Frank Wedekind und sein Sittengemälde ›Musik‹
Es ist leicht, für die literarische Physiognomie dieses außerordentlichen Menschen Formeln zu finden, die in schlagender Metapher das Augenfällige seines Wesens einbegreifen. Seine Werke sind, gegeneinander sowohl wie in sich, mit Extremen übersättigt; und groß ist für den Betrachter die Versuchung, die tragische Grimasse, die aus dem Helldunkel seines psychischen Hintergrundes plastisch vorzuspringen scheint (sie scheint es wirklich!), als menschlich und stilgesetzlich statuierendes Prinzip anzuerkennen und zu deuten. Es ist leicht, Formeln zu finden: aber es ist schwer, den im Bewußtsein oberflächlicher Gegenwart fast schon erstarrten Dichter Frank Wedekind als einen Lebendigen zu begreifen. Denn das heißt: auf all den Reichtum extensiver Äußerungen, in denen eng mit der Zeit verwachsene Gefühls und Ideenkomplexe einleuchtend verkörpert scheinen, verzichten, zu suchen die Intensität seiner Seele, die sich offenbart sowohl im Zwang des historischen Verlaufes, in den der Dichter gestellt wurde, wie in der Einmaligkeit, die ihn der Zeit gegenüber exponiert.
Und solcher Verzicht ist unbequem. Wie einfach war es nicht, auf Grund von Dramen, die als des Dichters Monologe auch dem ungeistigsten Zuschauer einsichtig sind, diesen so erfreulich offenherzigen Dichter als tragischen Clown, närrischen König, antimoralischen Philister oder Zwergriesen je nach Geschmack zu verfluchen, zu preisen oder zu bedauern! Aber man muß sich klar sein, daß diese Formulierungen, auch soweit Wedekind selbst für sie verantwortlich zu machen ist, irgendwie schon Fälschungen sind. Abgesehen davon, daß sie zumeist aus der Stofflichkeit seines Werkes sich herleiten und wie alle künstlerische Stofflichkeit nur tiefere, dem Ablauf realer Bühnengeschehnisse unmittelbar versagte Inhalte widerspiegeln sollen, abgesehen auch davon, daß sie mehr aus der äußeren Lebensgestaltung des Dichters denn aus der Wurzel seines Wesens entspringen: es ist ein schöpferischer Mensch stets weiter und tiefer, als ein Paradoxon, sei es noch so geistreich. Denn es bezieht das Paradoxon um der zwingenden Bildwirkung willen die dem Schöpfermenschen immanente Antithese nur auf eine Seite seines Wesens; der Strom lebendigen Gegensatzes jedoch, der Werk, der Dramen zeugt, durchflutet den Menschen in seiner Ganzheit und ist nie ganz im Sinnlichen und Anschaulichen einzufangen. Darum ist das Paradoxon als kritisches Charakteristikum unzulänglich und bewirkt feuilletonistische Verengung. Bei Wedekind aber, dessen fundamentale Kraft die Fülle sehnsüchtig ergriffener Gegenständlichkeit ist, bedeutet jede Verengung schon Fälschung: hat er doch, indem er sich selbst verengte, sich selbst verfälscht.
Es soll nicht gesagt sein, daß jene tagesüblichen Formulierungen durchaus unrichtig sind. Sie haben symptomatische Bedeutung. Und sofern sie tiefer fundiert sind als im szenischen Verlauf, werden sie auch einer ernsthaften Betrachtung wiederum aufstoßen. Nur scheint es mir der heute gerade bei Wedekind durchweg nachweisbaren literarischen Einstellung gegenüber (er war ja selbst vielfach »Literat«) notwendig, deutliche Grenzen zu ziehen.
