Walter Benjamin
Zu Benjamins Gedächtnis
Walter Benjamin, dessen Tod der »Aufbau« am 11. Oktober 1940 anzeigte, war in Deutschland weithin als Publizist, zumal als Mitarbeiter der »Frankfurter Zeitung« und der »Literarischen Welt« bekannt. Viele auch wußten seinen Namen als den des meisterlichen Übersetzers großer Teile von Prousts Romanwerk. Aber seine Bedeutung ist von anderer Dimension. Wenn noch einmal einer den verrufenen Begriff des Philosophen zu Ehren brachte; wenn noch einmal einer, durch Kraft und Ursprünglichkeit des Gedankens, der Möglichkeit im Wirklichen inneward, so war es Walter Benjamin. Es ist der treue Ausdruck der Situation, daß man ihm eben darum den öffentlichen Ruhm vorenthielt, auf den der Glanz seiner Begabung ihm jedes Anrecht zu geben schien. Er ist dem Zwang einer unvergleichbaren Anlage gefolgt und hat keinen Unterschlupf im Bestehenden, bei philosophischen Schulen und anerkannten Denkgewohnheiten gefunden. Er hat darauf bestanden, alle Gegenstände so nah anzusehen, bis sie fremd wurden und als fremde ihr Geheimnis hergaben. Der Mangel an Einverständnis ist ihm nicht verziehen worden. Er nahm sich ein Leben, das ihm die Welt verweigern wollte, seit er zu denken begann.
Seine philosophischen Arbeiten sind nicht als System, nicht als freischwebende Entwürfe aufgetreten, sondern haben sich als Kommentar und Kritik von Texten geformt. Es hat sich darin die Tradition der jüdischen Theologie in einem Denken durchgesetzt, das sich auf profane Stoffe bezog, um in ihren undurchdringlichsten Schichten der Spur der Wahrheit habhaft zu werden. Aus dem Kreis jener Interpretationen sind die wichtigsten die von Goethes Wahlverwandtschaften und das Buch »Ursprung des deutschen Trauerspiels«, welches das deutsche Barockdrama im Zeichen der ›Rettung‹ der von aller offiziellen Ästhetik verpönten Allegorie zu deuten unternahm.
Benjamins Philosophie war beherrscht von der Spannung zwischen der Lehre von der »Unwirklichkeit der Verzweiflung« und der vom naturverfallenen Schicksal, vom mythischen »Schuldzusammenhang des Lebendigen«. In späteren Jahren hat diese Spannung für Benjamin in eine gesellschaftliche sich übersetzt, ohne daß von den ursprünglichen Impulsen einer wäre geopfert worden. Das Aphorismenbuch »Einbahnstraße« hat diese Phase eingeleitet. Ihr letztes Ergebnis ist die in der »Zeitschrift für Sozialforschung« publizierte Arbeit über Baudelaire, eines der großartigsten geschichtsphilosophischen Zeugnisse der Epoche. Sie gehört dem Umkreis eines Werkes über Paris an, das es sich zur Aufgabe setzte, die philosophische »Urgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts« zu schreiben. Dies Werk, das Benjamin fünfzehn Jahre beschäftigte und das alle Motive seiner Philosophie durchgeführt hätte, ist nicht vollendet worden.
Es ist unmöglich, in wenigen Worten auch nur die Vorstellung von Benjamins Philosophie zu übermitteln. Sie war bis heute geschützt durch Exklusivität. Sie wird sich in der Zeit entfalten, weil noch sein geheimstes Anliegen das Anliegen aller ist. Verloren aber ist der Blick, der aus der Perspektive des Toten die Welt sah, als läge sie in Sonnenfinsternis vor ihm: so wie sie dem Blick des Erlösten erscheinen mag; so wie sie ist. Unerschöpflich schenkte der todtraurige Blick alle Wärme und Hoffnung in dem erkalteten Leben.
1940
Nachwort zur »Berliner Kindheit um Neunzehnhundert«
Walter Benjamin, in Berlin geboren, hat bis zur Auswanderung dort gewohnt. Weite Reisen, lange Perioden der Abwesenheit in Paris, in Capri, auf den Balearen haben ihn der Stadt nicht abspenstig gemacht. Kaum einer kannte in ihren Quartieren so gründlich sich aus; ihre Orts- und Straßennamen waren ihm vertraut wie Namen der Genesis. Dem Sohn einer altberliner jüdischen Familie – und dem eines Antiquars – erschien noch das Traditionslose der neudeutschen Kapitale von je als verbürgt durch Tradition, das Jüngste als Gleichnis eines Ältesten.
Die »Berliner Kindheit« ist zu Beginn der dreißiger Jahre entstanden. Sie gehört in den Umkreis jener Urgeschichte der Moderne, um die Benjamin während der letzten fünfzehn Jahre seines Lebens sich mühte, und bildet das subjektive Gegengewicht zu den Stoffmassen, die er für das projektierte Werk über die Pariser Passagen zusammentrug. Die geschichtlichen Archetypen, die er in diesem aus ihrem pragmatisch-gesellschaftlichen und philosophischen Ursprung entwickeln wollte, sollten in dem Berliner Buch aus der Unmittelbarkeit der Erinnerung jäh aufleuchten, mit der Gewalt des Schmerzes ums Unwiederbringliche, das, einmal verloren, zur Allegorie des eigenen Untergangs gerinnt.
Denn die Bilder, die es zu befremdender Nähe heraufholt, sind nicht idyllisch und nicht kontemplativ. Über ihnen liegt der Schatten des Hitlerschen Reichs. Traumhaft vermählen sie den Schauder davor dem Längstgewesenen. Mit panischem Schrecken wird das bürgerliche Ingenium, an der zerfallenden Aura der eigenen biographischen Vergangenheit, seiner selbst inne: als Schein. Es stimmt zu dem Buch, daß Benjamin die Publikation des Ganzen nicht erlebte; daß er in der Not der ersten Emigrationsjahre viele der Stücke Blättern, vor allem der Frankfurter und der Vossischen Zeitung, zum oft pseudonymen Einzelabdruck überlassen mußte.
Die Reihenfolge hat er nicht mehr festgelegt; sie variiert in den verschiedenen Manuskripten. Doch sollte das Bucklichte Männlein am Ende stehen. Wenn dessen Figur das Unwiederbringliche einsammelt, dann ähnelt dafür die des Erzählers eher dem Rumpelstilzchen, das nur leben kann, solange niemand weiß, wie es heißt, und das selber seinen Namen verrät. Die Luft um die Schauplätze, welche in Benjamins Darstellung zu erwachen sich anschicken, ist tödlich. Auf sie fällt der Blick des Verurteilten, und als verurteilte gewahrt er sie. Die Trümmer von Berlin antworten den Innervationen, welche der Stadt um 1900 gelten.
