Fällige Revision
Zu Schweppenhäusers Buch über Kierkegaard und Hegel1
Der Anzeige des Werkes von Hermann Schweppenhäuser möchte ich vorausschicken, daß der Autor Schüler von Horkheimer und mir ist. Er wurde, auf Grund jenes Buches, in Frankfurt habilitiert. Unüblich mag es sein, daß der ehemalige Lehrer eine Arbeit rezensiert, die aus seiner Schule hervorging. Nach der verbreiteten Ansicht muß es ihm ihr gegenüber an Objektivität mangeln; darum ist der Sachverhalt vorweg öffentlich klarzustellen. Zugleich aber sind auch die Gründe anzugeben, die mich veranlassen, vom Herkommen abzuweichen. Seit einigen Jahren beobachte ich die Tendenz, mich gegen meine philosophischen Schüler, oder solche, die dafür gelten, auszuspielen und dadurch eine offenbar unbequeme Wirkung einzudämmen. Was mir erlaubt sei, wird an den Jüngeren beanstandet; worin sie, vielleicht, mir verpflichtet sind, als unziemliche Nachahmung ihnen vorgeworfen. Dabei ist, woran man sich stößt, das Gegenteil der Übernahme geronnener und geläufiger Formeln: eher die Anstrengung zur Konzentration von Denken und einer Sprache, die sich an der Sache mißt, nicht an der Kommunikation, und freilich dadurch die Leser, auch akademische, vor ungewohnte Aufgaben stellt. Ähnlich wie einst die Musik Schönbergs, werden meine Arbeiten einer Einsamkeit zugeschrieben, aus der auszubrechen weder möglich noch wünschbar sei. Hinter dem Schein des Respekts verbirgt sich der Wille, zu suggerieren, was und wie ich schreibe, sei gebunden an die Person und ihre Zufälligkeit. Solche zumal, die sonst auf Tradition erpicht sind, suchen die Tradition zu unterbinden, die an meine Veröffentlichungen sich anzuschließen droht. Daß in der gegenwärtigen Situation das, was man früher die Bildung einer Schule nannte, legitimerweise eben von dem ausgehen könnte, was nicht mitspielt und statt dessen rücksichtslos aufs spezifisch als wahr Erfahrene drängt, ist den um meine Unverwechselbarkeit Besorgten fremd. Vielfach reagieren sie einfach die Rancune, die meine Publikationen in ihnen erwecken, an denen ab, die sie für wehrloser halten. Ohne daß ich im leisesten dazu neigte, mich als Verfolgten zu fühlen, bemerke ich so viele Symptome dieser Verhaltensweise, daß ich es mir nicht verbieten lassen möchte, die Leistung eines Menschen hervorzuheben, der die billige Weltklugheit verschmäht, in der Gestalt seiner Produktion deren geistige Herkunft zu verleugnen. Die Schrift Schweppenhäusers bietet dazu um so günstigeren Anlaß, als ihre Erkenntnisse wesentlich über das hinausgehen, was ich selbst im Kierkegaardbuch aus meiner Jugend gesehen und formuliert habe.
Der philosophiegeschichtliche Einfluß der Kritik, die Kierkegaard an Hegel, besonders in der »Abschließenden unwissenschaftlichen Nachschrift«, doch eigentlich in allen nicht-theologischen Schriften seit »Entweder/Oder« übte, läßt sich schwer überschätzen. Nach dem Niedergang der Hegelschen Schule und auch lange nach Schopenhauers Angriffen wurden die Einwände Kierkegaards als so durchschlagend empfunden, daß man glaubte, mit den schwierigen Haupttexten des objektiven Idealismus gar nicht mehr sich abgeben zu müssen. Strömungen wie die dialektische Theologie und die Existentialphilosophie wären zunächst kaum denkbar gewesen, hätten sie nicht stillschweigend Kierkegaards Thesen gegen Hegel als gültig unterstellt. Ob Kierkegaard Hegel auch nur richtig verstand, wurde nicht einmal gefragt; daß seine Polemik zentrale Begriffe posthum von dem erkorenen Gegner entlehnte, hat so wenig an seinem Verdikt irregemacht wie die Abschnitte über Wesen und Existenz im zweiten Band von Hegels Wissenschaft der Logik, die doch bezeugen, daß er die absolute Idee nicht als abstrakten Gegensatz zur Existenz verstanden wissen wollte, sondern gerade diese, das Moment des Nichtidentischen, inmitten der Identität zu dem Ihren bringen. Die Revision des Prozesses Kierkegaard contra Hegel ist nicht nur geistesgeschichtlich fällig, sondern nach Kierkegaards historischem Triumph philosophisch-sachlich gefordert. Dem hat Schweppenhäuser so energisch wie bedachtsam sich gestellt.
Sachgemäß gliedert sich sein Buch in zwei Schichten, die allerdings nicht mechanisch voneinander sich abheben lassen. Die eine betrifft Kierkegaards Hegelverständnis, die andere die philosophische Triftigkeit seiner Beweisführung.
Zur Frage des Hegelverständnisses liegt bislang nur ein kleiner, nicht wesentlich kritischer Aufsatz theologischer Haltung von Richard Kroner vor. Schweppenhäuser nun zeigt bis ins einzelne, daß Kierkegaard die Idee der Dialektik, des spekulativen Begriffs, der Vermittlung – von Kierkegaard Mediation genannt – und vieles andere von Grund auf fehlinterpretierte. Kern der Beweisführung ist, Kierkegaard habe, ohne die von Hegel durchgeführte Kritik der traditionellen Logik, des Identitäts- und Widerspruchsprinzips mitzuvollziehen, ihn nach dessen Maß kritisiert, also ihn ungebrochen an eben der Methode gemessen, die von der Dialektik aufgehoben ward.
