Theodor W. Adorno und Carl Dreyfus

 

Lesestücke
Die Pendelwagen

Ein berufstätiges junges Mädchen äußerte zu seiner Kollegin: Man hat keine Freude an der Trambahn. Selbst wenn ich morgens fünf Minuten früher wegfahre als notwendig, hilft es wenig. Zwar kann ich dann mit dem schwach besetzten Pendelwagen fahren, anstatt in der überfüllten Haupttram, aber ich komme kaum je früher zum Ziel. Die Pendelwagen haben nämlich die Gewohnheit, nicht, wie vorgesehen, in der Mitte des Zeitraumes zwischen zwei Hauptzügen zu verkehren, sondern unmittelbar vor dem darauffolgenden Hauptzuge abzugehen, weil Führer und Schaffner der Pendelwagen sich mit den Beamten der Hauptzüge an der Abgangsstation unterhalten. So erreiche ich an der Umsteigstelle nicht mehr den fahrplanmäßigen Anschlußwagen, sondern erst den nächsten –. Nicht genug damit, ich komme manchmal durch das lange Warten später an mein Ziel, als wenn ich den nächsten Hauptzug benutzt hätte. Denn er fährt weiter als der Pendelwagen und erreicht dann die zweite größere Umsteigestelle, von der mehrere Verbindungen abzweigen. Von dort ist es wohl in der Luftlinie weiter zum Ziel als von der ersten Umsteigestelle, aber man muß wegen der vielen Linien nie warten.

 

Sitzung

Es fanden sich nicht alle Herren des Vorstandes ein, nur fünf, weil es nachmittags sechs Uhr war. Sie berieten das Programm für das halbe Jahr. Die Programmgestaltung bot Schwierigkeiten, weil einige Herren des Vorstandes zugleich Vorständen anderer Gesellschaften ähnlicher Art angehörten. Die eine jener Gesellschaften müsse in dieser aufgehen, da sonst ein Wettstreit entstehe, der fruchtbare Arbeit jeder einzelnen unmöglich mache. Gestatten Sie den Hinweis auf unsere Schwestergesellschaft in Hamburg, widersprach ein Herr aus zwei Vorständen. Ihr Halbjahres-Programm ist erheblich umfangreicher als die beiden der heute in Frage stehenden Gesellschaften zusammengenommen, obwohl sie wesentlich jünger ist als beide. Daraus folgt, daß hier bei veränderten Umständen beide Gesellschaften getrost nebeneinander leben können. Das bestreite ich, hieß es dagegen, die Grundlagen sind völlig verschieden. In Hamburg sind die Möglichkeiten bei weitem nicht so erschöpft wie bei uns. Man ist dort viel ursprünglicher. Ein Herr meldete sich. Ich möchte Ihnen einen Vorfall erzählen, der zwar nicht zur Geschäftsordnung, aber immerhin zur Sache gehört. Ein Hamburger, den wir alle kennen, kam mit einem Anderen ins Gespräch: »Ich hatte mir einen neuen Handkoffer gekauft zu einer Zeit, deren schwierige Verhältnisse jede solche Anschaffung zu einem Opfer machten. Eines Tages nahm ich ihn mit auf die Reise. Ich verließ das Abteil für einige Augenblicke. Als ich zurückkehrte, war der Koffer verschwunden. Verzweifelt suchte ich ihn überall ohne Erfolg. Tage danach begab ich mich zur Dienststelle für gefundene Gegenstände. Dort fand ich meinen Koffer wieder. Es war der glücklichste Tag meines Lebens.«

 