Der Dramatiker Wedekind ersteht an der Grenze der Zeiten. Die ihres Sinnes in Jahrhunderten beraubte Kultur verliert den letzten Halt in der Idee im platonischen Sinn: das Prinzip des Individualismus gipfelt im für sich seienden Ich. Der Eros flieht aus der Welt. Die Kultur wird zur Zivilisation, ihre Wertungen verlieren ihre Bezogenheit auf ein überpersonales Prinzip und werden relativ auf die Bezugssysteme der verschiedenen in den leeren Raum hinaustretenden Individuen. Das Ich wird entselbstet zur Zahl in der zwecklos und mechanisch ablaufenden Transformation des Lebensvorganges. Denn es hat den Eros verloren. Und nur der Eros gibt ihm feste Gestalt und Haltung in der Welt des Äußeren. Jede Zeit aber stellt mit ihrer Kunst die Frage nach der Stellung des Ich zur Welt. Während in einer sinngebundenen Kultur – bei Dante etwa – diese Grundfrage sich ausdrückt in der Frage nach der Haltung des gotterfüllten Ich zu geistiger und sinnlicher Welt, zu Metaphysis und Physis, bedeutet sie in unserer sinnentleerten Welt geradezu die Frage nach der Existenz des Geistigen schlechthin. Geht dies Problem ins dramatische Kunstwerk ein, so wird es zum Problem der Liebe, denn Liebe ist im weitesten Sinn die einzig vorstellbare Form des Göttlichen zwischen Ich und Du. – Der Künstler aber trägt selbst an seiner Zeit, auch sein Ich ist dem Atomisierungsvorgang irgendwie verfallen. Er hat nicht den Gott, sondern sucht ihn; er hat nicht die Liebe, sondern sucht sie und sieht sie darum in der Enge seiner willenhaften Gebundenheit. Und vor allem: der kosmische Bereich der Liebe zerfällt ihm, weil nicht vom Sinn gebunden, wird in sich selbst problematisch und der Tummelplatz notentborener Verkörperungen von Geist und Ungeist. So wird Venus und Elisabeth, so wird die in sinngebundener Epoche naturhaft notwendige Liebe von Mann zu Weib doppeldeutig und also unrein. So wird die Kunst Wagners und Strindbergs.
Hier beginnt Wedekind. Es ist nicht so, daß er wie Hebbel die ganze tragische Weite unseres entgeisteten Daseins umfaßte. Er hat nicht das Wissen um die letzten metaphysischen Zusammenhänge, er, der wahrscheinlich nie ein philosophisches Buch gelesen und allenfalls wie die ganze Generation seinen Nietzsche mißverstanden hat. Aber er hat ein Anderes, das ihn weit aus der Zeit herausstellt. Der Bohémien, der in kompakten Bühnenbildern der bourgeoisen Epoche vielbestaunte Pervertiertheiten zuschrie, ist als einziger vielleicht naiv. Daß er nicht mehr weiß, als Zeitungen oder Straßenmädchen, daß seine historische Erkenntnis nicht über das Lexikon hinausreicht, gibt ihm etwas, was seit dem jungen Schiller nicht da war. Er ist wieder ein Anfang. Denn er hat schon den großen Atem. Seine Dramatik ist abenteuerlich wie die Prosa Dostojewskijs, das Spielmäßige der Handlung sitzt nicht artistisch, sondern akrobatisch, er ist unerhört wagemutig, er pocht an jedes Gefühl und kriecht in jeden Instinkt, er schreit, er plakatiert. Er geht ins Große. Er ist gar kein Psychologe, er sah nie, wie die Menschen wurden, sondern nur, wie sie sind und auch das nur mit einem Auge. Er war der Zeit staunenswert voraus, weil er so weit hinter ihr zurück war. In seinem ersten Laut überschrie sich der Naturalismus. Und als er wuchs, wuchs er in eine Fülle des Gegenständlichen mit seinem schamlos empfangenden Leben, wie sie in Deutschland lange nicht da war. So suchte er nach der Liebe. Er hatte das Problem in den Fingerspitzen.
Er hatte es auch im Rückenmark. Er erlebte die Liebelosigkeit der Epoche in der krassesten Exemplifizierung auf seine empirische Individualität. Er erlebte die Liebe als Widersinn: als Verführung und Hurerei. Man kann das als Faktum nehmen oder sich freuen über die schöne Unanständigkeit, mit der er der gottlosen Zeit ihre Götzen zerstampfte, auch wenn er den Weg zum Gott ihr nicht weisen konnte. Aber es ist nicht dies allein. Es ist in ihm die Liebe selbst dialektisch geworden. Die Liebe, des Geistes gültigste Form, erscheint ihm losgetrennt vom Geiste, widergeistig. Und weil sie ihre Herkunft vom Göttlichen auch im Kot noch gebietend verkündet, wird sie zum Fleischgeist. Träger der Liebesidee ist ihm nicht – wie dem von gleicher Sehnsucht getragenen Tolstoi – das reine Naturwesen, sondern als höchst zivilisatorischer Protest die animalische und schöne Dirne. Der Geist zieht als Liebe wider sich selbst zu Felde. Dies ist die letzte Wesensantinomie: aus ihr entspringen mittelbar alle Formeln ethischer und ästhetischer Paradoxie.
Diese Wesensantinomie hat aber ihre Wurzeln nicht im historischen Prozeß, sondern in der Einmaligkeit des Dichters Wedekind. Die tragische Entscheidung, aus der die Liebe lebendig aufwachsen könnte, hat in ihm noch nicht in ihrer Reinheit sich vollzogen. Seine Stärke ist seine Schwäche: ein letztlich naiver Künstler wird die Probleme einer späten und gänzlich bewußten Epoche nicht bewältigen. Wedekind war schließlich ungebildet. Das will sagen: daß ihn die Kulturinhalte, deren Gestaltung ihm Aufgabe war, nicht entscheidend formten, daß Zeitliches und Überzeitliches in ihm nicht durch das bewußte Eingehen in den Kulturvorgang geschieden wurden. Und ohne solche Scheidung ist keine Entscheidung. Er ergreift die Probleme mit dem Instinktwissen um die Idee, aber der Weg zur Bindung und Kulturwerdung der Idee bleibt ihm versagt.