Aber die tödliche Luft ist die des Märchens, so wie das kichernde Rumpelstilzchen ins Märchen gehört, nicht in den Mythos. Auch in den unheilvoll-zärtlichen Miniaturen blieb Benjamin der Schatzhauser der Philosophie, der Fürst der Zwerge. Tröstlich legt die Explosion der Verzweiflung das Feenland frei, von dem in einem apokryphen, Hölderlin zugeschriebenen Gedicht die Rede ist. Es klingt, wie Benjamins Schrift aussah, und er gewann es lieb:
Mit Rosen umweben
Der Sterblichen Leben
Die gütigen Feen;
Sie wandeln und walten
In tausend Gestalten
Bald häßlich, bald schön.
Da wo sie gebieten,
Lacht alles, mit Blüten
Und Grün emailliert;
Ihr Schloß von Topasen
Ist herrlich mit Vasen
Von Demant geziert.
Von Ceylons Gedüfte
Sind ewig die Lüfte
Die Gänge, statt Sandes,
Nach Weise des Landes
Mit Perlen besät.
Seit Salomo nahte
Dem luftigen Staate
Kein Aeronaut.
Dies hat mir, nach Schriften
In Mumiengrüften,
Ein Sylphe vertraut.
Die Märchenphotographien der »Berliner Kindheit« – das sind nicht nur Trümmer aus der Vogelperspektive des längst entrückten Lebens, sondern auch Momentaufnahmen aus dem luftigen Staate, welche jener Aeronaut knipste, indem er seine Modelle dazu bewegte, recht freundlich still zu halten.
1950
Erinnerungen
So tief mein Eindruck war, als ich Benjamin kennengelernt habe, – es ist mir nicht möglich, ganz exakt zu sagen, wann ich ihn kennenlernte. Ich weiß, daß es im Jahre 1923 war. Aber ich sah ihn bei zwei kurz aufeinander folgenden Gelegenheiten und vermag nicht mehr mit Sicherheit anzugeben, welche davon die erste war. Jedenfalls: einmal bei einer Verabredung im damaligen Café Westend am Frankfurter Opernplatz, gemeinsam mit meinem Freund Kracauer, der das Treffen arrangiert hatte. Ein anderes Mal, und ich weiß wirklich nicht mehr, ob das vorherging oder nicht, in einem Seminar, einem soziologischen Seminar, das der jüngst verstorbene Gottfried Salomon-Delatour abhielt. Es behandelte den gerade erschienenen Historismus-Band von Ernst Troeltsch. An diesem Seminar nahmen eine Reihe Menschen teil, deren Namen später unter die Leute gekommen sind, so auch der nachmalige Züricher Intendant Kurt Hirschfeld. Benjamin war damals nach Frankfurt gekommen und lebte dort länger mit der Absicht, sich in Frankfurt zu habilitieren, eine Absicht, die von Salomon energisch gefördert wurde. Ich kann mich deutlich erinnern, um einen der ersten tangiblen Eindrücke zu reproduzieren, daß Salomon in jenem Seminar gern ein wenig abschweifte, keine sehr strenge Marschroute innehielt, und daß Benjamin auf seine lautlos lächelnde Weise ihn immer, wenn es gar zu weit vom Thema wegging, unterbrach, indem er gewissermaßen druckfertig die Worte dazwischen warf: »Ad vocem Troeltsch, ad vocem Troeltsch!« Der Tonfall, der seltsam objektivierte Tonfall des gesprochenen Wortes, ist mir unvergeßlich geblieben.
Ich sah Benjamin recht häufig, ich würde sagen: jede Woche mindestens einmal, wahrscheinlich häufiger, während der ganzen Zeit, in der er in Frankfurt lebte. Auch später regelmäßig und viel, nicht nur bei seinen Besuchen hier, sondern vor allem in Berlin. Ich glaube, wir waren auch einmal, wohl im Jahre 1925, in Italien, und zwar in Neapel, zusammen, aber das kann ich nicht mehr beschwören. Von einem ›Zweck‹ des Zusammenseins kann man wohl sehr schwer reden. Wir waren so zusammen, wie vor 40 Jahren Intellektuelle zusammenzukommen pflegten, einfach, um sich zu unterhalten und so ein bißchen an jenen theoretischen Knochen zu zerren, an denen sie eben nagten. So war es auch mit Benjamin und mir. Ich war damals blutjung, er immerhin 11 Jahre älter, und ich habe mich durchaus als den Nehmenden betrachtet. Ich weiß, daß ich mit einer ungeheuren Faszination ihm zugehört, ihn dann manchmal Näheres gefragt habe. Recht bald sah ich Sachen von ihm, die er mir gab, ehe sie veröffentlicht waren, und zwar die Abhandlung über die Wahlverwandtschaften, von der ich ein Maschinenmanuskript, einen Maschinendurchschlag, las; dann auch die Einleitung zu den »Tableaux Parisiens« von Baudelaire, über die Aufgabe des Übersetzers. Davon las ich die Aushängebogen der Ausgabe, die bei einem Verlag, ich glaube des Namens Weißbach in Heidelberg, um diese Zeit erschien. Dann war ich sehr beeindruckt von einem größeren Aufsatz aus der Frankfurter Zeitung, den er publizierte unter seinem Namen und dem von Frau Asja Lacis, obwohl schwer ein Zweifel daran sein kann, daß diese Arbeit ganz und gar das Produkt Benjamins war.
An diese Produktionen hat sich dann sehr viel angeschlossen, und der Kontakt war eigentlich nie mehr unterbrochen. Wir haben uns in Abständen immer wieder gesehen, später natürlich sehr viel in Paris während der Emigration; vorher in Königstein im Jahre 1929, als er uns die ersten Texte aus der Passagenarbeit vorlas. Und auch sonst sind wir an allen möglichen Orten der Welt zusammen gewesen, doch ohne an Pläne oder Zwecke zu denken, eben im Zeichen gemeinsamen Philosophierens, wenn ich das ohne Prätention sagen darf.