Regent

Das schöngelegene Sommerschloß des verstorbenen Regenten wurde viel besucht. Führungen fanden in Gruppen von je dreißig Personen statt. Die Teilnehmer warteten an der Drehtür. Wenn es dreißig waren, wurden sie eingelassen. Im Treppenhaus waren nur fünf überlebensgroße Statuen sehenswert, die am Aufgang der Freitreppen angeordnet waren. Sie seien allegorische Darstellungen der fünf Erdteile, Europa in der Mitte. Die Figuren seien jetzt Gips, hätten aber Marmor werden sollen. Decken und Wände des Jagdzimmers waren ausgefüllt mit Schnitzerei von Jagdszenen: Jäger, hetzende Hunde und viel tote Beute in Tälern. Die Krone, eine Kaiserjagd, sei auch aus Gips, hätte Elfenbein werden sollen. Im Arbeitszimmer des Regenten stand ein großer Schreibtisch an der gläsernen Flügeltür zur Parkaltane. Ihn zierte eine kunstvolle Uhr aus der Blütezeit in Bronce. Der Parkettboden unter dem Läuferbelag sei von italienischen Holzkünstlern in Labyrinthform angefertigt. Auch das Deckengemälde sei italienisch. Durch das Sterbezimmer kam man ins Prunkbad. Die Fresken seien durch Wasserdämpfe angegriffen und deshalb verhängt, ihr Kunstwert sei zum Glück nicht sehr erheblich. Die zahlreichen weiteren Räume seien zur Besichtigung nicht freigegeben. Sie würden von den lebenden Herrschaften bewohnt.

 

Erwartung

Nach dem gemeinsamen Abendessen, ehe die Teilnehmer den Speisesaal verließen, entnahm ein Herr Dr. Küntzel seinem Notizbuch den Ausschnitt aus einer illustrierten Zeitschrift: Ist das nicht eine schöne Frau? Man reichte den Ausschnitt weiter. Um neun Uhr werde ich abgeholt, damit wir nicht nur Herren sind. Von dieser Dame? Nein, von ihrer Freundin, die auch am Chemnitzer Stadttheater verpflichtet war, jetzt aber hier wirkt. Bald danach begab man sich in die Hotelhalle. Die Herren nahmen an verschiedenen Rauchtischen zu Kaffee und Likören Platz, während Herr Dr. Küntzel im Vestibül, die Drehtür im Auge, auf- und niederging. Manchmal sah einer der Herren auf, ob die Erwartete schon erschienen sei. Eine Viertelstunde nach der verabredeten Zeit zahlten die Herren und begannen aufzubrechen, nicht ohne sich mit Herrn Dr. Küntzel über die Fortsetzung des Abends verständigt zu haben. Jener blieb unruhig zurück. Die Herren indessen schoben sich gruppenweise über den großen schon stilleren Platz. Sie gedachten, um Zeitverlust zu vermeiden, ihrem Freund behilflich zu sein, begrüßten verschiedene fremde Damen und fragten sie, ob sie etwa mit Herrn Dr. Küntzel verabredet seien. Dabei wählten sie solche Damen, deren Aussehen und Kleidung auf Künstlertum hinzudeuten schien, jedoch vergebens. Erst kurz vor dem verabredeten Ort bemerkten die Herren eine schlanke Frau in weitem Pelzmantel und Abendtuch, das die Stirn offen ließ. Sie kenne ihn. Es war die Dame vom Ausschnitt.

 

Der Mord

 

Ein Mädchen erzählte: Ich war in einem feinen Haus in Köln. An einem Abend kam ein feiner Herr in Gehrock und Zylinder. Guten Abend sagte der Herr und legte die Hand an den Zylinder. Dann verlangte er bei Madame die Hilde. Sie sei oben. Er ging hinauf und blieb eine gute Stunde. Als er allein zurückkam, griff er wieder an den Zylinder und sagte nur guten Abend. Nicht viel später erschien ein Schutzmann, grüßte auch mit der Hand und fragte nach Madame. Wenn das Mädchen nicht vom Fenster wegginge, müsse er das Haus schließen. An welchem Fenster? Im zweiten Stock. Madame schaute selbst nach, dann hörten wir, wie sie schrie, und liefen alle in den zweiten Stock. Im Bett lag nackt Hilde ohne Kopf. Der Kopf stand auf dem runden Tisch am Fenster, das Gesicht der Straße zugekehrt. Neben dem Kopf lag ein langes Messer und ein Tausendmarkschein. Seit diesem Abend mußte jedes Mädchen seinen Herrn herunterbegleiten.

