Ein Titel
Rowohlt hat, in seiner billigen Buchreihe1, den ›Professor Unrat‹ von Heinrich Mann neu herausgebracht, und dafür soll man ihm dankbar sein. Der Roman fluoresziert desto bedrohlicher, je veralteter die stofflichen Voraussetzungen, die muffige Gymnasialstube mit dem »Kabuff«, der kindisch-sadistische Professor, das Laster von Biercabaret und anrüchiger Vorstadtvilla, die provinzielle Halbweltdame scheinen: es ist, als hätte die kleinbürgerliche Beschränktheit dieses Lübecker Alltags sich kraft der Verve der Darstellung verdichtet zum grell Ungeheuren des Wesens. Der Sexus schlägt in die Atmosphäre, und die Bürger samt ihrem Anhang werfen die Maske des Normalen ab und zeigen Dämonenfratzen. Zugleich aber auch das hilflos Preisgegebene, das von der Ordnung ihres Daseins sonst fortgebannt wird. An Kraft aufklärender Verzauberung ist der Roman einzig Wedekinds ›Frühlings Erwachen‹ zu vergleichen; manchmal liest er sich, als wäre die bizarr übertreibende Ähnlichkeit Daumierscher Karikaturen in Sprachgesten aufgelöst. Die Beschreibung des auf der Variétébühne vor einem tobenden Publikum zelebrierten Flaggenliedes offenbart mehr von der Ontologie des neudeutschen Nationalismus, als historische Traktate umständlich zu entfalten vermöchten. Heinrich Mann hat von den Franzosen das Schneidende des unumwölkten Blicks, die polemische Kraft der Kälte gelernt und sich freigehalten von jenem selbstgerecht versöhnenden Humor, der in Deutschland so hoch im Kurs steht. Er hat bewährt, was sonst dem deutschen Roman abgeht, sobald er sich mit den Bildern der Enge einläßt: fruchtbaren Haß. Dem verdankt er die unbeirrte gesellschaftliche Physiognomik. Stilgeschichtlich bezeichnet der Roman den Umschlag der ins Extrem gesteigerten naturalistischen Mittel in den expressionistischen Ausbruch. So nah rückt er den bürgerlichen Urbildern auf den Leib, daß die Darstellung die bürgerliche Ausdruckskonvention durchbricht und den Menschen zitiert in Gestalt zappelnder Unmenschen. Sätze wie der letzte: »Er sprudelte Wasser, empfing von hinten einen Stoß, stolperte das Trittbrett hinan und gelangte kopfüber auf das Polster neben der Künstlerin Fröhlich und ins Dunkel«, sind im Deutschen ohne Beispiel gewesen und haben ihre Spur hinterlassen weit über den Umkreis dessen hinaus, was die Literaturgeschichte »Einfluß« nennt. Etwas vom gedrängten Pathos dieses Gefüges lebt in jedem Satz, der seitdem Dichtern in Prosa gelang.
Dies Gebilde können nun wieder Gymnasiasten lesen wie vor dreißig Jahren im Feuilleton einer sozialdemokratischen Zeitung, und vielleicht finden sich sogar noch einige, die sich in die Künstlerin Fröhlich verlieben und am Ende des Tyrannen berauschen, ohne sich das Pubertätsglück des Romans sogleich abzuschneiden, indem sie sich dessen versichern, daß so etwas doch heutzutage schlechterdings unmöglich, daß kein Studienrat, gewiß kein Gymnasiast mehr so naiv sei. Wahrscheinlicher aber stellen die Leser von 1952 einen Vergleich mit dem Film an und ziehen den Komfort des Fertigfabrikats der Anstrengung der Phantasie vor.
