Worte zum Gedenken an Theodor Heuss*
Mir ist die Aufgabe zugefallen, einige Worte zum Gedächtnis an Theodor Heuss zu sagen, den ersten Präsidenten der Bonner Bundesrepublik; er war Mitglied unserer Gesellschaft. Seine Zugehörigkeit zu ihr faßte er nicht formell auf; manche von Ihnen werden sich daran erinnern, daß er seinerzeit, auf dem 12. Deutschen Soziologentag in Heidelberg, 1954, bat, nicht als Bundespräsident, sondern als Gelehrter unter seinen Fachgenossen betrachtet und behandelt zu werden. Er sagte das mit der ihm eigenen Selbstverständlichkeit, nicht gespielt bescheiden, aber auch ohne den Gestus von Würde, die etwas von sich nachläßt, sondern als die Person, die er war und die aus nichts Autorität zog als aus ihrem inkommensurablen, nicht durch Anpassung verschlissenen Wesen. Bei diesem Anlaß sprach er erstmals mit mir; er hatte vor Jahrzehnten recht nahe Beziehungen zu meiner Familie mütterlicherseits unterhalten, und der Name war ihm aufgefallen. Seitdem haben wir uns hin und wieder gesehen, einmal längere Zeit in Sils Maria, zuletzt bei der Besprechung wegen eines Literaturpreises in Stuttgart. Ohne daß ich beanspruchen dürfte, ihn wirklich nahe gekannt zu haben, hat die Figur sich mir doch so tief eingeprägt, daß ich vielleicht das Recht habe, sie zu charakterisieren. Wir müssen ihn gerade auf dieser Tagung ganz besonders vermissen. Max Weber bedeutete ihm wahrhaft etwas. Nicht lange vor seiner Erkrankung schickte er mir noch eine Arbeit über ihn. Überblickt man das Werk von Theodor Heuss, so wäre Anlaß genug, von ihm als Soziologen zu reden, mag auch der Schwerpunkt seiner Arbeit dem gegolten haben, was man nach gängiger Einteilung in Branchen Politische Wissenschaft und Sozialpolitik nennt; aber Sozialpolitik wäre unsinnig ohne Kenntnis der Gesellschaft, auf die sie sich erstreckt, und Heuss hat das sehr wohl gewußt.
Hebe ich trotzdem einen anderen Aspekt an ihm hervor, so nicht nur deshalb, weil ich sein wissenschaftliches œuvre nicht hinlänglich kenne. Sondern es wäre schief, seiner zu gedenken und nicht das Gewicht auf das zu legen, wodurch er der Geschichte sich eingeprägt hat und wodurch sein Name unverlierbar ist, wenn anders die Idee einer deutschen Demokratie ernst gemeint wird. Lassen Sie mich versuchen, in ganz wenigen Worten zu umreißen, was die Figur von Heuss soziologisch bedeutete: nämlich als Sozialcharakter; was diese Individualität in dieser Gesellschaft und ihrer politischen Verfassung darstellte.
Zunächst war Heuss, wohl als erstes deutsches Staatsoberhaupt seit Menschengedenken, Zivilist durch und durch. Der berühmt gewordene Manöverausspruch »Nun siegt mal schön«, der den Zwang militärischer Ausbildung wenigstens im Begriff aufhob durch die Humanität, der er ihn unterstellte, war der ganze Mann; alles Säbelrasseln, wörtlich und übertragen, war ihm fremd, nicht bloß aus Gesinnung zuwider. Sein Naturell kannte nichts von jenem Respekt vor organisierter Gewalt, der das deutsche Staatswesen vergiftet hat. Daß es, mit Hegel oder den alten Pythagoräern zu reden, darauf ankäme, der gute Bürger eines guten Staates zu sein, war ihm so sehr zweite Natur, daß er wahrscheinlich Mühe gehabt hätte, die Konzeption des Staatsoberhaupts als ein bronzenes Denkmal einer Herrscherfigur überhaupt zu denken. Er hat durch seine bloße Existenz, keineswegs erst durch das, was er sagte, ein Bild der Repräsentanz des Staates, und damit doch auch des Staates selber, aufgerichtet, wie es in so unprätentiöser und sachlicher Reinheit, so frei vom Habitus der Gewalt vor ihm in Deutschland unbekannt war. Diesem Bild die Treue zu halten, wäre wahrhaft alles andere als Bilderdienst.
Dann: er war ein Intellektueller. Den Typus des durch geistige Arbeit Abgesonderten, dem die Gestalt seiner Arbeit Naivetät, erst die in der Selbsterhaltung des Lebens und dann auch die des Gedankens, verwehrt, hat er von dem Odium befreit, das ihm in Deutschland anhaftete, nicht erst seit Goebbels das denunziatorische Wort von der Intelligenzbestie erfand. Heuss war ein Staatsoberhaupt, das, ohne zu zittern, anstelle des Schwertes seinen Füllfederhalter führen konnte. Dabei hatte er selbst, als Intellektueller, paradox naive Züge, die auch jene versöhnen mußten, welche den Haß auf den Intellektuellen selbst nach dem Sturz des Hitler nicht loswurden. Er bewährte eine der seltensten und besten Tugenden des Intellektuellen, die der Selbsterweiterung.