 

Eisenbahn

 

Ein Kaufmann hatte den ganzen Morgen mit Tätigkeit in der Hauptstadt zugebracht und stieg um zwei Uhr in den Schnellzug. Er verließ pünktlich um zwei Uhr sieben die Halle. Auf dem Tisch vor seinem Fensterplatz lag ein Zettel mit dem dreisprachigen Aufdruck: In diesem Zug befindet sich ein Speisewagen. Augenblicklich erschien ein Angestellter der Speisewagengesellschaft und forderte auf zum Kaffee Platz zu nehmen. Ob man noch etwas zu essen haben könne? Gewiß, wenn auch nur à la carte. Der Kaufmann stand auf, der nächste Wagen war der Speisewagen. Dort nahm er im Nichtraucher-Abteil Platz, in dem nur noch ein junges Ehepaar saß. Der Oberkellner fragte, ob er Kaffee oder Tee wünsche. Kann ich noch etwas zu essen haben? Selbstverständlich, mein Herr, sogar noch das Menü, das heute besonders schön ist. Selbstverständlich ganz frisch. Sofort wurde serviert, und der Servierkellner entkorkte die schon auf dem Tisch stehende Flasche Rotwein. Auf dem Rückweg zum Abteil begegnete ihm die diensttuende Frau in Schürze und Häubchen. Sie rieb mit einem Leder die Messingstangen blank, auf dem anderen Arm trug sie einen Pack frischer Handtücher. Im Abteil las er eine Zeitschrift mit dem Aufdruck: Unseren Gästen gewidmet. Sie war von der Speisewagengesellschaft auf die Plätze gelegt worden. Bald kam auch der Schaffner und bat ohne einzutreten um die Fahrkarte. Haben wir Verspätung? Nein, antwortete der Beamte, wir sind ganz fahrplanmäßig. Auf dieser Strecke gibt es überhaupt keine Verspätung. Beim Aussteigen war der Mitreisende behilflich.

 

Der Morgen

 

Ein Jüngling verbrachte seinen Urlaub in einem südlichen Kurhotel. Als er am Morgen, noch im Schlafanzug, zum Closet ging und öffnete, fand er auf dem Closet eine ältere Dame. Obwohl er sich beeilte, die Tür sogleich zu schließen, mußte er die Dame sehen. Sie trug ein schwarzes besticktes Kleid, unter dem hochgerafften Rock lange weiße Unterhosen, schwarze Stiefel. Die Dame begann zu murmeln. Als sie mittags im schwarzen Kleid auf die Veranda kam, verbeugte sich der Jüngling.

 

Erinnerung

Der maßgebende Vertreter eines großen Unternehmens erzählte gelegentlich Folgendes: In Bezug auf Frauen habe ich ein sicheres Urteil. Ich bin darin sehr empfindlich, Bälle besuche ich niemals. In Baden-Baden lernte ich eine amerikanische Künstlerin kennen und verbrachte eine Woche mit ihr, in dem gleichen Hotel. Die Tage verflogen wie Stunden. Niemand fragte nach Namen und Wesen. Als wir uns trennten, wußten wir nichts voneinander. So wurde das Erlebnis eine schöne Erinnerung und ist es geblieben.

