Bernhard Groethuysen, Die Entstehung der bürgerlichen Welt- und Lebensanschauung in Frankreich. 2 Bde. Halle: Max Niemeyer 1927–1930.
Groethuysens Werk ist eines der Geistesgeschichte im prägnanten Sinne Diltheys, dessen Schule der Autor zurechnet. Gegenstand ist die Emanzipation des bürgerlichen Bewußtseins im Frankreich des 18. Jahrhunderts von den theologisch-metaphysischen und sozialethischen Kategorien des Katholizismus. Die Geschichte dieser Emanzipation wird nicht als Philosophiegeschichte geschrieben: Lebensanschauung fällt für Groethuysen nicht mit Philosophie zusammen, sondern wird vielmehr im kritisch unreflektierten, gleichsam unmittelbaren Bewußtseinsstand der Epoche gesucht, der, ähnlich wie bei Dilthey, an Vorstellungen von »Leben« und »Erlebnis« gemessen ist (cf. I, S. XIV). Nach Groethuysens guter Formel handelt es sich um den »Versuch einer Art ›anonymer‹ Geistesgeschichte« (I, S. XVI). Diese anonyme Geschichte aber wird nicht etwa als eine der realen Gesellschaft analysiert: mag immer die Bedeutung der sozialen Dynamik für die Entstehung des bürgerlichen Bewußtseins zumal im II. Band energisch akzentuiert sein, die ›anonyme‹ Analyse hält sich doch durchaus im Rahmen des Bewußtseins, ohne das gesellschaftliche Sein – und das sagt hier vor allem: die ökonomischen Produktionsverhältnisse – selber inhaltlich in die Analyse aufzunehmen. Damit stellt sich die Frage, wie ein Bewußtsein analysierbar sein soll, das weder in seinen autonomen, rationalen Selbstdarstellungen noch in seiner konkreten Abhängigkeit von materiellen Bedingungen ins Blickfeld tritt. Groethuysens Methode sucht die Frage e contrario zu beantworten. Wohl fehlt es an außerphilosophischen, unmittelbaren Dokumenten des sich emanzipierenden Bürgertums. Wird aber die Geschichte seiner Emanzipation, eben als Geistesgeschichte, aufgefaßt als ein Gespräch, das das Bürgertum so lange mit seiner Kirche führte, bis beide Mächte schlechthin inkommensurabel wurden, dann liegt in den Predigtsammlungen des Jahrhunderts gleichsam ein Corpus der Antworten vor, die die Kirche auf die andrängenden Fragen des Bürgertums erteilte; und aus diesen Antworten ist der Rückschluß auf die Fragen, damit aber auf den tatsächlichen bürgerlichen Bewußtseinsstand möglich. Die Prediger des 18. Jahrhunderts, Jansenisten und Jesuiten bis zu kleinstädtischen Pfarrern wie dem von Gap, bilden die Hauptquelle des Groethuysenschen Buches. Schwer zugängliches und zumindest in Deutschland durchwegs unbekanntes Material ist mit bewundernswertem Fleiß zusammengetragen, mit großer Behutsamkeit interpretiert und bruchlos ins bruchlose, mit äußerster Sorgfalt auf unmerklichen Übergang bedachte Buch einbezogen: ein Buch, dessen Breite aus Respekt vor dem ›Leben‹ jegliche Härte der rationalen Konstruktion meidet, dafür aber wohl auch gelegentlich die scharfen Konturen der gesellschaftlichen Dialektik hinter der fließenden, vieldeutigen, bruchlosen Lebendigkeit verbirgt.