Benjamin war von einer geradezu unerschöpflichen, sich aus sich selbst heraus erneuernden Produktivität. Man konnte kaum mit ihm reden, auch nicht über die scheinbar banalsten und gleichgültigsten Dinge, ohne daß diese Produktivität alles, was er berührte, verwandelt und ergriffen hätte. Wenn ich vorhin gesagt habe, wir hätten gemeinsam philosophiert, so ist das nicht so zu verstehen wie etwa sonst, wenn junge, dem Fach nach mit Philosophie befaßte Menschen miteinander über Philosophie sprechen. Das für Benjamin auch theoretisch Bezeichnende ist, daß bei ihm die philosophische Kraft sich erstreckte auf nichtphilosophische Gegenstände, auf scheinbar blinde, intentionslose Materialien. Man könnte beinahe sagen, daß er philosophisch um so leuchtender sich zeigte, je weniger das, worüber er redete, die sogenannten offiziellen Gegenstände der Philosophie waren. Deshalb ist es schwer, thematisch die Gespräche abzugrenzen. Aber ich kann mich erinnern, daß er, auch wenn wir über im engeren Sinn philosophische Dinge diskutierten, oft durch knappe, ein wenig sentenziöse Sätze mir einen außerordentlichen Eindruck machte. Ich suchte ihm zum Beispiel einmal, im Zusammenhang bestimmter erkenntnistheoretischer Erwägungen, einen Unterschied zwischen Fundierungsintentionen und Erfüllungsintentionen zu entwickeln, und er wischte das auf eine freundliche, aber zugleich doch sehr kritische Weise weg, indem er sagte: na ja, das sind dann eben die Fundierungsintentionen und die Erfüllungsintentionen. Ich verstand, daß damit diese ganze Sphäre, wie sie etwa von der Husserlschen Phänomenologie sich herleitet, von seiner Art konkret zu denken, die konkreten Gegenstände aufzusprengen, ohne daß Argumente lange bekämpft oder widerlegt wurden, einfach um ihres etwas akademisch steifen und unwesentlichen Wesens willen außer Aktion gesetzt war.
Kaum ist es eine Rückphantasie, wenn ich sage, daß ich vom ersten Augenblick an von Benjamin den Eindruck eines der bedeutendsten Menschen hatte, die mir je entgegengetreten sind. Ich war damals 20 Jahre alt, aber immerhin geistig ein bißchen abgebrüht, doch ich kann dafür schwer die rechten Worte finden, ohne in Ausdrücke kitschiger Übertreibung zu verfallen, die die Stärke meines Eindrucks wiedergeben. Es war, wie wenn durch diese Philosophie mir erst aufgegangen wäre, was Philosophie sein müßte, wenn sie das erfüllen sollte, was sie verspricht, und was sie nicht hält seit der eingeschliffenen Kantischen Trennung zwischen dem, was innerhalb der Erfahrung verbleibt, und was die Grenzen der Möglichkeit von Erfahrung überschreitet. Ich habe das einmal so ausgedrückt, daß, was Benjamin sagte, klang, als ob es aus dem Geheimnis käme, aber daß er dabei keineswegs ein im fatalen Sinn esoterischer Denker war, sondern daß auch Einsichten, die den gewohnten vernünftigen Ansichten ins Gesicht schlugen, eine ganz eigentümliche Evidenz an sich selbst trugen, die sie dem Verdacht des Geheimnisses oder gar des Bluffs völlig entzogen, obwohl Benjamin manche Eigentümlichkeiten des Pokerspielers sicherlich auch in der Art zu reden und zu denken nicht ganz fremd waren. Daß es sich um eine beispiellose Kraft sowohl der geistigen Anschauung wie der denkenden Konsequenz handelte, daran konnte für einen Menschen, der überhaupt Sinn für Qualität hat und der nicht von Rancune verblendet ist, kein Zweifel sein.
Wenn ich das Äußere wiedergeben soll, so müßte ich sagen, daß Benjamin etwas von einem Zauberer hatte, aber in einem sehr unmetaphorischen, sehr wörtlichen Sinn. Man hätte sich ihn gut mit einem sehr hohen Hut und mit einer Art von magischem Stab vorstellen können. Sehr merkwürdig waren die Augen, die ziemlich tief lagen, kurzsichtig waren und auf eine zugleich sanfte und intensive Weise zuweilen Blicke zu schießen schienen. Sehr eigentümlich war auch sein Haar, das etwas eigentümlich Flammendes hatte. Das Gesicht war eigentlich sehr ebenmäßig geschnitten. Er hatte aber zugleich etwas – wiederum ist es schwer, dafür ein richtiges Wort zu finden – von einem Tier, das in seinen Backen Vorräte sammelt. Das Moment des Antiquars und des Sammlers, das in seinem Denken eine hervorragende Rolle spielt, hat sich auch in seiner physiognomischen Erscheinung ausgeprägt. Sehr wesentlich an der Erfahrung von ihm war jedoch etwas anderes: daß es bei ihm so etwas wie menschliche Unmittelbarkeit und Wärme im üblichen Sinne nicht gab. Dabei geht es nicht um die ordinäre Vorstellung sogenannter kalter Intellektualität. Eher war es, als hätte er die metaphysische Gewalt dessen, was er sah und was er in unfehlbaren Worten auszudrücken versuchte, mit einem furchtbaren Preis bezahlt; wie wenn er gleichsam als ein Toter redete zum Preis dafür, daß er Dinge in Nüchternheit und Ruhe erkennen konnte, die Lebendige sonst nicht zu erkennen vermögen. Obwohl er keineswegs asketisch oder hager oder irgend etwas dieser Art war, hatte er ein Moment der Unkörperlichkeit. Ich habe nie einen Menschen gesehen, bei dem die gesamte Existenz, auch die empirische, so völlig von der Vergeistigung geprägt gewesen wäre. Dennoch führte jedes Wort, das er sprach, eine Art von sinnlichem Glück durch den Geist mit sich, das als bloß sinnliches, unmittelbares, lebendiges Glück wahrscheinlich ihm versagt gewesen ist.