Und darum auch die Synthese: darum bleibt die eingeborene und durchaus schöpferische Antinomie seines Wesens paradox: sie kann nicht zur höheren Geistform umgeschaffen werden. Sie läßt ihn nicht zur reinen Gestaltung gelangen. Er ist nicht tragisch, wie er eitel genug war zu glauben: er ist ein Grenzfall. Als Ich in der Donquixoterie seines Geistprotestes wider den Geist und auch im Werke. Denn auch in seinem Werke wird eine reine Entscheidung nicht vollzogen. Unter dem Zwang der Fleischgeist-Ethik werden seine Gestalten sittlich doppeldeutig und sind zugleich berufen, Träger der Idee zu sein. Daß dies möglich werde, macht er einen Akrobatensprung und verschiebt die Welt ganz mathematisch, bis er seine »Helden« zum Koordinatenursprung machen kann, sei es auch um den Preis, jeweils neue Moralen ad hoc zu konstruieren. Dieser Mut ist eine große Sache und Nietzsches nicht ganz unwürdig. Aber die Welt, die von Dichters Gnaden wird, taumelt von Relation zu Relation und ist die Welt der Tragikomödie. Sie ist stilgesetzlich unrein und bleibt deshalb ästhetisch unzulänglich. Wedekind hat ja auch keine Sprache. Der Zwang, konträre geistige Welten ineinander zu transformieren, ließ sein Ich keine feste Position gewinnen. Sein Ich muß sich selber transformieren und redet journalistisch. Nur dort, wo der sittliche und ästhetische Transformierungsprozeß selbst in den Mittelpunkt des Geschehens gerückt wird, gewinnt er in epigrammatischer Prägung (die immer tiefer sich prägt als etwa bei Wilde) zwangsläufigen Ausdruck seiner epigrammatisch zerfetzten Wesenheit: im ›Marquis von Keith‹, in manchen Gedichten. – Und manchmal, freilich, ist die lyrische Flamme da, aus der der Brand des Dramas wird, und brennt sich eine unverwechselbare Form, in Stellen von ›Frühlings Erwachen‹ und von ›Erdgeist‹.
Man muß sich über das Kernproblem Wedekinds klar sein, um zu dem »Sittengemälde« ›Musik‹ die rechte Einstellung zu finden. Denn dies Stück liegt an der Peripherie von Wedekinds dichterischem Umkreis. Losgelöst aus dem Zusammenhang der Werke, ist es geeignet, vom Wesen des Künstlers Wedekind ganz schiefe Vorstellungen zu geben. Es ist nicht vollbürtig, es ist eine Auch-Äußerung.
Schon der Untertitel »Sittengemälde« ist bedenklich. Wenn gesagt wurde, daß Wedekind an jeden Instinkt sich wende, so fällt darunter auch – leider! – der Volksstückinstinkt. Er wirkte nicht nur auf Unterleib, Zwerchfell, Grimasse. Er kannte auch die Tränendrüsen, und das ist keines Künstlers würdig. Sittengemälde pflegen Öldrucke zu sein, und das ist schlimm. Immerhin: Wedekind hat vielleicht an Hogarth gedacht. ›Musik‹ klingt nach Komödie. Wedekind gibt sich hier überzeugt tragisch. ›Musik‹, das bedeutete ein Milieu, süddeutsches Konservatorium mit schwärmenden Schülerinnen und viel sexuellem Sprengstoff, und darüber hinaus das Leid der Liebe oder, mit Wedekind zu reden: wenn einer ein Lied singen kann. Denn das ist die Idee des Ganzen. Es ist nur eigentlich keine Idee, sondern eine Tendenz. Ein Musikprofessor ist verheiratet und hat ein Verhältnis mit einer Schülerin, die ganz hebbelsch und sicher nicht ohne Absicht den Vornamen Klara hat und den ironisch-pervers gemeinten Zunamen Hühnerwadel. Sie hat sich ein Kind abtreiben lassen, die Sache kommt heraus, der Professor benimmt sich schofel und die Gattin mit einer teils gütigen, teils hysterischen, teils trotteligen Weitherzigkeit. Man sieht: dies Stück stammt vom Naturalismus her. Die arme Klara kommt durch des Professors Schuld ins Gefängnis und gibt dem Dichter Anlaß, der Obrigkeit einige Schläge zu versetzen. Else, die Gattin, befreit sie, und die Sache geht wieder von vorne an. Es wäre alles ganz gut, wenn nicht ein Literat Franz Lindekuh, der Stellvertreter Wedekinds auf – dieser – Erden, ganz nach berühmten Mustern moralisch-amoralisch die Sache in die Luft zu sprengen drohte und dabei sich von Josef, dem Professor, mit Beweismaterial dartun lassen müßte, daß Klara das edelste, anständigste Menschenkind sei, das er je kennen gelernt habe. Das Unglück wird gestoppt und es zeigt sich, daß Klara wieder ein Kind erwartet. Diesmal bringt sie es zur Welt, aber es stirbt (die Doktoren bekommen eins ab im Stil von ›Frühlings Erwachen‹) und Klara wird wahnsinnig, wenigstens temporär. Denn Wedekind gibt sich hier überzeugt tragisch. Da er sich jedoch zur psychischen Paradoxie verpflichtet glaubt, so nennt er das letzte Bild »der Fluch der Lächerlichkeit« und begründet diesen Titel damit, daß er Klara von diesem Fluch verzweifelt reden läßt, ohne daß ein Anlaß dazu evident würde.