Der erste Band behandelt die Auseinandersetzung von Bürgertum und »katholischer Weltanschauung« – Weltanschauung als Totalzusammenhang gründender metaphysischer Vorstellungen genommen. Die Einleitung gibt gleichsam die innere Vorgeschichte des Dialogs von Kirche und Bürger: die Loslösung des Bürgers aus einem – von Groethuysen durchaus als positiv vorhanden gesetzten – Stand kollektiver Unmittelbarkeit seines theologischen Bewußtseins; die Verwandlung des erstarkenden Bürgertums in die diskutierende Klasse. An eine Skizze der Umbildung des »religiösen Erlebnisses«, das entweder »an Bedeutung einbüßt«, wobei »doch die Beziehung auf die Totalität des Geglaubten soweit wie möglich gewahrt bleibt«, oder aber so sich modifiziert, »daß die Glaubenswelt als solche gewissermaßen immer mehr einschrumpft und dabei doch dem Glaubenserlebnis als solchem seine zentrale Stellung innerhalb des Lebens gewahrt bleibt« (I, S. 70), schließt sich die eingehende Analyse der Verhaltensweisen des Bürgers zu den Grundstücken der katholischen Existenzlehre: zu Tod, Gott und Sünde an. Die ursprüngliche katholische Todeserfahrung steht im Zeichen der Reue: der Tod ist nicht bloßes, innerweltliches Naturphänomen, sondern als christlicher Tod die Pforte zu Gericht und Hölle, zum wahren, »zweiten« Tod. Steht im 17. Jahrhundert zentral das Bild der Hölle, dann wird die Wandlung des Todesbewußtseins deutlich an dessen Niedergang: wohl konzentriert sich, nach der Schrumpfung der theologischen Symbolkraft alles innerweltlichen Seins, der Glaube ins Rätsel des Todes und in die Höllenangst, die als fremde Macht den Bürger noch beherrscht, aber das Bild der Hölle verblaßt, wird – wie gesagt werden darf, aus der Allegorie – zur Metapher und gibt endlich den Menschen ihren profanen Tod frei – den Sterbenden, bei denen nach Vauvenargues Wort ihr Gewissen das Leben verleumdet (zit. I, S. 129). – Die Darstellung der Modifikation der »Idee Gottes« (I, 135ff.) führt in die innerkirchliche Dialektik: die Auseinandersetzung zwischen Jansenismus und Jesuitismus im 18. Jahrhundert. Dabei werden die Jansenisten mit Prädestinatianismus und Rigorismus, mit theologischem Irrationalismus und Existentialtheologie wesentlich, wenn auch mit Einschränkungen (I, S. 177f.) als Verteidiger des »alten Gottes« (I, S. 141) gegen neue Philosophie – die Aufklärung – und »neue Religion« – die jesuitische – – genommen, während »der Gott der Jesuiten weit eher der sich bildenden neuen Geistesverfassung entsprechen mußte als der Gott der Jansenisten« (I, S. 148f.). Zum nervus probandi der Auseinandersetzung wird die Frage der Prädestination, in welcher die Entscheidung für die unbeschränkte und der Menschenvernunft schlechthin entzogene göttliche Allmacht oder für das rational-immanent ausweisbare Menschenrecht beschlossen liegt, als welches vermöge seiner Kasuistik die göttliche Allmacht schließlich in sich hineinzieht und damit aufhebt. Davon sind die Konzeptionen des menschlichen Glaubensaktes als eines spannungsvoll-ungewissen in Furcht und Zittern oder als eines unentschiedenen bloßer ›Liebe‹ abhängig. – Die Interpretation der Wandlungen des Sündenbewußtseins schließlich geht aus von der Vorstellung der katholischen Weltansicht als einer totalen, der der Sünder kraft der natürlich-geschichtlichen Erbsünde ebenfalls als totaler zugehört (cf. I, S. 195f. und insbesondere S. 212). An Stelle des totalen Sünders tritt mit dem Fortfall der Prädestination und der Durchsetzung der moralischen Kasuistik, die sündhaftes und unsündhaftes Verhalten je und je unterscheidet, die partiale Sünde, die nicht mehr die sündhafte Subjektivität als solche betrifft; damit »verliert allmählich die Sünde ihre Schrecken« (I, S. 214), wird aus einer theologischen zu einer moralischen Kategorie und bestimmt sich schließlich nicht mehr nach dem Seelenheil des Subjekts, sondern nach seiner Leistung und deren sozialer Funktion. Damit ist die Welt der Immanenz statuiert und in sich bestätigt, eine Welt, die, nach Groethuysens Formel, »die Sünde nicht mehr kennt und der Gnade nicht mehr bedarf« (I, S. 238).
