Rede über Alban Bergs Lulu
Das Werk, das Sie vernehmen werden, hat einen Prolog. Er ist der letzte Teil der Lulu-Komposition, den Alban Berg abgeschlossen hat, Quintessenz des Textes nicht weniger als der Musik. Wenn wir es trotzdem für gut finden, dem Ganzen ein paar Worte vorauszuschicken, so verweist Sie das auf das Außerordentliche, von dessen Erfahrung Sie nun bloß noch ein Vorhang trennt und wenige Minuten. So überreich will die großherzige Oper Sie beschenken, daß sie von Ihrer Aufnahmefähigkeit etwas verlangt. Sonst erwarten Sie von neuer Musik, auch von neuen musikalischen Bühnenwerken, die Forderung von Askese. Sie sind vorbereitet, auf Karges, Reduziertes, absichtlich Sparsames sich zu konzentrieren und den Anspruch der eigenen Kindheit einzuschränken, der vom Theater Wunder sich verspricht; der Verzicht darauf sei Sachlichkeit. Bergs Lulu aber, eine rechte Büchse der Pandora, enthält gefährlich-unerschöpfliche Fülle, schlank strömend, bunt glitzernd wie eine Märchentoilette. Eignet großen Romanen des neunzehnten Jahrhunderts wie denen Balzacs von den Verlorenen Illusionen und von Glanz und Elend der Kurtisanen etwas von der Oper; steigen in ihnen die Wellen der Leidenschaft bis zur Kuppel empor, um, tödlich versöhnt, tröstend wieder hinabzustürzen und zu verrieseln im Geäder der Seele, dann erstattet Bergs Oper von dem unwiderstehlichen Niemandskind Lulu dem Roman dafür den Dank. Hoch überm traumhaft wüsten Abgrund fährt sie hin mit goldener Schrift. Dagegen sträuben sich mittlerweile die Zeitgenossen. Sie verschmähen die glückvolle Anstrengung der Phantasie, die das Werk vollzog und die sie nun daran wiederholen sollen. Der Widerstand gegen ein Neues, dem man noch nicht gewachsen sich weiß, und das zudem in Lulu einen Nervenpunkt trifft, an dem die organisierte Menschheit keinen Spaß versteht, redet sich darauf hinaus, all das sei unmöglich und einer ernüchterten, vom ausbrechenden Überschwang des Geschlechts kurierten Generation gleichgültig. Ihrem seit jüngstem so geläuterten Geschmack seien die grellen und chokierenden Begebenheiten nicht mehr zuzumuten.
Der Versuchung zu solcher leeren Überlegenheit widerstehen Sie dadurch, daß Sie das Naive nicht allzu naiv auffassen. Berg hat Wedekinds Lulu im Geist von Karl Kraus angeschaut. Er hat an den Dramen »Erdgeist« und »Büchse der Pandora«, die er aus den neunziger Jahren ausgrub, ein Ähnliches vollbracht wie Kraus, als er Dichtungen von Claudius oder Göcking in der »Fackel« veröffentlichte: rettenden Einspruch gegen das fragwürdige Urteil der Geschichte. Das aber ist kein anderes als jenes, das im Stück über Lulu selber ergeht. Man könnte den Horizont von Bergs Wedekindkonzeption nicht genauer bezeichnen als mit Sätzen aus einer Rede, die Kraus im Mai 1905 in Wien vor der von ihm veranstalteten Uraufführung der »Büchse der Pandora« sprach. Danach ist Lulu »die Tragödie von der gehetzten, ewig mißverstandenen Frauenanmut, der eine armselige Welt bloß in das Prokrustesbett ihrer Moralbegriffe zu steigen erlaubt. Ein Spießrutenlauf der Frau, die vom Schöpferwillen dem Egoismus des Besitzers zu dienen nicht bestimmt ist, die nur in der Freiheit zu ihren höheren Werten emporsteigen kann.« Das Hintergründige und Gebrochene der Vorgänge hat Kraus am zweiten Teil des Werkes benannt, Lulus Absturz, wie er nach der musikalischen Wende im großen Orchesterzwischenspiel des zweiten Aktes beginnt. Da heißt es bei Kraus: »Mehr als früher zeigt sich, daß ihre Anmut die eigentliche leidende Heldin des Dramas ist; ihr Porträt, das Bild ihrer schönen Tage, spielt eine größere Rolle als sie selbst, und waren es früher ihre aktiven Reize, die die Handlung schoben, so ist jetzt auf jeder Station des Leidensweges der Abstand zwischen einstiger Pracht und heutigem Jammer der Gefühlserreger. Die große Vergeltung hat begonnen, die Revanche einer Männerwelt, die die eigene Schuld zu rächen sich erkühnt. Aus einer losen Reihe von Vorgängen, die eine Kolportageromanphantasie hätte erfinden können, baut sich dem helleren Auge eine Welt der Perspektiven, der Stimmungen und Erschütterungen auf, und die Hintertreppenpoesie wird zur Poesie der Hintertreppe, die nur jener offizielle Schwachsinn verdammen kann, dem ein schlecht gemalter Palast lieber ist als ein gut gemalter Rinnstein.« Die Dichtung selbst legitimiert solche Deutung durch ihr Stilisierungsprinzip. Es ist das des Zirkus. Die Szene der Ermordung des Doktor Schön, wo Lulus Liebhaber wie Exzentrikclowns hinter allen möglichen Soffitten versteckt kauern, um ihre Saltos zu schlagen, ist ein Sketch. So unwirklich wie dieser müssen Ihnen die in ihrer Wirklichkeit übertriebenen Vorgänge werden, wenn Sie nicht hinter ihnen zurückbleiben wollen.