Benjamin hatte zu der Zeit, als ich ihn kennenlernte, wohl überhaupt nicht das, was man so mit Ruf zu bezeichnen pflegt. Aber er hatte dafür etwas, was in sein eigenes Vokabular sehr gut passen würde, eine Art von Nimbus. Es ging ihm eine Aura des Außerordentlichen voraus. Ich erinnere mich, daß damals, als er Kracauer und mir bekannt wurde – das geschah im Zeichen von Ernst Bloch, den ich selbst übrigens damals noch nicht kannte, sondern erst fünf Jahre später in Berlin zum ersten Male getroffen habe –, die Rede davon war, der eine wie der andere oder beide gemeinsam arbeiteten an dem Plan eines Systems des theoretischen Messianismus. Nun, wenn man die spätere Philosophie Benjamins kennt, ist das sehr unwahrscheinlich. Weiß man aber, wie bei ihm die extrem metaphysischen, spekulativen Ansätze in seiner Jugend mit Motiven des Kantianismus sich durchdrangen, dann war jene Konzeption ihm gar nicht so durchaus fremd, wie man nach den Publikationen des späteren, überhaupt des reiferen Benjamin denken könnte. Ich habe aber, da ich die Philosophie von Bloch zu dieser Zeit bereits genau kannte, ganz bald, nach wenigen Malen herausgefunden, daß, wie immer es auch mit der geistigen Freundschaft der beiden sich verhalten mochte, von irgend etwas wie einer geistigen Abhängigkeit oder sogar Affinität, der Fiber des Denkens nach, nicht die Rede sein konnte; daß der philosophische Blick von Benjamin etwas völlig Inkommensurables, wie an ihn als sein besonderes Organ Gebundenes hatte, vor allem jene eigentümliche Kraft der deutenden Versenkung in die Konkretion. Im Gegensatz zu allen anderen Philosophen, etwa auch zu Bloch, war sein Denken nicht eines, das, so paradox das klingt, im Bereich der Begriffe sich abspielte. Es entriß den gedanklichen, geistigen Gehalt gerade begriffslosen Details, konkreten Momenten. Er schloß das Unaufschließbare wie mit einem magischen Schlüssel auf und setzte sich dadurch zu dem klassifikatorischen, abstrakten, umfassend grandiosen Wesen aller offiziellen Philosophie unabsichtlich und ohne besonderen Nachdruck in unversöhnlichen Gegensatz. Etwas von dieser inkommensurablen Kraft strahlte so weit von ihm aus, daß man es beinahe schon wahrnahm, wenn man nur von seinem Namen etwas wußte, längst ehe man ihn selber kannte.
Ich versprach mir von Benjamin von Anbeginn das Höchste und das Größte. Als er dann schließlich die Passagenarbeit konzipierte – er hat sie nicht vollendet –, glaubte ich, er sei wirklich dieser Idee, einer gänzlich in Material gearbeiteten, zugleich konkreten und transzendenten Philosophie unendlich nahegekommen. Zweifel an der Kraft Benjamins, das auszuführen, habe ich niemals gehabt, auch zu einer Zeit nicht, als die Arbeit an den Passagen so lang sich hinzog, daß man bereits an der Möglichkeit, das ungeheure Projekt überhaupt zu bewältigen, solche Zweifel hätte hegen dürfen. Daß es hier um die allerzentralsten und entscheidendsten Dinge ging, und daß er fähig gewesen wäre, sie zu tun, war wohl ganz offenbar. Als ich in New York im Herbst 1940 die Nachricht von seinem Tode empfing, hatte ich wirklich und ganz buchstäblich das Gefühl, als ob durch diesen Tod, der den Abschluß eines großen Werkes unterbrach, die Philosophie um das Beste gebracht worden wäre, was sie überhaupt hätte erhoffen können. Seit der Zeit habe ich es als eine sehr wesentliche Aufgabe betrachtet, nach meinem schwachen Teil alles zu tun, um das, was von seinem Werk vorhanden und gegenüber seiner Möglichkeit nur ein Fragment ist, so weit jedenfalls herzustellen, daß eine Ahnung von solchem Potential doch wieder erweckt wird.
Vorrede zu Rolf Tiedemanns »Studien zur Philosophie Walter Benjamins«
Walter Benjamin stand seit seiner Frankfurter Zeit in den frühen zwanziger Jahren dem Institut für Sozialforschung nahe; in der Emigration wurde er dessen Mitglied. Für seine Übersiedlung nach New York war Vorsorge getroffen, als er, von Organen der Franco-Regierung in Port Bou gezwungen, in den kollaborationistischen Teil Frankreichs zurückzukehren, Selbstmord beging. Danach bedarf es keiner Begründung, daß die erste größere Arbeit, die seinem Werk gilt, in den Frankfurter Beiträgen publiziert wird*. Wie Benjamins eigenes Werk trägt sie wesentlich philosophische Akzente. Doch ist es der Konzeption des Instituts für Sozialforschung eigentümlich, die gängige wissenschaftliche Arbeitsteilung nicht starr zu befolgen; diese selbst drückt ein verdinglichtes Bewußtsein aus, dem die Erkenntnis seiner gesellschaftlichen Bedingungen entgegenwirkt.
Die Tiedemannsche Arbeit abzudrucken, ist aber um so mehr Anlaß, als die Bewegung von Benjamins Denken, in einem sehr langwierigen Prozeß, der anhob mit Zweifeln an der Möglichkeit des Systems, aus der eigenen Schwerkraft immer mehr an Sachgehalt gewann. Schließlich ging es in Gesellschaftstheorie, auch in ausgeführte material-soziologische, zumal ideologiekritische Untersuchungen über. Daß er in seinem als wichtigstes geplanten, unvollendeten Buch, den Pariser Passagen, glaubte, die theoretische Absicht durch die Montage soziologisch relevanter Materialien weitgehend einlösen zu können, manifestiert extrem jene Veränderung der Benjaminschen Position. Falsch interpretierte sie, wer sie, wie es der Sparte Philosophie naheliegt, als sogenannten Soziologismus verstünde. Nicht wollte Benjamin die Besinnung über die philosophischen Fragen durch die nach ihrer gesellschaftlichen Genese ersetzen; vielmehr hat er – ein Gedanke von unabsehbarer Tragweite – in der gesellschaftlichen Konkretion den Kern der philosophischen Wahrheit selbst aufgesucht, so wie es das provokatorische Fragment aus den Passagen-Entwürfen ausspricht, das Ewige sei eher eine Rüsche am Kleid als eine Idee.
Durch eben diese Wendung wird Benjamin einem Mißverständnis ausgesetzt, das sich trifft mit dem Interesse, Erkenntnisse wenigstens zu neutralisieren, deren Gewalt schwer einer sich entziehen kann, dem der Sinn für geistige Qualität nicht ganz verkümmerte. Seitdem die zweibändige Ausgabe der Schriften bei Suhrkamp vor zehn Jahren erschien, ist die Wirkung Benjamins fraglos sehr angestiegen, zumal in der Literaturwissenschaft, die seinerzeit sein Werk über den Ursprung des deutschen Trauerspiels ignoriert hatte. Dafür jedoch gilt der Öffentlichkeit Benjamins Gesamtwerk bis heute wesentlich als im engeren Sinn literarkritisch, womöglich essayistisch, so sehr auch die Einleitung zu den Schriften sich anstrengte, derlei Clichés wegzuräumen. Träfen sie zu, so ließe Benjamin entweder auf den einigermaßen spezialistischen Sektor sogenannter Geistesgeschichte sich beschränken, oder seine Produktion wäre gar, als addierte sie sich aus unverbindlichen Einfällen, mit jener Rancune gegen das Geistreiche abzufertigen, an der die deutsche Tradition krankt, seit Hegel die literarische Ausdrucksfähigkeit der französischen Aufklärung dieser verübelte. In Wahrheit intendierte Benjamin Theorie obersten Ranges, mag sie nun philosophisch heißen oder gesellschaftlich. Auch wo er dem Schein nach zum Kritisch-Ästhetischen sich beschied, säkularisierte er seine spekulativen Motive. Nur in deren durchgehendem, in allem Wandel sich erhaltendem Zusammenhang empfangen auch seine konkreten Analysen ihr wahres Gewicht; erst wenn sie auf die vielfach implizite Theorie durchsichtig gemacht werden, wird an ihnen die Evidenz verbürgt, die vorher bloß fasziniert. Es ist das große, schwer zu überschätzende Verdienst von Rolf Tiedemann, daß er dieser Aufgabe sich gestellt und erstmals eine Darstellung und Interpretation des Theoretikers Benjamin, gedrängt und gleichwohl in weit gespanntem Rahmen, ausgeführt hat.