 

Klage

Sogleich nach Anfang der Geschäftszeit, als die Flügeltür geöffnet worden war, betrat eine Frau, sorgfältig gekleidet, die Halle des Bankgebäudes und ging rasch auf den gegenüberliegenden Schalter für Devisen zu. Nach ihrem Begehr gefragt, verlangte sie den Herrn Generaldirektor zu sprechen. Dann sei sie hier falsch, die Direktion liege im ersten Stockwerk. Man möchte sie oben melden. Das sei leider zwecklos, da der Herr Generaldirektor voraussichtlich noch nicht im Hause sich befinde und für den ganzen Vormittag Besprechungen vorgemerkt seien. Jetzt begann die bislang ruhige Frau zu weinen: Sie müsse bei dem Herrn Generaldirektor dringend vorstellig werden. Man bedaure tatsächlich. Es ist darum, rief sie sehr laut aus, er will von meinem Jungen nichts mehr wissen, das ist traurig für ihn. Der Portier und ein Page, herbeigeläutet, entfernten die klagende Frau, in der Direktion wurde Meldung erstattet.

 

Die Reise

 

Beim Sohne eines Apothekers läutete der Provisor an: Ob er Herrn Baumann kenne. Weil Herr Baumann die gleiche Mittelmeerreise machen wolle wie der Provisor, und er sei ein Klassenkamerad des jungen Herrn. Er denke an dieselbe Route ab Genua: Malta, Gibraltar, Spanien, zum Schluß Marseille. Er müsse sehr wohlhabend sein, er habe sich genau nach allen Preisen erkundigt. Auch Herr Baumann wolle drei Wochen fortbleiben, die Fahrten ins Land eingerechnet. Er habe mit dem jungen Herrn zusammen Abitur gemacht. Der junge Herr sei aber erst später in die Oberprima eingetreten. Er habe seinen genauen Plan mit dem verglichen, den der Provisor schon ausführte, alle Hotels. Er habe übrigens mit dem jungen Herrn gelegentlich musiziert. Er sei ein großer, schöngewachsener, junger Mann. Der junge Herr müsse sich an ihn erinnern können. Leider hätten sie ja in den letzten Jahren fast jede Fühlung verloren. Das habe er ihm nur sagen wollen. Besten Dank.

 

Inkognito

Eine Tante Anna klagte: Seit ich siebzig Jahre alt geworden bin, habe ich es schwer. Um dem Ansturm der Ehrungen zu entgehen, bin ich mit meiner besten Freundin am Geburtstage nach Wiesbaden gefahren. Nun muß ich schon seit vierzehn Tagen zu Hause bleiben, um die Glückwünsche entgegenzunehmen. Ich kann den Gratulanten, die von meiner Abwesenheit wußten, nicht zumuten, vergebens zu kommen. Immer noch erwarte ich Besuche.

 

Seminarabend

Eine junge Dame, selbst immatrikuliert, nahm mit Studenten und Studentinnen an einem akademischen Seminar teil. Sie erschien kurz vor Beginn der Sitzung, zeitig genug, ihre näheren Bekannten zu begrüßen. Nach dem zweiten Glockenzeichen kam der Seminarleiter, um alsbald einige Thesen der Besprechung zu überlassen. Es redeten zunächst die beiden Assistenten und vertraten längere Zeit ihre abweichenden Meinungen. Dann wurde der zweite Assistent von einem Herrn sachlich bekämpft, der unmittelbar vor seiner Prüfung stand. Ihm schien die Behauptung des zweiten Assistenten der Wirklichkeit allzusehr entfremdet, ohne doch die Ausgangsthese an Tiefe zu erreichen. Der Seminarleiter mochte auf Seiten des begabten Herrn stehen, hielt sich aber noch zurück. Die junge Dame hörte alle Meinungen an. Sie entschied sich einzugreifen und wählte die Meinung des zweiten Assistenten. »Wenn ich Herrn Doktor richtig verstanden habe«, führte sie aus, »war seine Ansicht keineswegs wie behauptet wurde. Die Erfassung der Erkenntnis in diesem Bereich trifft fraglos auf ungeheure Schwierigkeiten. Allein bei gründlicher Untersuchung zeigt sich, daß Endpunkt und Ausgangspunkt in Wahrheit die gleichen sind.« »Sehr schön«, sagte der Seminarleiter. »Ich fürchte nur, daß nicht alle Anwesenden den Sinn dessen voll erfaßt haben, was Fräulein N. vortrug. Sie wollte sagen: Hier sei die Lösung nicht zufällig der Frage gleich; der Gegenstand fordere dies, um sie in sich aufzunehmen. Habe ich Ihre Auffassung richtig wiedergegeben, Fräulein N.?« Die junge Dame stimmte zu, ohne noch einmal das Wort zu ergreifen. Sie war nach der Seminarsitzung zum Abendessen geladen. Obschon sie nur ein kleines Abendkleid angezogen hatte, verbarg sie es unter ihrem Mantel, um von Studenten und Studentinnen nicht abzustechen. Als einzige jedoch in Hut und Mantel zog sie gleichwohl die Blicke der anderen auf sich. Eine halbe Stunde vor Seminarschluß war es für sie Zeit zu gehen. Sie erhob sich leise, nickte dem Seminarleiter zu und entfernte sich aus der Sitzung.