Sie müssen das Unsachliche und das Krasse des Stoffs als Kunstmittel, als Träger eines Geistigen erkennen. Es haftet an der Überwirklichkeit des Stofflichen. Hat irgendein musikalisches Kunstwerk Anteil am Surrealismus, dann Bergs Lulu, so wie Wedekind selber schon den Surrealismus präludierte. Das neunzehnte Jahrhundert, aus dessen Maschinenhöhlen Vorgänge und Figuren sich in Bewegung setzen, ist zur schreckhaften Vorwelt geworden. Doktor Schön, der hilflose Herrenmensch, könnte in altertümlich neumodischer Kleidung einer Fotomontage von Max Ernst entstiegen sein, Angsttraum der Elternwelt, und die dubiosen Gestalten, die seinen Salon bevölkern, sind die Exkretionen des Unbewußten in vollgestopften Interieurs. Berg aber, der nie ganz der Beziehung zur veraltenden Musiksprache, zur Tonalität sich begab, hat die Aura des verwesend Jüngstvergangenen widergespiegelt, gewissermaßen mitkomponiert. In den karussellhaft rauschenden Variationen über ein Bänkellied von Wedekind selbst, im dritten Akt, verdichtet sich der Äther der gesamten Oper.
In der musikalischen Übersetzung der Atmosphäre jedoch, die um Wedekinds Dramen seit ihrer Entstehung sich gebildet hat, erschöpft die Komposition sich nicht. Treue hält sie der Dichtung, indem sie diese zugleich übersteigt, mit jener Gebärde, für die einmal, am Ende der Kinderszenen, Robert Schumann das Wort fand: Der Dichter spricht. Der Vorwurf wird nicht bloß, nach musikdramatischer Art, nachgeahmt, sondern der Komponist bezieht in seinem Verhältnis zum Text Stellung: die Alwas, des Künstlers, der wehrlos der Schönheit verfällt und mit der Mörderin seiner Eltern untergeht. Bergs Musik hat Alwas Gestalt verändert, die Züge des Verkommenen gemildert, die Wedekind unmißverständlich ihr einprägte, und sich versenkt in jenes Hingerissensein, das Alwa im Anblick der Schönheit überwältigt. Wie Alwa in den Rondopartien der Komposition Lulu fühlt, so fühlt die Partitur sie insgesamt. Die surrealistische Schreckvision von der Moderne als barbarischer Wildnis ist zugleich Hymnus auf jene, für die an der erhobensten Stelle des Textes, und der schönsten der Komposition, in jener Mordszene, die Worte gefunden sind: Eine Seele, die sich im Jenseits den Schlaf aus den Augen reibt. Eins wird der fluoreszierende Schein der versinkenden Halbwelt und der hinfällige, zerbrechliche des Schönen.
Die Versenkung der Musik ins Sujet, die das vollbringt, prägt aber auch ihre eigene Gestalt. Ungezählte Male hat man Ihnen weisgemacht, daß die neue Musik, auch die fürs Theater, vom Musikdrama sich abwende, nicht länger dem poetischen Gesetz folge, sondern ihrem eigenen. Berg war ein viel zu großer Künstler, um dergleichen Formeln vom vermeintlichen Zeitgeist sich vorschreiben zu lassen. Er, dem alle Dimensionen des Komponierens gleich wesentlich waren, mißtraute dem Leerlauf von Opernmusiken, die bloß rhythmisch neben dem Geschehenden herspielen. Daher rührt die eigentliche Anforderung, welche die Lulu an den Hörer stellt. Rückhaltlos vertraut die Musik den Kurven des Dramas, der Charakteristik und den Regungen seiner Figuren sich an: darin konsequent wagnerisch. Nur eben konsequent. Denn die Differenzierung des Gedichteten, dem die musikalische Sprache sich anschmiegt, wird zur Kraft ihrer eigenen Gestaltung. Sie gerät in sich selber unendlich gegliedert, gefügt, reich an Kontrasten, Übergängen, Verdichtungen und Auflösungen durch die Genauigkeit, mit der sie dem Text nachhorcht. Forderte Wagner, es solle das musikalische Drama alle Errungenschaften der großen absoluten Musik, zumal der Wiener Symphonik in sich hineinnehmen, so ist erst Berg dem ganz gerecht geworden. Bei ihm ist nun wirklich das musikalische Gewebe so vielfältig und wiederum so logisch wie vordem nur in instrumentalen Kompositionen. Seine Musik erringt ihre Selbständigkeit nicht, indem sie stur und überflüssig ihren eigenen Weg geht, sondern durch ein Wirf weg, damit du gewinnst, durch hingebende Liebe zur Dichtung und zu ihrer Heldin.
Das verweist aber zugleich auch auf die Idee. Gleich den Personen des Dramas, der triebhaften Lulu, der ihr hörigen Geschwitz, dem Doktor Schön und Alwa wirft die Oper sich weg an die Hoffnungslosen, Verlorenen. Sie sympathisiert wahrhaft mit dem drunten in der Tiefe, wovon die Rheintöchter am Ende des Rheingolds singen. Das Werk eines betörenden Wohllauts, der alle Feste des französischen Impressionismus verblassen läßt, ist radikal zugleich in seinem Hang zu allem mit Tabus Belegten. Rettend kehrt es dem sich zu, was die Last universaler Verachtung zu tragen hat. Das ist der Ursprung seiner gewaltlosen Gewalt. Keine andere Musik aus unserer Zeit ist so menschlich wie die von Berg, und davor erschrecken die Menschen. Die Phantasmagorie der großen Oper, als welche Lulu Ihnen sich darstellen wird, ist zugleich das Modell eines Kunstwerks realer Humanität.