Ihm geht es um die Konstruktion von Benjamins Werk, im Sinn des Schellingschen Konstruktionsbegriffs. Seine entscheidenden Abweichungen vom traditionell-philosophischen Denken werden gerade an den Stellen dargetan, wo er dessen Impulse weitertreibt. Dabei übersetzt Tiedemann Benjamins in den Jugendschriften vielfach esoterische Sprache zurück in die traditionelle. Die Themenkreise werden zunächst den überkommenen Disziplinen zugeordnet: Erkenntnistheorie, Ästhetik, Kunstsoziologie, Geschichtsphilosophie. Solche Zuordnungen jedoch erweist Tiedemann als unzulänglich aus immanenten Gründen des Benjaminschen Philosophierens. Wie dieser den großen Wahrheitsgehalt im mikrologischen Detail aufsuchte, so beharrt die Untersuchung immer wieder vor den Details der Theorie; in ihnen allein erhofft sie sich den Zugang zum Ganzen. Sie entfaltet, nach diesem Programm, wie aus Benjamins Kritik an Idealismus und Systemdenken ein spezifischer Begriff von Konkretion sich herausbildet. Benjamin wird, Tiedemann zufolge, bewegt vom Willen, Transzendentes, Ansichseiendes, den von Kant als dogmatisch ausgeschiedenen Bereich durch Denken doch noch einzuholen, und zwar durch ein so sachgebundenes, daß es sich, paradox, empirischen Methoden, der ›Erfahrung‹, nähert. Das allzu geläufig gewordene Wort Goethes von der zarten Empirie gewinnt große Strenge.
In weitem Maß konnte Tiedemann sich auf unveröffentlichte Manuskripte stützen. Indem er auf die Materialien eingeht, wird sein Verfahren, dem Anspruch der Texte selbst gegenübergestellt, auch zur Kritik: an dem in seinen früheren Stadien unvermeidlich dogmatischen Versuch, aus dem Kritizismus hinauszugelangen. Prinzipiell gelungen scheint jener Ausbruch erst in der Erkenntnistheorie, mit der Benjamin das Barockbuch einleitete. Anstelle von Transzendentalphilosophie tritt, durch Benjamins Einspruch wider die klassifikatorische Begriffsbildung, Sprachphilosophie. Sie nimmt manches der Heideggerschen vorweg; zentral jedoch sind beide miteinander unversöhnlich. Nach Benjamins Lehre wohnt der Wahrheit selbst ein »Zeitkern« inne, der den Begriff eines ontologisch reinen Seins verwehrt.
Der zweite Teil der Untersuchung geht über zu den Schriften Benjamins zu einem materialen Komplex, der Kunst. Der dabei relevante Begriff des Ursprungs wird im Anschluß an eine handschriftliche Notiz aus dem Nachlaß als Übertragung des Goetheschen Urphänomens aus der Natur in die Geschichte gedeutet. Modell einer solchen Ursprungsergründung ist Benjamins Theorie der Tragödie. Der dritte Abschnitt des zweiten Teils, eine Analyse der späten soziologischen Arbeiten, bereitet die dritte Studie vor, die der Geschichtsphilosophie gilt. Während Benjamins Ästhetik den Wahrheitsgehalt der Kunstwerke als Widerpart zur mythischen Verfassung des Daseins bestimmt, in Kunst also gegenüber der geschichtlich-gesellschaftlichen Basis ein Moment hinausführenden Fortschritts entdeckt, schießt seine Geschichtsphilosophie zugleich gerade um eine Kritik des Fortschrittsbegriffs zusammen, wie er der neueren Geschichtsphilosophie von Vico bis Marx wesentlich war. Sie alle sahen den Fortschritt im immanenten Verlauf der Geschichte teleologisch angelegt. Benjamin jedoch besteht, ähnlich wie Kafka in einem später veröffentlichten Aphorisma, darauf, daß ein Fortschritt noch gar nicht stattgefunden habe. Zugleich unterwirft er die Grundhaltung der historischen Schule, die »Einfühlung ins Gewesene«, wie sie exemplarisch Wilhelm Dilthey vertritt, radikaler Kritik; er enthüllt sie als subjektivistisch-unzulänglich. Vor dem Hintergrund der idealistischen Geschichtsphilosophie auf der einen, des Historismus auf der anderen Seite gewinnt der Benjaminsche Begriff der Utopie Kontur. Er hält, in der Tradition des jüdischen Messianismus, daran fest, daß Erlösung innerweltlich zu denken, daß sie mit gesellschaftlicher Befreiung identisch sei; gerade deshalb jedoch verbietet er es der Theorie, Erlösung und Befreiung aus bloßer Subjektivität herstellen zu wollen, sie vorweg im Medium des Geistes zu erschleichen. Anhand einer Erörterung von Benjamins fragmentarischem Spätwerk entwickelt Tiedemann die Implikationen seines Utopiebegriffs, den er als Zentrum von dessen gesamter Theorie bestimmt.
Während Tiedemann sich auf einige zentrale Komplexe beschränkt und vor dem ominösen Ideal der Vollständigkeit hütet, ist es seiner Konzentration gleichwohl gelungen, die Einheit, den strengen Zusammenhang und die konstitutive Kraft des Benjaminschen Denkens darzutun. Nach dieser Arbeit wird es keinem mehr möglich sein, sich hinter das Argument zu verschanzen, das von Benjamin Inaugurierte sei aperçuhaften oder rhapsodischen Wesens.
