Franz Neumann zum Gedächtnis
Die Publikation politisch-sozialer Schriften von Franz Neumann in der Reihe des Instituts für Sozialforschung* entspricht einer Verpflichtung ebenso wie einem Bedürfnis. Einer Verpflichtung, weil Neumann in den Jahren der Emigration in New York zum Kern des Instituts gehörte; auch nach der Rückkehr des Instituts nach Frankfurt blieb er ihm nah verbunden. Hätte der Plan, ihn für die Position zu gewinnen, die ihm gemäß gewesen wäre – ein Ordinariat in Berlin, wo er vor dem Ausbruch der Hitlerdiktatur wirkte und lehrte –, sich realisiert, so hätte das fraglos weiterhin enge Zusammenarbeit mit dem Frankfurter Institut bedeutet, dessen Intentionen stets auch die seinen waren. Ein wahrhaft sinnloser und trostloser Unfall, während einer Schweizer Ferienreise, zerstörte brutal die Hoffnung darauf. Nicht anders vermag das Institut seine Solidarität mit dem Toten heute zu bekunden, als indem es zu seinem Teil dazu beiträgt, Neumanns wissenschaftliche Produktion dem lebendigen Bewußtsein zu erhalten.
Über diese Verpflichtung hinaus geht das menschliche Bedürfnis, die Erinnerung an ihn wachzuhalten. Neumann war, dem Naturell nach, eher verschlossen, seine Leidenschaft drückte stets fast im sachlichen Interesse, zumal im politischen Engagement sich aus. Selten sprach er von sich; kaum vorzustellen, daß er je einem Freund sich geöffnet hätte. Der in Denkstruktur und Gestik den Juristen nie verleugnete, mochte leicht den Eindruck eines Rationalisten erwecken, den von Kühle, trotz seines eindringlich argumentierenden und plädierenden Temperaments. Dieser Eindruck trog, wie denn seine Art, Politik zu betreiben, menschliche Triebfedern voraussetzt, die Neumann, sei's freiwillig, sei's aus psychologischem Zwang, im Verborgenen hielt.
Sein Handeln stand zu seiner privaten Zurückhaltung im merkwürdigsten Gegensatz. Kaum je ist mir ein Mensch begegnet, bei dem die Art, wie er sich gab, und sein wahres Wesen, das in seinem Tun sich offenbarte, so sehr auseinander gewiesen hätten wie bei Franz Neumann. Kaum fürchte ich zu übertreiben, wenn ich ihn, den ich seit unseren frühesten Studententagen, wohl 1921, kannte, den generösesten Menschen nenne, den ich getroffen habe. Der über scharfe und vorausdenkende Vernunft verfügte, nutzte sie niemals fürs eigene Interesse aus. Wie er dazu neigte, auch unter den schwierigen Bedingungen der ersten Emigrationsjahre – wir verbrachten den Abend jenes 30. Juni 1934 zusammen in London –, den letzten Groschen für andere, Bedürftigere herzugeben; wie ihm Geiz nicht nur sondern fast die Sorge um den nächsten Tag völlig fremd waren; wie der gutbürgerlich wirkende Jurist nicht die Spur bürgerlicher Instinkte kannte, so verhielt er sich auch zur eigenen Arbeit. Das motiviert das spezifische Bedürfnis, jener Arbeit beizustehen, der er selbst beizustehen mit solcher Noblesse verschmähte.
Er gehörte zu dem Typus des Gelehrten, der, bei äußerstem sachlichen Interesse an den Problemen und größter wissenschaftlicher Verantwortung, eigentlich zufrieden war, wenn er etwas Wesentliches erkannt hatte. Der Drang zur Objektivation, zur verbindlichen Formulierung, auch zu wissenschaftlichem Ruhm ging ihm gänzlich ab. Daher entraten seine Arbeiten des Charakters in sich objektivierter Werke. Sie sind mehr wie aides mémoires, Erinnerungsstützen oder Forschungsberichte; ihr Schicksal war ihm, in einer mir fast unbegreiflichen Weise, gleichgültig. Hätte man ihm in dieser Richtung eine Frage gestellt, er hätte sie lachend und achselzuckend weggewischt. Solche Haltung hat dann, wie es zu gehen pflegt, über seinen Tod hinaus nachgewirkt. Helge Pross macht in ihrer Einleitung mit Recht darauf aufmerksam, daß der »Behemoth«, vermutlich bis heute das tiefste und wahrste Werk über den Nationalsozialismus, in Deutschland außerhalb des engsten Kreises der Fachgelehrten nicht entfernt so bekannt und wirksam geworden sei, wie das Buch, seinem Gehalt nach, es verdient hätte. Angesichts der Beschaffenheit von Person und œuvre ist es ein Stück Wiedergutmachung im doppelten Sinn, an ihm und an der Sache, wenn in der Bundesrepublik nachdrücklich die Aufmerksamkeit auf Neumann gerichtet wird.
Die Idee des »Behemoth«, bezeichnend für die Struktur alles dessen, was er verfaßte, ist originell im höchsten Maß, den Oberflächenvorstellungen vom monolithischen Faschismus schroff entgegengesetzt. In Übereinstimmung mit Untersuchungen von Otto Kirchheimer und Arkadij Gurland wird dargetan, daß der nationalsozialistische Staat, der sich als total-einheitlich propagierte, in Wahrheit pluralistisch war. Die politische Willensbildung stellte sich her durch die planlose Konkurrenz mächtigster sozialer Cliquen. Als erster vielleicht hat Neumann gewahrt, daß das Schlagwort Integration, seit Pareto eines der Zentralstücke faschistischer Ideologie, Deckbild seines Gegenteils ist, eines Zerfalls der Gesellschaft in die divergierenden Gruppen, die, äußerlich und abstrakt, von der Diktatur unter einen Hut gebracht werden, ohne daß sie im Leben der Gesellschaft sich spontan auszugleichen vermöchten, und die den verhimmelten Staat zu sprengen drohen. Ihm ist die Einsicht zu danken, daß, was sich rühmte, der Destruktion ein Ende zu bereiten und aufzubauen, seinerseits in eminentem Maß destruktiv, zerstörerisch ist, nicht nur gegenüber allem Humanen und nicht erst in der außenpolitischen Konsequenz, sondern rein immanent, in sich selbst; daß unterm Faschismus eben das zerfällt, was zu retten er vorgibt. In einem Augenblick, in dem die Parole von den aufbauenden und positiven Kräften erneut Zahlreiche zu verlocken droht, ist Neumanns Lehre von höchster Aktualität, der angebliche Monolith autoritärer Regierungsformen decke nur notdürftig einen Antagonismus der Kräfte zu. Die Gesellschaft, unfähig, in freier Bewegung länger sich zu reproduzieren, bricht auseinander in diffuse barbarische Vielheit, das Gegenteil jener versöhnten Vielfalt, die allein ein menschenwürdiger Zustand wäre. Er hat abgesehen, was es real mit dem Irrationalismus auf sich hat, der den Nationalsozialisten als Weltanschauung diente.
Durch den Gehalt seiner politischen und gesellschaftlichen Theorie, nicht durch hochtönende Parolen, ist das Werk Franz Neumanns das stärkste Plädoyer für ungeschmälerte Humanität.
Januar 1967
Fußnoten
* Adorno schrieb den Text als Vorwort zu einem für die »Frankfurter Beiträge zur Soziologie« geplanten Auswahlband, der dort nicht erschienen ist.