Daran jedoch macht die Neuausgabe sich mitschuldig. Sie versteckt den Titel des Romans in eine Notiz und nennt sich: Der Blaue Engel, vermutlich um den Absatz zu steigern. Es werden Leser angezogen, die den Film kennen, ohne von Heinrich Mann etwas zu wissen, und auf diese Weise soll der Erfolg des Absuds dem primären Kunstwerk zugute kommen. Solche List könnte unschuldig genug scheinen, wäre der Titel gleichgültig. Aber er ist es keineswegs und war es schon für die nicht, welche ihn seinerzeit änderten. Man kann sich das aus Filmschaffenden mit dem Herzen auf dem rechten Fleck und ihren Wirtschaftsführern zusammengesetzte Gremium vorstellen, das da einmal in einer wichtigen Konferenz, bei der jede Störung verboten war, über die Frage befand. »Professor Unrat? Kommt überhaupt nicht in Frage. In so was geht kein Mensch herein. Außerdem kann man den Professorentitel nicht öffentlich herabwürdigen. Tonfilm ist ja schön und gut, aber Gestank kauft sich keiner. Der Blaue Engel, das ist was ganz andres. Da stellt sich jeder gleich was mit Mädchen drunter vor. Wir kennen ja schließlich unser Publikum. So was zieht. Uns machen sie nichts vor. Film ist keine Literatur.« Ob Heinrich Mann an dieser Sitzung, die stattfand, auch wenn sie nicht stattfand, teilnehmen durfte, weiß ich so wenig, wie ob etwa der Todkranke die Änderung des Romantitels noch sanktionierte; sicherlich aber drang er, der etwas von der Sache verstand, gegen soviel Sachverständige nicht durch. So hat man denn die prustende Fanfare des Titels, die klingt, als würden vier gedämpfte Trompeten fortissimo angeblasen, durch ein mattes und unaggressives Cliché ersetzt. Der Konformismus fuhr seinerzeit dem Kunstwerk in die Parade. Nicht in Hollywood, sondern in Neubabelsberg. Wird nun der Roman danach umgetauft, so macht der Verleger das Diktat des Konformismus nochmals sich zu eigen.
In der Tat des Konformismus. Denn der Film, der heute für eine Großtat gilt, hat vor Hitler und ohne daß eine Zensurbehörde sich erst hätte bemühen brauchen, freiwillig bereits jene Gesinnung bekundet, die unterdessen zur Institution ward, und nur die schönen Beine der Marlene Dietrich haben darüber getäuscht. Vor lauter Entzücken über den sorgfältig dosierten Sex appeal übersieht man, daß das Gremium jeden gesellschaftlichen Stachel entfernte, aus dem Spießerdämon eine rührselige Lustspielfigur bereitete. Bei Heinrich Mann endet Unrat im Gefängniswagen. Größe gewinnt er, als Verkommener, durch die Obsession der Rache an einer Welt, die sich ihm aus unbotmäßigen Schülern zusammensetzt. Er behält Recht gegen die Gesellschaft, sobald er aus der absurden Konsequenz ihres eigenen Autoritätsprinzips heraus mit ihr den Kampf aufnimmt. Der Held des Films aber schleppt sich, weil sein pädagogischer Eros es schon gar nicht mehr aushält, mit gebrochenem Herzen in seine Klasse und stirbt dort eines verklärten Todes. Die Frau vollends, die ihn zugrunde richtet, wird zu einem prächtigen Geschöpf, das an dem Alten eher Sozialfürsorge übt, als daß es ihm die Zuhälterei angewöhnte. Der ehrwürdige Spitzenfilm ist schon eines jener abscheulich verlogenen, übrigens von den berühmten Beinen abgesehen, auch ziemlich langweiligen Produkte, die den Griff ins volle Menschenleben gerade nur noch zum Kundenfang benutzen, den Blick auf den Gegenstand jedoch schon sorgfältig filtrieren durch die Verstellungen, welche die Herren ihren Zuschauern zuschreiben, um sie diesen um so wirksamer aufzwingen zu können. Die Humanität, deren ›Der Blaue Engel‹ sich durch seine mildernden Retuschen befleißigt, die zum angeblich allzu Menschlichen schmunzelnde Güte, hat keinen anderen Zweck, als die Denunziation des Inhumanen zum Schweigen zu bringen, die Heinrich Manns Roman vollbrachte und die dessen Nutznießern noch nach zwanzig Jahren unerträglich war, als sie auf der Jagd nach ihrem Glück ein Drehbuch daraus zusammenstümperten.
Wäre nicht unterdessen das Verdikt des Betriebs ungefragt als entscheidende Instanz anerkannt, so müßte dem verunstalteten Werk wieder zu seiner Ehre verholfen werden, indem der Verleger das Symbol der Anpassung, den falschen Titel, tilgt und den echten wieder herstellt, der da einmal die Schmach des Offiziellen hinausschrie.
Fußnoten
1 Vgl. Heinrich Mann, Der blaue Engel, Hamburg 1951 (rororo-Taschenbuch 35).