Der gleichen Intention dient die große, mit unendlicher philologischer Treue hergestellte Bibliographie**. Wer immer wissenschaftlich von nun an mit Benjamin sich beschäftigt, muß ebenso von der Bibliographie ausgehen, wie die theoretische Arbeit Tiedemanns die Basis einer jeden weiterhin Benjamin geltenden abgeben wird.
1965
Fußnoten
* Vgl. Rolf Tiedemann, Studien zur Philosophie Walter Benjamins. Mit einer Vorrede von Theodor W. Adorno, Frankfurt a.M. 1965 (Frankfurter Beiträge zur Soziologie. 16.).
** Vgl. a.a.O., S. 157ff.
Interimsbescheid
Nachdem letzthin in Deutschland auch das Schweigen kompromittiert worden ist, antworte ich auf die Entgegnung der Redaktion »Alternative«, welche die Frankfurter Rundschau am 28. Februar brachte[1].
Ich beschränke mich auf ganz Weniges. Rolf Tiedemann publiziert in diesen Tagen im »Argument« eine ausführliche Erwiderung auf die Unterstellungen von »Alternative«[2]. Zur Kontroverse über die sachliche Interpretation von Benjamin, der die beiden in der Frankfurter Rundschau genannten Aufsätze aus dem »Merkur« gewidmet sind[3], äußere ich mich eingehend, sobald mir der Essay von Frau Arendt vollständig bekannt ist[4].
Zutrifft, daß ich seinerzeit die Veröffentlichung der Arbeit »Theorien des deutschen Faschismus« von Benjamin im »Argument« davon abhängig machte, daß der letzte Satz gestrichen wurde. Herr Reiche antwortete mir, daß die Redaktion meine Bedenken teile. Ich regte an, die Auslassungen, wie üblich, durch ein paar in Klammern gesetzte Punkte zu bezeichnen[5].
Das ist aber auch alles. In den »bisherigen Editionen« finden sich keinerlei für die Sache irgend wesentliche Auslassungen; nur ein paar technische Fußnoten wurden, um Raum zu sparen, weggelassen; außerdem der Apparat in der Dissertation und dem Barockbuch. Die zweibändige Ausgabe war in meiner Vorrede als Auswahl gekennzeichnet; deren Gesichtspunkte habe ich darin klargelegt. Den unterdessen erschienenen Fuchsaufsatz etwa nahm ich nicht auf, weil Benjamin selbst zu mir über diese Arbeit sehr negativ sich geäußert hatte – wie im übrigen durch einen jüngst aufgefundenen Brief Brechts an Benjamin bestätigt ist. Den ersten Baudelairetext schied ich aus, weil ich, angesichts der erheblichen Raumbeschränkung auf 1200 Seiten insgesamt, für wichtiger hielt, den späten zu bringen, den ich allerdings als unvergleichlich viel gelungener betrachte. Da mittlerweile von dem alten Baudelaire ein Teil in der »Neuen Rundschau« herauskam[6], ein anderer im »Argument« herauskommen wird[7] und der Rest so bald wie möglich folgt, mag jeder sich ein Urteil darüber bilden, ob ich vernünftig verfuhr.
Die Streichungen in der Reproduktionstheorie, die Horkheimer veranlaßte[8], bezogen sich auf Benjamins Gebrauch materialistischer Kategorien, den Horkheimer, mit Recht, als nicht zulänglich empfand; solche Kontroversen zwischen dem Herausgeber einer Zeitschrift und einem Autor sind, wie dem Stab der »Alternative« gewiß bekannt ist, völlig normal. Die Diskussion darüber hat sich in einer Atmosphäre von Solidarität und Sachlichkeit abgespielt, von der diejenigen, die heute zu Reklamezwecken Sensation aus Benjamins und meinem Namen zu pressen suchen, keine Vorstellung zu haben scheinen.
Meine Vorrede zu den »Schriften« erwähnt auch, was ich der »Alternative« zufolge verschleiern will: daß die Reproduktionstheorie »insgeheim auch ein Programm für Benjamins eigene Schriftstellerei enthält« (Walter Benjamin, Schriften I, Frankfurt 1955, S. XXI). Man sollte wenigstens Texte lesen, die man angreift.
In den Briefen, welche die zweibändige Ausgabe enthält, sind, nach allgemeinem Usus, lediglich irrelevante Sätze ausgelassen oder solche, die noch Lebende verletzen könnten; all das ist typographisch sichtbar gemacht.
Die Rede von der »problematischen Personalunion von ehemaligem Kontrahenten und heutigem Werk-Herausgeber und -Interpreten Theodor W. Adorno« ist gegenstandslos: Benjamin und ich waren nie »Kontrahenten«. Wir haben, wie es unter Freunden, die aus der gleichen geistigen Sphäre stammen und mit den gleichen Fragen befaßt sind, selbstverständlich ist, an unseren Arbeiten Kritik geübt, ohne daß diese Kritik unsere persönlichen Beziehungen auch nur im leisesten getrübt hätte. Zu belegen ist das bereits an meinem Hornberger Brief vom 2. August 1935 über das Memorandum »Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts« – längst ehe Benjamin dem Institut angehörte. Darauf schrieb er am 16. August 1935: »Das Außerordentliche und bei aller Genauigkeit und Dringlichkeit Eurer Einwendung für mich so höchst Besondere und Befruchtende in Eurem Brief ist, daß er die Sache überall im engsten Zusammenhang mit ihrem von mir erfahrenen Gedankenleben betrifft; daß jede Eurer Reflexionen – oder so gut wie jede – in das produktive Zentrum hinein – kaum eine daneben weist. In welcher Gestalt sie also in mir auch fortwirken werden und so wenig ich über dieses Fortwirken weiß, so scheint mir doch zweierlei davon festzustehen: 1) daß es nur ein Förderliches, 2) nur ein unsere Freundschaft Bestätigendes und Bekräftigendes sein kann.« (Walter Benjamin, Briefe, Frankfurt 1966, Band 2, S. 686) Daß nicht ich einseitig Benjamin kritisierte, sondern ebenso er mich, geht aus seinem Brief vom 7. Mai 1940 (siehe insbesondere a.a.O., S. 851ff.) hervor, in dem er auf meine Abhandlung über George und Hofmannsthal einging, die letzte, die er von mir las. Wir hielten es nie anders. Deutlich kann ich mich daran erinnern, daß Benjamin ähnlich kritisch in Paris mit mir durchsprach, was bis zu meiner Übersiedlung nach Amerika von dem »Versuch über Wagner« vorlag. Was aber die Frage der Interpretation anlangt, also der Deutung der Benjaminschen Philosophie, so habe ich, der ich sie seit unser beider Jugend (1923) aufs genaueste kenne, wohl das gleiche Recht dazu wie irgendein anderer. Kein ›offizieller‹ Anspruch ist da im Spiel; allenfalls Sachverständnis.