An einem Vorfall kann ich das erläutern. Ich glaube nicht, daß er, der alte Mann, zur radikalen modernen Kunst eine besonders enge Beziehung hatte, aber er verhielt auch zu ihr sich liberal und sachlich. Nie wäre es ihm beigekommen, wie es Menschen in seiner Position naheliegt, Phrasen über die Volksverbundenheit der Kunst nachzubeten; man war überhaupt bei ihm vor dem gefeit, was Theodor Haecker die Schmach des Offiziellen nannte. Mit Benno Reifenberg und Hermann Heimpel gab er das biographische Sammelwerk »Die großen Deutschen« heraus. Ich hatte es übernommen, dafür den Artikel über Schönberg zu schreiben. Heuss las ihn selbst und stieß sich an dem Gebrauch, den ich darin, scheuend, allzu Bekanntes zu wiederholen, vom Begriff der Zwölftontechnik machte. Aber er gehorchte nicht den für viele ominösen Vorstellungen, die sich an jene Technik anschließen, wollte nicht unterdrücken, daß der Begriff Zwölftontechnik behandelt werde, sondern insistierte, im Geist eines nüchternen aufklärerischen Volkserziehers, daß ich das Gemeinte soweit verdeutlichte, bis auch der fachmusikalisch nicht Unterrichtete verstehen mußte, worum es ging. Selten in meinem Leben habe ich Änderungen an einer Arbeit mit soviel Freude und so überzeugt durchgeführt wie die von ihm angeregten, die nicht aus Obskurantismus kamen, sondern aus humaner Solidarität. In einer Situation, in der, unter der Hand, der Begriff des Intellektuellen aufs neue diffamiert zu werden beginnt, ist die Unbefangenheit, mit der Heuss als Bundespräsident der ganzen Haltung nach Professor blieb, und nicht im mindesten die Rancune scheute, die das auslösen könnte – in einer solchen Situation wie der gegenwärtigen ist die Zivilcourage zum Intellektuellentum etwas wie eine moralische Verpflichtung. Heuss hat sie vererbt; er ist das Modell, wie ihr genügt werden könnte. Zumal die Organisation der Soziologen, die unablässig gezwungen ist, gängige Anschauungen anzuzweifeln und abzuklopfen, in welchen das verstockte Bewußtsein sich festmacht, hat jegliche Veranlassung, auf ihr Mitglied Theodor Heuss stolz zu sein.
Das soziologisch Erstaunliche aber, das ich unterstreichen möchte, ist, daß Heuss trotz der Stigmata des Zivilisten und des Intellektuellen, in einem bedeutenden, von keinem sich Anbiedernden und Hemdsärmeligen verunstalteten Sinn, populär geworden ist. Er hat dem Begriff der Popularität, der trotz aller Spannung dem von Demokratie nicht nur sprachlich verschwistert ist, etwas von der unbotmäßigen Wahrheit zurückerstattet, welche die nationalsozialistische Volksgemeinschaft ihm raubte. Neunmalkluge wissen immer wieder zu versichern, einer, der nicht autoritär auftrete und nicht gleichzeitig dem Volk nach dem Munde rede – beides ist im Rezept von »Mein Kampf« empfohlen –, auch keine Chance habe, als soziales Bild zu wirken oder, ganz einfach, bei den Massen sich durchzusetzen. Heuss hat das, wie mit einem unbeabsichtigten soziologischen Experiment, widerlegt. Es bestand zwischen ihm und den angeblich anonymen und entfremdeten Massen etwas kaum noch Vorstellbares: Kontakt ohne Demagogie. Wenn die erfolgreichen Demagogen ihren Gefolgsleuten gleichen und von ihnen sich unterscheiden nur dadurch, daß sie deren verdrückte Instinkte und Wünsche in ihrer Suada verströmen lassen, so glich umgekehrt Heuss den Millionen, die weit über seine politische Macht hinaus an ihm hingen, dadurch, daß er verkörperte, was in ihnen allen tiefer bereit lag als ihr kollektiver Narzißmus: die Idee des Bürgers einer Welt, in der man sich nicht zu fürchten brauchte. Diese Idee, und ihre deutsche Tradition, weit verschütteter als die Vorstellungen des Nationalismus, ist doch nicht unterzukriegen. Sie hat ihre Kraft daran, daß sie den Menschen das verheißt, was sie eigentlich ersehnen und was ihre bösen Träume von Macht und Herrlichkeit bloß verdrängen. Dabei war Heuss alles andere als weich, gar kein Humanitätsprediger; eher eigensinnig, in einer Weise auf sein Freiheitsrecht bedacht, die mit dem, was dann sein Amt ihm abverlangte, mühelos zusammenstimmte. Das Inkommensurable an ihm – selbst die vertraute Erscheinung hatte etwas Fremdartiges – muß die Menschen unendlich angezogen haben. Er war der Stellvertreter einer Art von Person, wie sie allgemein erst unter verwirklichter Freiheit gedeihen würde. In ihm schien der Dialekt unmittelbar Träger des Humanen; darum ist mit Heuss wie kaum zuvor in der deutschen politischen Sphäre Humanität zu einer Kraft geworden, welche bei den Massen Resonanz weckte.
Nach all dem ist es keine Phrase, daß er unvergeßlich bleiben wird. Denn was er war, darf nicht vergessen werden, wenn anders die deutsche Gesellschaft doch noch einlösen soll, was ihr immer wieder versagt war und was in Theodor Heuss eine kurze Spanne als Wirklichkeit allen vor Augen stand. Wir sind ihm dankbarer, als meine armen Worte es sagen können, und froh, daß er einer aus unserem Kreis war; was er ausdrückte, ist verbindlich auch für die Arbeit, die uns obliegt.
Fußnoten
* In einer Veranstaltung am zweiten Verhandlungstag des 15. Deutschen Soziologentages (vgl. oben, S. 703, Anm.) sprach Adorno seine Gedenkworte für Heuss.