 

Visite

Ein Chef kam in den Korrespondenzraum. Auf dem Schreibtisch des ersten Angestellten lagen zwei gleich hohe Stöße von Korrespondenz. Der eine war erledigt, der andere sollte noch erledigt werden. Zwischen dem Telefon und der Telefonuhr befand sich ein Gestell mit zahlreichen Stempeln. Am Tisch des zweiten Angestellten, der ebenfalls einen Armsessel hatte und rauchte, wurden Dispositionen getroffen. Dort war eine größere Reihe von Handbüchern angeordnet, die Rücken nach außen. An ihren Arbeitstischen saßen vier Damen. Die erste Dame durchblätterte geräuschvoll den Kurzschrift-Block. Die zweite Dame hämmerte mit allen Fingern auf der Maschine, während die dritte Dame hinter ihrer Maschine kaum zu sehen war und klingelte. Viele mit Papier gefüllte Ablegemappen waren auf dem Tisch und unter dem Tisch der vierten Dame gehäuft, das Mädchen war an seiner Maschine beschäftigt. Es fiel dem Chef schwer festzustellen, was gearbeitet wurde. Er verließ wortlos das Zimmer.

 

Gegenbesuch

Zwei Freunde hatten sich zu einer Beerdigung verabredet. Der eine der beiden verkehrte gesellschaftlich im Hause der Tochter des Verschiedenen. Den anderen bestimmten vorwiegend berufliche Gründe an der Bestattung teilzunehmen, zumal er anschließend an die erste einer zweiten auf dem gleichen Friedhofe beizuwohnen hatte. Das Berufsauto des zweiten Freundes holte den ersten an seiner im Vorort gelegenen Wohnung ab. Beim Zusammentreffen im Büro fand sich ein auswärtiger Geschäftsfreund unerwartet ein. Die Herren fuhren gemeinsam weiter, die gekrümmte Pappelallee um die Peripherie. Alle drei hatten die Zylinder abgenommen, damit sie im niedrigen Auto nicht Schaden litten. »Ich finde es rührend«, sagte der erste Freund zum Geschäftsfreund, »daß Sie eigens aus Pirmasens herbeigeeilt sind, dies um so mehr, als Sie ja, soviel ich weiß, zu dem Verstorbenen nur in äußerst flüchtigen Geschäftsbeziehungen gestanden haben sollen.« »Das trifft nicht ganz zu«, entgegnete der Angeredete, »denn die Familien waren befreundet. Der Verstorbene kam ja anläßlich der Beisetzung meines seligen Vaters persönlich nach Pirmasens. Darum muß auch ich ihm die letzte Ehre erweisen.«

 

Freitod

Fräulein Lucie wußte über den Tod folgendes zu berichten: Nach drei Uhr nachts, als die gnädige Frau vom Besuch bei dem Herrn Direktor zurückgekommen war, unterhielten wir uns beim Ausziehen. Sie erzählte, er sei heute abend so nett gewesen wie noch nie seit der Scheidung. Gute Liköre hätten zur guten Stimmung beigetragen. Er habe sich nach Einzelheiten aus dem Leben der gnädigen Frau erkundigt. Auch sei er überhaupt nicht müde gewesen. Als ich dann im Nebenzimmer nach der Kleinen schaute, hörte ich die gnädige Frau. Ich ging hinein und fand sie auf dem Bett mit dem Apparat. Sie rief: Berti, mein Berti, und hängte ein. Der Diener hatte den Tod gemeldet. Sie war von der Nachricht sehr erschüttert.