Von einer Monopolisierung des Benjamin-Archivs im Institut für Sozialforschung kann keine Rede sein. Ich habe nicht mehr getan als dafür Sorge getragen, daß das Material zusammengehalten bleibt, und nur Menschen daran arbeiten lassen, die ich genau überblicken konnte. Mit Ausnahme eines mir von Szondi empfohlenen Berliner Studenten hat sich auch niemand darum bemüht. Jetzt bereitet der Suhrkamp Verlag eine große Ausgabe vor, die auch den philologischen Ansprüchen Rechnung trägt, die, nach meiner ausdrücklichen Angabe in der Vorrede zu den »Schriften«, wegen der Kürze der Vorbereitungszeit, nicht erhoben waren. Sobald die neue Ausgabe abgeschlossen ist, werde ich den gesamten Nachlaß an eine Stelle gelangen lassen, die weitere wissenschaftliche Arbeit daran ermöglicht.
Das eigentlich Verleumderische der gegen mich erhobenen Vorwürfe jedoch liegt darin, daß eine Verbindung zwischen theoretischen Kontroversen und Benjamins finanzieller Situation insinuiert wird. Nichts daran ist wahr. Benjamin erhielt, wenn ich mich recht entsinne, seit Dezember 1935, Zuwendungen vom Institut für Sozialforschung, später ein regelmäßiges Gehalt; kein Mensch hat je daran gedacht, im Zusammenhang damit einen Gesinnungsdruck auf ihn auszuüben oder ihn zu zensieren. Daß ich, seit Februar 1938 in New York, über Benjamins finanzielle Unterstützung zu entscheiden gehabt hätte, ist purer Unsinn; ich war damals noch gar nicht Direktor des Instituts, wurde es erst nach der Rückkunft nach Deutschland. Wahr dagegen ist, daß ich die Beziehung zwischen dem Institut und Benjamin herstellte.
Aufs bestimmteste gegenwärtig ist mir die Äußerung von Benjamin, er habe mit der Reproduktionsarbeit Brecht an Radikalismus übertrumpfen wollen[9]. Diejenigen seiner eigenen Sachen, die sich nicht direkt auf Brecht bezogen, hat er, solange er daran schrieb, zwar mir gezeigt, aber nicht Brecht – doch wohl, weil er sich nichts Gutes davon versprach. Daß er, im Gedanken an Materielles, vor mir sich gefürchtet haben soll, ist frei erfunden[10]. Der zweite Band der Briefe genügt, das zu belegen.
Am letzten Abend, den ich mit Benjamin zusammen war, im Januar 1938 auf der Mole von San Remo, rieten meine Frau und ich, damals schon vom bevorstehenden Krieg und der unvermeidlichen französischen Katastrophe überzeugt, Benjamin nochmals aufs dringendste, er solle versuchen, so rasch wie möglich nach Amerika zu kommen; alles weitere werde sich dort finden. Benjamin lehnte ab und sagte wörtlich: »Es gibt in Europa Positionen zu verteidigen.« Mehr ist der konzertierten Aktion gegen mich nicht hinzuzufügen. Ihr einziger Zweck ist, aus nichts eine Affäre zu machen, die der Publizität für solche dienen soll, die ich freilich nicht meine Kontrahenten nennen möchte.
Fußnoten
1 Die Zeitschrift »alternative« brachte als Doppelnummer 56/57 (Oktober/Dezember 1967) ein Benjamin gewidmetes Heft heraus, in dem gegen Adorno als Editor und Interpreten Benjamins polemisiert wurde. Diese Angriffe referierte Wolfram Schütte am 19. 1. 1968 in der »Frankfurter Rundschau«, wo sie von Siegfried Unseld am 24. 1. 1968 zurückgewiesen wurden. Auf eine redaktionelle Duplik der »Frankfurter Rundschau« vom 25. 1. 1968 folgte eine Entgegnung der Zeitschrift »alternative« (29. 1. 1968), die Rolf Tiedemann beantwortete (7. 2. 1968). Adornos »Interimsbescheid« gilt einer zweiten Erwiderung der Redaktion der »alternative«, die am 28. 2. 1968 in der »Frankfurter Rundschau« stand.
2 Vgl. Rolf Tiedemann, Zur »Beschlagnahme« Walter Benjamins oder Wie man mit der Philologie Schlitten fährt, in: Das Argument 46, Jg. 10, Heft 1/2 (März 1968; 2. Aufl., Juni 1969), S. 74–93.
3 Vgl. Hannah Arendt, Walter Benjamin [1. Teil], in: Merkur 238, Jg. 22, Heft 1/2 (Januar/Februar 1968), S. 50–65 und Helmut Heissenbüttel, Zu Walter Benjamins Spätwerk, ebd., S. 179–185.
4 Dieser Plan wurde nicht verwirklicht; vgl. aber jetzt Adorno, Zur Interpretation Benjamins. Aufzeichnungen zu einem geplanten Aufsatz, in: ders., Über Walter Benjamin. Aufsätze, Artikel, Briefe, hrsg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M. 1990, S. 97ff.
5 Vgl. Theorien des deutschen Faschismus. [Bespr.] Krieg und Krieger. Hrsg. von Ernst Jünger, Berlin 1930, in: Das Argument 30, Jg. 6, Heft 3 (Oktober 1964; 3. Aufl., März 1968), S. 129–137. – Reimut Reiche führte als Redaktionsmitglied des »Arguments« die Korrespondenz mit Adorno über den Abdruck. Zu dem gesamten Komplex vgl. Rolf Tiedemann, Zur »Beschlagnahme« Walter Benjamins, a.a.O., S. 87f.
6 Vgl. Der Flaneur. [Mit einer Vorbemerkung von] Rolf Tiedemann, in: Neue Rundschau 78 (1967), S. 549–574.
7 Vgl. Die Moderne. [Mit einer] Nachbemerkung [von] Rolf Tiedemann, in: Das Argument 46, Jg. 10, Heft 1/2 (März 1968; 2. Aufl., Juni 1969), S. 44–73.
8 Max Horkheimer hatte als Herausgeber der »Zeitschrift für Sozialforschung« in dem dort erschienenen Erstdruck des Kunstwerk-Aufsatzes in französischer Übersetzung (vgl. L'œuvre d'art à l'époque de sa reproduction mécanisée, in: Zeitschrift für Sozialforschung 5 [1936], S. 40–66) eine Reihe von Kürzungen und Änderungen veranlaßt.
