0017007.xml
adorno-theodor-w-0017008-0017008.xml
adorno-theodor-w-0017009-0017065.xml
adorno-theodor-w-0017066-0017160.xml
adorno-theodor-w-0017161-0017196.xml
adorno-theodor-w-0017197-0017225.xml
adorno-theodor-w-0017226-0017234.xml
adorno-theodor-w-0017235-0017249.xml
adorno-theodor-w-0017250-0017285.xml
adorno-theodor-w-0017286-0017325.xml
adorno-theodor-w-0017326-0017331.xml
adorno-theodor-w-0017332-0017333.xml
adorno-theodor-w-0017334-0017339.xml
adorno-theodor-w-0017340-0017344.xml
adorno-theodor-w-0017345-0017349.xml
adorno-theodor-w-0017350-0017352.xml
adorno-theodor-w-0017353-0017364.xml
adorno-theodor-w-0017365-0017367.xml
adorno-theodor-w-0017368-0017370.xml
adorno-theodor-w-0017371-0017373.xml
adorno-theodor-w-0017374-0017377.xml
adorno-theodor-w-0017378-0017390.xml
adorno-theodor-w-0017391-0017393.xml
adorno-theodor-w-0017394-0017395.xml
adorno-theodor-w-0017396-0017402.xml
adorno-theodor-w-0017403-0017405.xml
adorno-theodor-w-0017406-0017407.xml
adorno-theodor-w-0017408-0017410.xml
adorno-theodor-w-0017411-0017413.xml
adorno-theodor-w-0017414-0017425.xml
adorno-theodor-w-0017426-0017436.xml
adorno-theodor-w-0017437-0017445.xml
adorno-theodor-w-0017446-0017449.xml
adorno-theodor-w-0017450-0017545.xml
adorno-theodor-w-0017546-0017615.xml
adorno-theodor-w-0017616-0017705.xml
adorno-theodor-w-0017706-0017706.xml
adorno-theodor-w-0017707-0017709.xml
adorno-theodor-w-0017710-0017738.xml
adorno-theodor-w-0017739-0017757.xml
adorno-theodor-w-0017758-0017778.xml
adorno-theodor-w-0017779-0017799.xml
adorno-theodor-w-0017800-0017802.xml
adorno-theodor-w-0017803-0017813.xml
adorno-theodor-w-0017814-0017816.xml
adorno-theodor-w-0017817-0017822.xml
adorno-theodor-w-0017823-0017841.xml
adorno-theodor-w-0017842-0017855.xml
adorno-theodor-w-0017856-0017858.xml
adorno-theodor-w-0017859-0017862.xml
adorno-theodor-w-0017863-0017864.xml
adorno-theodor-w-0017865-0017869.xml
adorno-theodor-w-0017870-0017872.xml
adorno-theodor-w-0017873-0017875.xml
adorno-theodor-w-0017876-0017879.xml
adorno-theodor-w-0017880-0017888.xml
adorno-theodor-w-0017889-0017899.xml
adorno-theodor-w-0017900-0017903.xml
adorno-theodor-w-0017904-0017906.xml
adorno-theodor-w-0017907-0017907.xml
adorno-theodor-w-0017908-0017912.xml
adorno-theodor-w-0017913-0017913.xml
adorno-theodor-w-0017914-0017915.xml
adorno-theodor-w-0017916-0017918.xml
adorno-theodor-w-0017919-0017921.xml
adorno-theodor-w-0017922-0017933.xml
adorno-theodor-w-0017934-0017936.xml
adorno-theodor-w-0017937-0017940.xml
adorno-theodor-w-0017941-0017946.xml
adorno-theodor-w-0017947-0017950.xml
adorno-theodor-w-0017951-0017952.xml
adorno-theodor-w-0017953-0017957.xml
adorno-theodor-w-0017958-0017959.xml
adorno-theodor-w-0017960-0017963.xml
adorno-theodor-w-0017964-0017966.xml
adorno-theodor-w-0017967-0017973.xml
adorno-theodor-w-0017974-0017975.xml
adorno-theodor-w-0017976-0017993.xml
adorno-theodor-w-0017994-0017997.xml
adorno-theodor-w-0017998-0018001.xml
adorno-theodor-w-0018002-0018021.xml
adorno-theodor-w-0018022-0018022.xml
adorno-theodor-w-0018023-0018028.xml
adorno-theodor-w-0018029-0018090.xml
adorno-theodor-w-0018091-0018162.xml
adorno-theodor-w-0018163-0018181.xml
adorno-theodor-w-0018182-0018189.xml
adorno-theodor-w-0018190-0018206.xml
adorno-theodor-w-0018207-0018210.xml
adorno-theodor-w-0018211-0018216.xml
adorno-theodor-w-0018217-0018224.xml
adorno-theodor-w-0018225-0018233.xml
adorno-theodor-w-0018234-0018234.xml
adorno-theodor-w-0018235-0018268.xml
adorno-theodor-w-0018269-0018285.xml
adorno-theodor-w-0018286-0018302.xml
adorno-theodor-w-0018303-0018340.xml
adorno-theodor-w-0018341-0018342.xml
adorno-theodor-w-0018343-0018377.xml
adorno-theodor-w-0018378-0018420.xml
adorno-theodor-w-image-appendix.xml
adorno-theodor-w-image-appendix-0000000.xml