 

Lauter Lachen

Als der Schwank zu Ende war, kam der Theaterdiener in die Garderobe und suchte eine der Darstellerinnen. Sie hatte in dem Stück die Rolle eines jungen reichen Mädchens aus vornehmem Hause gespielt, das zur Beobachtung seines zukünftigen Gatten als Bürofräulein in dessen Unternehmen wirkte. Nun wurde sie in das Zimmer des Direktors gerufen. Der Direktor bat sie doch Platz zu nehmen und sagte: »Liebes Kind, warum sind Sie nicht lustiger? In einem Schwank im Sommer muß man vor allem fröhlich sein. Haben Sie Kummer? Warum lachen Sie nicht lauter? Warum bewegen Sie sich nicht mehr? Das ist eine entzückende Rolle. Und dann, warum sprechen Sie nicht lebendiger? Das Beste geht verloren. Wenn man jung ist und so schön wie Sie, kann es einem nicht schwer fallen. Morgen wird es sicher gut werden.«

 

Begegnung

 

In lebhaftem Gespräch kamen vier junge Mädchen in die Trambahn und setzten sich einander je zwei und zwei gegenüber, die Mappen auf dem Schoß. Ohne Pause fuhren sie zu sprechen fort. Da zeigte die eine nach der Straße und unterbrach sich: Meine Mutter. Alle drehten die Köpfe zum Fenster und sahen hinaus. Ein grauer offener Wagen überholte die Trambahn. Mehrere Personen befanden sich darin mit Decken; etwa drei Herren und eine Dame. Der Gruß des Mädchens erreichte die Mutter nicht. Aber sie wußte, daß sicherlich Trambahn und Auto sich nochmals begegnen würden, an der nächsten Haltestelle. Tatsächlich wartete dort das Auto, bis die Fahrgäste aus- und eingestiegen waren. Jetzt konnte das Winken des Mädchens nicht übersehen werden. Freundlich nickte die Mutter ihr zu.

 

Aussprache

 