9 In der »alternative« war die Äußerung bestritten worden, über die Tiedemann (vgl. Studien zur Philosophie Walter Benjamins, Frankfurt am Main, S. 89) nach einer mündlichen Mitteilung Adornos berichtet hatte.
10 Eine entsprechende Behauptung hatte Hannah Ahrendt aufgestellt.
A l'écart de tous les courants
Nicht leicht, etwas über die geistige Atmosphäre zu sagen, aus der Benjamin kam. Es wäre unmöglich, ihn mit einer der im Berlin der Jahre vor dem ersten Weltkrieg geistig herrschenden Richtungen in unmittelbaren Zusammenhang zu bringen. Natürlich war ein Mensch seiner exzeptionellen Begabung nicht isoliert. Die Vorstellung des zu seinen Lebzeiten verkannten, erst nach seinem Tod entdeckten Benjamin ist eine sentimentale Legende. Als er 1933 Deutschland endgültig verließ, besaß er bereits etwas wie esoterischen Ruhm. Seine Beziehungen im literarischen Berlin waren weitverzweigt. Aber er gehörte nicht eigentlich zu einer Gruppe von Schriftstellern und Philosophen. Insbesondere scheint er zu dem Berliner Expressionismus von Anfang an Distanz gehalten zu haben; ein Bindeglied war wohl Kurt Hiller, doch das Verhältnis zu ihm erkaltete rasch. Jener Zug Benjamins, den man objektivistisch nennen könnte, setzte ihn von Anbeginn in einen gewissen Gegensatz zu den Expressionisten. Allerdings hat er die außerordentliche Qualität von Klee sogleich erkannt, und ein Blatt aus dessen Hand ist für ihn gleichsam kanonisch geworden.
Mit der eigentlichen künstlerischen Avantgarde kam er erst nach dem Abklingen der expressionistischen Bewegung in Kontakt, zumal durch Brecht, der sich ja in pointiertem Gegensatz zu den Expressionisten wußte. In den späten zwanziger und frühen dreißiger Jahren verkehrte er außer mit diesem viel mit Kurt Weill, Klemperer, Moholy-Nagy. Der einzige seiner nahen Jugendfreunde, den man dem Expressionismus zuzählen könnte, war Ernst Bloch; doch mochte er in diesem mehr auf das mystisch-spekulative Element ansprechen als auf den expressionistischen Sprachgestus. Benjamin wird unter den Geistern seiner Generation und seines Milieus dadurch charakterisiert, daß er von diesem Gestus gänzlich frei war. Seine frühesten Arbeiten bereits bemühen sich, bei aller Fremdheit und aller Distanz zur Konvention, um kristallinische, dem Affektiven abgewandte Darstellung. Insofern war er, wie nicht selten Autoren höchster Originalität, leise anachronistisch. Außer von Hölderlin zeigte Benjamin eher von George, der schon ein wenig démodé war, sich beeindruckt, als von seinen Altersgenossen. Selbstverständlich gehörte er nie zum Georgekreis.
Sein Verhältnis zur eigenen Generation kristallisierte sich an einer höchst unerwarteten Stelle, wahrscheinlich aus lebensgeschichtlichen Gründen, seiner Zugehörigkeit zur Wickersdorfer Freien Schulgemeinde. Er war aktiv in der Jugendbewegung, und zwar in deren radikalstem Flügel; vor 1914 übte wohl Gustav Wyneken überhaupt den stärksten Einfluß auf ihn aus. Seine Rolle dort war erheblich; zeitweise war er Vorsitzender der Berliner Freien Studentenschaft. An den heute kaum mehr ganz rekonstruierbaren Richtungskämpfen war er maßgebend beteiligt, ebenso an der Institution der sogenannten »Sprechsäle«.
Man wird bei einem unwillkürlich, durchs erste Wort, das er schrieb, so unkonformistischen Denker wie Benjamin die Paradoxie nicht übersehen, daß er nicht zu den individualistischen Richtungen der damaligen Moderne sondern zu kollektivistischen tendierte. Wohl wird man sich vergegenwärtigen müssen, daß jener radikale Flügel der Jugendbewegung, im Gegensatz zur Majorität, die schon früh dem Antisemitismus anhing, überwiegend aus jungen jüdischen Intellektuellen bestand. Darüber hinaus mochte das Leiden an einer Einsamkeit mitspielen, zu welcher Benjamin seine exzeptionelle und in anderen Rancune weckende Anlage verurteilte. Groß war seine Sehnsucht, in Gemeinschaften sich einzufügen, neuen Ordnungen, auch praktisch, zu dienen. Sein Drang dahin bereitete, formal, in seiner Jugend eine Richtung, die später sich politisierte. In seinem Verhältnis zur Jugendbewegung freilich kam rasch das Vergebliche der Pseudomorphose zutage. Daß Benjamin sich mit fast allen seinen Freunden aus jener Periode überwarf, ist kaum psychologisch zu nehmen, sondern als Zeugnis der Unvereinbarkeit seines geistigen Naturells mit eben den Zwängen, die er doch suchte.
Wo man den frühen Benjamin vermutet hätte, bei den jungen Literaten, dort war er nicht zu finden: er nahm seine Superiorität vorweg, ehe sie ganz sich realisierte. Statt dessen hing er einer Gruppe an, in die er kaum recht hineinpaßte; doch nur, um zu erfahren, wie wenig er hineinpaßte, im Sinn des Satzes aus der »Berliner Kindheit«, daß er nicht einmal mit der eigenen Mutter eine Front hätte bilden mögen. Das bestärkte ihn vollends in seiner idiosynkratischen Verhaltensweise und hielt ihn von den literarischen cénacles fern. Er war nicht das Talent, das in der Stille sich bildet, aber das Genie, das, verzweifelt gegen den Strom schwimmend, zu sich selbst kam. Alle geistigen Tendenzen seiner Jugendjahre hat er reflektierend in sich aufgenommen, an ihnen sich gebildet, keiner ist er zuzurechnen gewesen. Während sein Genius zu tief und von allzu kritischer Selbstbesinnung war, um sich zu isolieren, so war er zugleich zu stark, um sich zu akkomodieren, selbst wenn er es je gewollt hätte.
Etwa 1928 trat er dem Kreis des Instituts für Sozialforschung nahe, dem er verbunden blieb, auch nachdem die Emigration ihn nach Paris geführt hatte und das Institut nach Amerika. Vielleicht ist es für einen, der aus jenem Kreis hervorging und der jetzt einer der Direktoren des Instituts ist, nicht zu unbescheiden zu sagen, daß Benjamin hier, bis zur Katastrophe von 1940, etwas von jener Verbindung zwischen intellektueller Autonomie und dem Denken einer Gruppe fand, die ihm von je vorschweben mochte.