Wie die materialen Regeln dieser immanenten Welt, mit anderen Worten die kapitalistische Wirtschaftsethik, mit den katholischen Lebensvorschriften sich auseinandersetzen, sie besiegen oder – für Groethuysens Zeitbewußtsein das Wesentlichere – vergessen machen, das zu beschreiben ist die Aufgabe des zweiten Bandes, »Die Soziallehren der katholischen Kirche und das Bürgertum«. Die gewonnenen theologischen Distinktionen treten zurück; einem wesentlich-eindeutigen bürgerlichen Klassenbewußtsein wird ein ebenso eindeutiger Geist der Kirche kontrastiert. Das Bürgertum als Klasse wird als ursprünglich einer kirchlichen Ordnung inkommensurabel gedeutet, die in Wahrheit nur die gottgewollten, sündhaften und almosenspendenden ›Großen‹ und die ebenso gottgewollten Armen als die Nachfolger Christi kennt. Den Inhalt der sozialethischen Dialektik machen aus die vergeblichen Versuche des Bürgertums, in dieser kirchlichen Ordnung eine Mitte sich zu erkämpfen, auf welcher die bürgerliche Dynamik doch nicht beharren kann; und die ebenso vergeblichen Versuche der Kirche, das Bürgertum entweder als ›Mittelstand‹ in eine Statik einzubauen, die nicht mehr existiert, oder es von der kapitalistischen Expansion zurückzurufen. Dabei hat wohl das Bürgertum von den Jansenisten Elemente seines asketischen Arbeitsethos, von den Jesuiten seiner gesellschaftlichen Organisation übernommen; die Versetzung dieser Elemente in den autonomen Lebensraum des Bürgertums aber wandelt ihren Sinn: die Arbeit verliert ihren Bußcharakter und wird gemessen an der Leistung, die göttliche Vorsehung von der menschlich-rationalen Voraussicht abgelöst. Den Konflikt bringt die Ausbildung der spezifisch kapitalistischen Wirtschaftsgrundsätze, die für das Bürgertum unausweichlich sind und für die Kirche, die den gewesenen Zustand als Naturstand der Schöpfung annimmt, inakzeptabel bleiben. Das wird konkret am Problem des Darlehenszinses (cf. II, S. 157ff.), auf den kein kapitalistischer Unternehmer verzichten kann, ohne sich dem materiellen Untergang auszusetzen, und der in einem Widerspruch zum christlichen Gebot steht, den keine Interpretationskunst zu verdecken vermag. Mit der Unauflöslichkeit des Widerspruches wird die Kirche zum Feind des großen bürgerlichen Unternehmers, während sie den kleinen Händler eben noch dulden konnte, und stellt darum in der revolutionären Auseinandersetzung sich auf seiten der Feudalmächte. Der kirchliche Sündenbegriff stimmt mit der bürgerlichen Ethik nicht mehr zusammen: der honnête homme tritt an Stelle des Christen, und erst mit dem Sieg der bürgerlichen Klasse, die sich nicht mehr zentral als Trägerin der ›Entwicklung‹ fühlt, sondern als Garantin einer ›Ordnung‹, die ihr so naturgewollt erscheint wie zuvor dem Feudalismus die seine gottgewollt – erst in diesem nachrevolutionären Zustand schließen Bürgertum und katholische Kirche ihren Frieden zum Schutze des Bestehenden.
Dies der gröbste Umriß des vielverzweigten und gerade den groben Umriß meidenden Buches. Zur Kritik nur so viel: wenn das ›Erlebnis‹ zur Rechtsquelle der Erkenntnis wird, so handelt es dabei sich in Wahrheit nicht bloß um das Erlebnis der Menschen des dargestellten Zeitraumes, sondern ebenso das des gegenwärtigen Beschauers, der sich im Diltheyschen Sinne ›einfühlt‹. Das besagt: Groethuysen will ›religiöse Erlebnisse‹ und Verhaltensweisen verständlich machen, indem er sie mit einer Logik auseinander hervorgehen läßt, die bereits die unsere ist oder zumindest ein in der Grundstruktur konstantes Subjekt – paradox gesagt: ein psychologisches Transzendentalsubjekt – voraussetzt. Mit dessen Existenz steht aber zugleich auch die Möglichkeit in Frage, die vergangene Periode zu ›verstehen‹, und gerade die Eindeutigkeit und Geschlossenheit der Motivationszusammenhänge, in welcher sie sich darstellt, könnte sich als problematisch erweisen. Und zwar pragmatisch: dadurch, daß die historische Realität, allzusehr nach unserer Fähigkeit psychologischen