Die Freunde waren übereingekommen, eine Aussprache mit Frau Hegemann herbeizuführen. Als sie die Wohnung betraten, dämmerte es schon ein wenig. Sie fanden Frau Hegemann im Musikzimmer; sie ruhte, auf dem Diwan. Scheinbar aufgeschreckt aus ihrem Traum, erhob sie sich, sie trug ein lichtblaues Kleidchen. Der ältere Freund sammelte sich und begann: »Wir sind gekommen, um etwas sehr Ernstes zu besprechen.« »So«, erwiderte Frau Hegemann. »Er behauptet, es hätten sich die Dinge zwischen euch doch nicht ganz so verhalten, wie du es darstelltest. Du mußt einsehen, daß von dieser Auseinandersetzung abhängt, ob die Freundschaft fortdauern kann.« »Allerdings«, antwortete sie und reichte die Cigarettendose aus Jade. »Gnädige Frau«, begann der jüngere Freund seine Erklärung, »ich bedauere es außerordentlich, Dinge zur Sprache bringen zu müssen, die sowohl Ihnen als auch mir zweifellos peinlich sind. Darf ich einige Fragen an Sie richten?« Frau Hegemann kauerte auf dem chinesischen Taburett. Nach ihrem undeutlichen Kopfnicken fuhr er fort. »Ich mußte annehmen, daß Sie von meinem Freunde innerlich bereits getrennt seien. An jenem Abend, als wir Sie zum Diner bei Professor Georgi begleiteten, flüsterten Sie mir im Auto etwas zu, was ich allerdings nicht genau verstand. – Weiter erinnere ich mich an eine Unterhaltung, wenige Tage später, hier oben bei Ihnen. Sie setzten mir auseinander, daß ein Mann eigentlich schon in dem Augenblick für Sie erledigt sei, in dem Sie sich ihm hingegeben hätten. Die Anspielung auf meinen Freund war nicht zu überhören. – Auf den Brief an Gladys möchte ich gar nicht eingehen. Aber denken Sie an den Nachmittag, an dem Sie mir eine Reihe neuer Tanzplatten vorspielten. Sie glaubten nicht an Treue. Sie erzählten mir plötzlich, Sie hätten ein Verhältnis mit Herrn Dr. Tsian.« »Das ist gelogen«, unterbrach Frau Hegemann, sprang auf, beugte sich über den Rauchtisch, ihr Gesicht war nicht wiederzuerkennen. »Und was Sie alles über Ihren Freund gesagt haben.« »Was ich über ihn gesagt habe, war lediglich durch Ihre Bemerkung hervorgerufen, gnädige Frau. Oder wollen Sie etwa bestreiten, daß Sie mir stets wieder durch unverhüllte Äußerungen zeigten, eigentlich sei er Ihnen lächerlich? Sogar als ihm beim Umzug ein Marmoraschenbecher auf den Kopf gefallen war, fanden Sie nur Anlaß zum Lachen. Sie beschrieben mir am Telefon die Wunde. Leugnen Sie all das?« Frau Hegemann war unfähig zu lügen. »Nein«, sagte sie. Ihr Gesicht hatte seine Ruhe wiedergewonnen. Sie lehnte am Fenster und blickte auf die Allee, deren Bäume die letzten Lichtspuren bewahrten. »Das genügt mir«, sprach sich erhebend der ältere Freund. Die beiden Herren küßten ihr nacheinander die Hand und gingen gemeinsam.

 

Cembalo

 

Schon zu Beginn des Chor-Konzertes brannte das Licht unregelmäßig. Als der heiße Saal einmal sich verdüsterte, ging ein erstaunter Laut durch die Zuhörer, um plötzlich abzubrechen. Es war wieder hell geworden, und der erste Teil des Werkes wurde noch durchgeführt. Dem ernsten Anlaß gemäß äußerte sich kein Beifall. Bei Beginn des zweiten Teiles setzte sogleich das Flackern des Lichtes ein. Diesmal handelte es sich um keine vorübergehende Störung. Die Lampen brannten immer schwächer. Das Publikum blieb ruhig, auch als sie rot glühten. Da wurde es dunkel. Der Kapellmeister legte den Stab nieder und wandte sich zum Saal. Die Notbeleuchtung an den Türen tat ihren Dienst. Die Orchestermusiker hörten auf. Der Chor allein sang weiter. Als allmählich weniger Stimmen teilnahmen, drang der dünne Ton eines altertümlichen Klavieres durch, welches das ganze Werk begleitete, fast ohne je vernehmbar zu sein. Es spielte noch einige Takte. Bald darauf konnte das Konzert fortgesetzt werden.

 

Grabmal

 

Des schönen Wetters wegen war das Großauto der Fremdenrundfahrt voll besetzt. Man hatte das Dichterhaus, die Anlagen und die Reste der Befestigung bereits besichtigt, als das Großauto vor einer dichten Baumgruppe hielt. Das ist die englische Kirche, sagte der Erklärer. Sie wurde achtzehnhundertfünfundfünfzig im gotischen Stile erbaut. Seit 1905 ist sie aber nicht mehr in Benutzung, sondern dient dem berühmten englischen Grabmonument mit Amor und Psyche als Obdach. Die Besichtigung ist zweimal wöchentlich frei, heute ist die Kirche geschlossen. Dann fuhr das Großauto weiter.

 

Vor 1933

 

 
Gesammelte Werke
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