Kein Zweifel: Klara ist eigentlich nur ein Abbild der Klara aus ›Maria Magdalene‹, und spezifisch wedekindisch ist nur die verkrampfte Sehnsucht nach Keuschheit, die durch diese Gestalt zittert. Diese Sehnsucht, so menschlich ergreifend sie wirkt, bleibt in ›Musik‹ irgendwie rückschauend – romantisch, und schließlich ist es doch so, daß Klara an der blauen Haarschleife ihrer verlorenen Mädchenheit sentimentalisch sich aufhängt. Vor hundertundfünfzig Jahren war das gefallene Mädchen als dichterische Gestalt eine Entdeckung und konnte die revolutionäre Ethik tragen. Heute ist diese Figur in die Oberfläche der Zeit getreten und nimmt willig die Ergüsse derer auf, die auf der Oberfläche der Zeit bleiben wollen, ist recht eigentlich zur Domäne der Sudermänner geworden. Es gehört schon die dichterische Kraft von ›Frühlings Erwachen‹ dazu, einen mehr und mehr ins Sensationelle gerutschten Typus zum dramatischen Individuum neu zu schaffen. Aber die mangelnde Psychologie wäre noch kein Einwand, höchstens im Sinne Wedekinds, der hier ein naturalistisches Drama schreiben wollte. Der ›König Nicolo‹ ist höchst unpsychologisch, und doch wird jede Figur so stark von der Idee gezeugt, daß im Rahmen der bilderbogenhaften Stilisierung starke Dramatik zustande kommt. So stark ist das in ›Musik‹ nicht der Fall. Das Milieu wirkt in seiner nackten Stofflichkeit, ohne zum Stilprinzip verdichtet zu werden. Es ist nicht die strömende Fülle spezifisch geschauter Menschen da wie etwa im ›Marquis von Keith‹. Und die Idee? In ›Lulu‹, im ›Hetmann‹ und in den Spätwerken ist eine Idee spürbar, die, mag man noch so sehr ihre Grenzen im Individuum Wedekind erkennen, aus diesem Individuum organisch hervorwächst. Und vor allem: dort handelt es sich um eine künstlerische Idee, am reinsten wohl im ›Hetmann‹, wo der Dichter Wedekind den Kulturpolitiker Wedekind aus sich herausstellt und in seiner menschlichen Problematik objektiviert. ›Musik‹ hingegen ist geradezu ein kulturpolitisches Manifest. Die Zielstellung dieses Dramas ist nicht künstlerisch absolut, sondern zeitlich zweckhaft. Es handelt sich um das Recht der freien Liebe, und das ist letztlich keine künstlerische Angelegenheit.
Aber es ist bei alldem nicht Tendenz im Sinne etwa von Ibsens Gesellschaftsdramen. Der Hauch des Menschlichen weht darin, die Glut eines Paränetikers, der an den Dingen brennt, für die er redet. Der zuckende Jammer des Erlebnisses zerstörter Jugend, der dem Menschen Wedekind im Blute tief saß, brüllt doch über die Lattenzäune landläufiger Tendenzbezirke hinaus in gültigere Bereiche. Dazu kommt, daß dies Stück, der flüchtigen Diktion nach sehr rasch hingeworfen, die stachelnde, sichere Kolportagetechnik des gehetzten Dichters in den drei ersten Bildern zeigt, freilich um im letzten Bild hart am melodramatischen Kitsch zu landen. Allein die menschliche Ehrlichkeit dieses doch mit jedem Atemzug gelebten Dramas hebt es weit über den Durchschnitt der heute schon schulmäßigen und darum zu jeder Sünde wider den Geist bereiten Ausschrei-Produktion hinaus.