Nachvollziehens konzipiert, nicht in der Schwere ihrer eigenen Sachgehalte gewogen wird, die sich zwar – wie etwa die Höllenvorstellungen – dem gegenwärtigen Bewußtsein in Wahrheit weit distanzierter darstellen mögen als bei Groethuysen, dafür aber von der Groethuysenschen Einfühlung ihrem spezifischen geschichtlichen Sein nach überhaupt nicht mehr erreicht werden. Das gilt zumal für das Hauptproblem des ersten Bandes, das des Jansenismus. Wenn der Jansenismus im ersten Bande allein als Rettung der alten Theologie in der neuen Zeit, gegen Jesuitismus wie Aufklärung, erscheint, um nach der Behandlung im zweiten einerseits selber Einfluß aufs Denken der Bourgeoisie zu gewinnen, andererseits dort mit dem Jesuitismus als »kirchliche« Weltanschauung undifferenziert zusammengefaßt zu werden, so spricht sich darin nicht bloß die entwicklungshistorische Intention, sondern auch ein methodischer Mangel aus. Um nämlich für ›uns‹ die Gehalte Pascals, Nicoles, Arnaulds und Quesnels nachvollziehbar zu machen – die Ursprünge der Bewegung im 17. Jahrhundert und die wichtigen Beziehungen der Cartesianischen Philosophie zu Port-Royal bleiben bezeichnenderweise unerörtert –, werden sie in einer Weise als »religiöse Phänomene« (cf. I, S. 139) verabsolutiert, werden die Gegensätze von Jesuitismus und Jansenismus derart zu »letzten«, »die in den Erlebnisweisen selbst begründet sind« (I, S. 186), daß im irrationalen Dunkel der Ur-Erlebnisweise das historische Phänomen des Jansenismus verlischt. Einer Analyse der Sachgehalte an Stelle der bloßen Erlebnisweisen des Jansenismus müßte sich zeigen, daß er, wie der zweite Band stillschweigend zugesteht, in weit engeren Beziehungen zum bürgerlichen Bewußtsein steht, als Groethuysens eigentliche Jansenismus-Analyse sie zugibt. Mag immer der Jansenismus den alten Glauben gegen jeglichen neuen Unglauben verteidigen: in der Vereinheitlichung des sündig existierenden Menschen, also der Anthropologie, und der abstrakten Vereinheitlichung Gottes als des schlechthin Transzendenten hat der Jansenismus zentral Züge ausgebildet, die nicht bloß in einem vagen Sinne ›moderner‹ sind als der Jesuitismus, sondern auch im strengsten Verstande bürgerlicher. Der Jansenismus – wie auch der Jesuitismus, wie auch die Aufklärung selber – ist kein in sich bruchloser Motivationszusammenhang, sondern widerspruchsvoll in sich, und seine historische Dynamik liegt ebensowohl in der Entfaltung der immanenten Widersprüche beschlossen wie im Aufprall auf heterogene »Weltanschauungen«. Das aber rührt an die innerste Problematik des Groethuysenschen Werkes. Seine Verstehenslogik ist die unskeptisch übernommene der ohnehin bloß begrenzt gültigen, widerspruchsfreien Motivationslogik des bürgerlichen Einzelnen. Sie aber gilt gewiß nicht für die Geschichte. Das Bewußtsein des Bürgertums ist mit der Ausbildung der Warenform, der Groethuysen nur einmal andeutend gedenkt (II, S. 93), widerspruchsvoll in sich, und es wäre die eigentliche Aufgabe einer Ursprungsgeschichte der bürgerlichen Klasse, gerade jene Widersprüche im Ursprung aufzuweisen, die die Groethuysensche Darstellungslogik nur stören. Dazu müßte freilich die geistesgeschichtlich-motivierende Betrachtungsweise verlassen, es müßten die Produktionsverhältnisse selbst inhaltlich in die Analyse einbezogen werden. Die Schranke des wichtigen und aufschlußreichen Buches von Groethuysen ist somit schließlich die der Geistesgeschichte selber, die es nicht verstattet, die Phänomene, trotz aller Erklärungen über ihre ›Tragik‹, in ihrer inhaltlichen Antinomik aufzudecken. Für eine solche Analyse allerdings liegen die Hauptaufgaben im 17. und nicht im 18. Jahrhundert, auf das Groethuysen vielleicht nicht zufällig sich beschränkte. In Richtung auf die bürgerliche Ursprungsgeschichte, wie sie auch Groethuysen vorschweben mag, scheinen mir die – noch unpublizierten – Untersuchungen Franz Borkenaus über die Groethuysenschen Resultate bereits erheblich hinauszugehen.