Berg: Drei Stücke aus der Lyrischen Suite für Streichorchester
Bergs Lyrische Suite ist ursprünglich für Streichquartett geschrieben und als kammermusikalisches Werk berühmt geworden. Wenn ein Meister seiner Strenge drei Sätze daraus für Streichorchester bearbeitete, so ist darin keinesfalls Autorenlaune zu sehen, sondern das Werk selbst, auf der Grenze zweier Bereiche gelegen, scheint nach zwei verschiedenen Erscheinungsweisen zu verlangen. Einen Hinweis auf seinen formalen Doppelsinn gewährt der Titel: es heißt nicht Streichquartett, sondern eben Lyrische Suite für Streichquartett. Das meint: es ist nicht eigentlich aus der Idee des Streichquartetts entsprungen: der Sonate, dargestellt in den Linienzügen von vier Stimmen. Sondern ein lyrisch-dramatischer Vorgang, wurzelnd in Liedmelos und Klangfarbe, ist seiner Intimität wegen den vier Instrumenten anvertraut. So hat denn auch von den sechs Sätzen des Originals keiner Sonatenform, außer dem ersten, der sie in sich negiert. Gerade die klanglich-vertikale, im Innersten homophone und im Ausdruck expansive Wesensart des Stückes will sich bei vier Soloinstrumenten weniger bescheiden als ein strikt ›lineares‹ es vermöchte. Die latente Oper, die in der Suite steckt, verlangt gleichsam ein Orchester zur Begleitung – wirkt doch das ganze Werk wie die geheimnisvolle Begleitung dramatischer Vorgänge, die es verschweigt. Erst im Klang des Streichertuttis schwimmen die Konturen so aufgelöst ineinander, wie die strömende Klangvorstellung erfordern mag, die das Werk beherrscht; erst das Tutti wird zum ›Begleiter‹ eines Verborgenen anstatt zum Hauptereignis; erst es gewährt dem Ausbruch die Gewalt, die zur Katastrophe führt. Das gibt für die von Berg gewählte Bearbeitung der drei Stücke den Grund ab. Sucht man nach historischen Modellen, so ist weniger an Quartette zu denken als an jene lyrisch-symphonische Zwischenform, die Mahler im »Lied von der Erde« gefunden hat und der auch Zemlinskys Lyrische Symphonie angehört, die in Bergs Werk einmal ausdrücklich zitiert wird.
Wie das Gesamtwerk, fächerförmig entfaltet, in der Richtung auf Extreme: Ausbruch und Verhaltenheit, Anmut und Verzweiflung geht, so ist auch das Kompositionsmaterial nach Extremen aufgespalten: teils ganz frei, selbst mit tonalen Einschlägen, teils aufs strengste im Sinne der Schönbergischen Zwölftontechnik disponiert. Die Streichorchesterbearbeitung gibt gewissermaßen den Kern der Konzeption, auf Einleitung und Katastrophe der Quartettfassung verzichtend.
Der erste Satz, Andante amoroso, ist durchaus lieblichen, ja zärtlichen Tones, steigert sich leidenschaftlich und wird dann gleichsam zur träumerischen Zartheit zurückgerufen. Bei aller Knappheit – der Knappheit eines lyrischen Gedichts – handelt es sich um ein ungemein gestaltenreiches und gegliedertes Stück: es verstehen heißt, zumal im Hören die Gliederungen mitvollziehen. Es wäre am ehesten als ein Rondo über drei Themen zu bezeichnen. Das erste, das den lieblichen Grundcharakter angibt, ist, als geschlossene Oberstimmenmelodie exponiert, deutlich zweiteilig gebaut und sehr prägnant:
Mit dem neunten Takt scheint eine Wiederholung zu beginnen, die aber, indem sie die Kopfmotive von Vorder- und Nachsatz aneinanderrückt und das letztere fortspinnt, bereits eine Verarbeitung bringt und in absteigende Tonleitern mündet, die während des ganzen Satzes an wichtigen formalen Einschnitten erscheinen. Sie leiten unmittelbar ins zweite Thema. Es tritt etwas energischer auf als das erste und kontrastiert zu dessen Feingliedrigkeit ländlerhaft einfach, im Dreiachteltakt:
Beispiel 2: Zweites Thema.
Munter wird es fortgeführt und erreicht dann eine erste Reprise des Hauptthemas, beginnend mit dessen Nachsatz, dann den Vordersatz nachholend und die erste Verarbeitung zu einem kleinen Rondo-›Gang‹ erweiternd. Ein Ritardando vermittelt den Eintritt des dritten Themas, dessen Beginn durch ein pulsierendes c der Bratschen deutlich wird. In seiner unbewußten Versunkenheit gleichsam vor sich hinspielend, bringt es einen der schönsten Augenblicke des Werkes:
Beispiel 3: die vier Anfangstakte des dritten Themas.