Dabei jedoch bleibt es nicht. Schweppenhäuser tut dar, daß die entscheidenden Kategorien Kierkegaards, ihrem eigenen Sinn nach, nicht derart als Letztes zugrunde gelegt werden können, wie Kierkegaard es versuchte. Sichtbar wird, daß Kierkegaards eigene Lehre vom Nichtaufgehen der Existenz in den begrifflichen Bestimmungen der Metaphysik ihrerseits notwendiges Moment des Prozesses ist, den die Hegelsche Logik darstellt. Aus deren Zusammenhang isoliert und absolut gesetzt, nehmen die von Kierkegaard Hegel scheinbar so schroff entgegengesetzten Kategorien etwas Dogmatisches und Vorkritisches an. Hegels oberster Begriff, eben der der absoluten Idee, wird mit einem Gewaltakt der Dialektik entrissen und in ein statisches Ansichsein umgedeutet. Kierkegaard verkennt, daß das Heterogene, im Geist Unauflösliche, Unversöhnte keine Unmittelbarkeit, sondern, wie ausdrücklich bei Hegel, ein »Vermitteltes«, selber ein Moment ist. Er verabsolutiert es im wörtlichen Verstande. Dadurch wird bei Kierkegaard, der sich als Dialektiker betrachtete, alles wieder vordialektisch fest, unabänderlich jenseits der Bewegung des Begriffs. Dialektik als solche schließlich stellt er still im Begriff des Paradoxen. Dieser spitzt sich zu gegen Vernunft, die notwendige Bedingung von Dialektik, und bildet diese in theologischen Irrationalismus zurück. Der hat dann in der These von der absoluten Andersheit Gottes die protestantische Theologie erobert.
Gleichwohl kehrt Schweppenhäuser die Positionen nicht primitiv um, so als ob Hegel in allem und jedem recht behielte und Kierkegaard unrecht. Reif und besonnen bewahrt das Buch neben der Einsicht, wie sehr Kierkegaards Angriff dessen Objekt verfehlt, das Wahrheitsmoment seiner Hegel-Kritik. Relativ früh hat Kierkegaard die Problematik des identitätsphilosophischen Ansatzes durchschaut, diesen in einem weitesten, über Schelling hinausreichenden Verstand genommen. Stichhaltig polemisiert Kierkegaard insofern gegen das System, als darin dem Moment der Nichtidentität, so nachdrücklich Hegel es auch als solches bestimmt, konkret doch nicht das entscheidende Gewicht zufällt; untriftig wird die Kritik an jenem, weil Kierkegaard, indem er das nichtidentische Moment verficht, aus der Dialektik verzweifelt herausspringt und zurückfällt in jenes Denken, das bei Hegel bloße Reflexionsphilosophie heißt. Kierkegaard hat, bei aller Antipathie gegen Hegel, das Problem des Idealismus nicht gänzlich durchdacht. Ungezählte Kategorien aus dem idealistischen Bereich, neben solchen von Hegel selbst vor allem auch solche von Fichte, sind von dem Feind des Idealismus gleichsam naiv konserviert. Während Kierkegaards Angriff an seinem Gegenstand vorbeizielt, ist er gleichzeitig nicht stark genug, um das System zu entkräften.
Bei aller Gelehrsamkeit und Sorgfalt ist Schweppenhäusers Werk darum genuin philosophisch, weil es weder in der Entschlüsselung des von den behandelten Autoren Gemeinten sich erschöpft noch von einem Thema probandum her dirigiert ist, sondern rein von der Sache getrieben: die zwischen Kierkegaard und Hegel strittigen Fragen werden dicht an den Texten ihrem Wahrheitsgehalt nach behandelt. Geistige Autonomie wird im Buch nicht beredet; sie realisiert sich darin. Souverän unabhängig von den in Deutschland vorherrschenden Ansichten über Kierkegaard, etwa der von Jaspers, wird gedacht. Freiheit und Autonomie bewährt sich auch in der Darstellung. Sie verschmäht jede Konzession an die breiten Bettelsuppen des Approbierten, jegliche Verbeugung vorm einverstandenen Verständnis. Die Dichte und Gedrängtheit des Stils ist eins mit der Intensität des Denkens. Sie steigert sich bis zum Atemlosen. Dadurch sticht sie, ohne je zu poetisieren, von den Manieren der offiziellen Wissenschaft schockhaft ab: eine Norm dafür wird gesetzt, wie geschrieben werden müßte, wenn nicht der emphatische Anspruch von Philosophie, ihr Kantischer »Weltbegriff«, durch Laxheit und Gemütlichkeit des Ausdrucks zum Schulbegriff degenerieren soll. Indem Schweppenhäusers Buch gegen Kierkegaard sich kehrt, bietet es wahrhaft jenes Ärgernis, das jener einmal bieten wollte und das längst im Konformismus seiner Nachfolger zerging. Gerade dadurch hält es Kierkegaard die Treue. Nicht bloß verspricht das Werk eine bedeutende, durch keinen Autoritätsglauben beengte Entwicklung, sondern vermag, so wie es ist, heute und hier schon als Modell dessen einzustehen, wie überhaupt noch Philosophie gedacht und geschrieben werden kann, die nicht schon an ihrem ersten Tag veraltet wäre.
Fußnoten
1 Hermann Schweppenhäuser, Kierkegaards Angriff auf die Spekulation. Eine Verteidigung. Frankfurt a.M. 1967.