Sein Nachsatz will ganz träumend verschweben: eine Figur der Sologeige bietet das Material, der Klang lockert sich völlig auf. Dann setzt, wie von Beginn, eine zweite Reprise des Hauptthemas ein, die in der Fortsetzung auf ein bislang kaum hervorgetretenes Begleitmotiv von dessen Schluß zurückgreift. Es erzwingt eine Art Durchführung. Sie hat merkbar Ton und rhythmischen Charakter des zweiten Themas, ihr motivisches ›Modell‹ aber ist die Umkehrung des Anfangsmotivs des Hauptthemas, die erst allmählich in das Motivmaterial des zweiten Themas übergeführt wird. Schließlich kommt es zu dessen Reprise, die aber schon nach vier Takten (»subito poco meno mosso«) vom dritten Thema pianissimo unterbrochen wird. Nochmals setzt das zweite Thema an; nochmals erscheint unvermittelt das dritte mit seiner charakteristischen Grundharmonie, und ein Kontrapunkt der Bratschen meldet zugleich vernehmlich das erste an. Aber starr werden die Motive des zweiten Themas festgehalten, selbst vom traumhaften Nachsatz des dritten Themas nicht mehr zu beschwichtigen. Das zweite Thema scheint das Feld zu behaupten, da ereignet sich ein seltsamer Augenblick des Durchbruchs in dem Satz. Während die Celli bei ihrem Ländlermotiv insistieren; während das pulsierende c aus dem dritten Thema fast drohend erstarrt, erscheint hoch über den anderen Streichern, wie aus weitester Ferne und erst allmählich durchdringend, eine Melodie der gedämpften Geigen, in weitem Bogen. Sie aber ist nichts anderes als die Vergrößerung des Nachsatzes des Hauptthemas und der Beginn von dessen letzter Reprise. Während das drohende c in stets tiefere Regionen absinkt, erscheint der Beginn des Hauptthemas in der Grundgestalt. Ein Auffahren nochmals – motivisch aus dem Beginn des Hauptthemas; dann bereitet die rasch absteigende Skala, in Akkorden bewegt, das Ende: das tiefe c, zum letzten Male, doch ungemildert wiederholt.
Der zweite Satz, Allegro misterioso, bietet zum ersten den äußersten Gegensatz, nicht bloß im Tempo, sondern der Art der Konzeption nach: er ist nicht sowohl Spiel verschlungener Themen, als vielmehr ein atemloses Klanggedicht. Die Vorstellung erstickten, verzaubert fremden Klanges liegt ihm zugrunde, eines Klanges, der meist sul ponticelli und col legno, stets mit Dämpfer hervorgebracht wird und kaum mehr als der von Streichern zu erkennen ist. Wer poetische Assoziationen liebt, mag bei dem Stück an eine verzweifelt leidenschaftliche und zugleich unterdrückt geflüsterte Szene denken, die einmal auszubrechen wagt, um dann wieder ins fiebernde Flüstern zurückzufliehen. Der Form nach nähert sich der Satz dem Scherzotyp. Der eigentliche Scherzoteil ist ganz in Rascheln, immer fliegender und hastiger, aufgelöst und gibt kaum eine melodische Gestalt dem Ohr frei. Das »Trio estatico« bringt den Ausbruch:
– eine Melodie in stürmisch weiten Intervallen. Die Wiederholung des Scherzoteiles versetzt diesen in den ›Krebs‹: kehrt mit höchster Kunst dessen zeitlichen Verlauf getreu um; beginnend mit dem letzten Ton und endend mit dem ersten; nur ein Mittelteil ist fortgelassen. Als Ganzes steht das virtuose Stück nach Formidee und Ton dem Film-Zwischenspiel der jüngst in den BBC-Konzerten aufgeführten Lulu-Suite äußerst nahe.
Der dritte Satz endlich, Adagio appassionato, konzentriert den Ausdrucksgehalt des gesamten Werkes und legt frei, was bislang verschwiegen oder geflüstert war. Er bedeutet eben als solche Ausdruckskonzentration gewissermaßen die Durchführung der ganzen Suite: auch formal. Er ist dicht gedrängt und ganz einheitlich wie eine Durchführung. Seine eigene thematische Substanz wird von einem einzigen Thema gebildet, das aus einer mahlenden Bewegung heftig ansteigt. Anstatt kontrastierender Themen werden entweder solche aus früheren Sätzen, zitatähnlich, oder freie Weiterbildungen des Hauptthemas gebracht; die Form wird artikuliert durch Wiedereintritte des mahlenden Motivs vom Beginn des Hauptthemas. Es lautet:
Eine kurze Fortsetzung des im Hauptthema enthaltenen Triolenmotivs mündet in einen ersten ›Ausbruch‹, der nichts anderes ist als die Triomelodie des zweiten Stückes (s. Beispiel 4). Dann werden die drei Schlußtakte des Hauptthemas weiter steigernd ›durchgeführt‹, bis rondoartig, abklingend, das Mahlmotiv und der Beginn des Hauptthemas über flutenden (tonalen!) Harmonien wiedererscheint. Die anschließende Verarbeitung wird unter Ausnutzung der zitierten Triomelodie weitergetrieben, und unvermerkt verwandelt das Triolenmotiv des Hauptthemas sich in das Hauptthema des ersten Satzes, dessen Nachsatzmotiv wörtlich folgt. Das erwähnte Zitat aus Zemlinskys Lyrischer Symphonie führt zum Höhepunkt im dreifachen Forte, über einem synkopierten es der Bässe, das an jenes c des ersten Satzes mahnt. Bald ein zweiter Ausbruch, diesmal von Celli und Bässen, mit einem scheinbar neuen Motiv, das den Rest des Satzes beherrscht und schließlich als aus den Grundintervallen der ganzen Suite durch Transposition gewonnen sich enthüllt. Ganz verhalten danach das Pianissimo einer Molto tranquillo-Episode; dann dritter Einsatz des Mahlmotivs, doch ohne mehr ins Hauptthema zu münden; abreißend in heftigen dramatischen Akzenten. Endlich beginnt die Sologeige, flautando, mit dem ›neuen‹ Motiv die Coda. Es setzt sich fort durch Vergrößerung der bei der letzten Reprise ausgesparten Teile des Hauptthemas. Pianissimo, doch nicht aufgelöst, sondern dichten Klanges, gleichsam mit fest geschlossenen Lippen, endet das Werk.