Erwin Stein

Zu seinem Tode

Aus London kommt die Nachricht, daß Erwin Stein, in seiner Jugend Dirigent, dann über lange Jahre Leiter der Orchesterabteilung der Wiener Universal-Edition, zweiundsiebzigjährig gestorben ist. Er war einer der letzten noch lebenden Repräsentanten der ersten Generation von Schülern Arnold Schönbergs. Gab es in dessen ursprünglichem Kreis den johanneischen Alban Berg; Webern, den Felsen; fehlte es auch nicht an Eiferern und Abtrünnigen, so fiel Stein im cénacle die Rolle des ungläubig-getreuen Thomas zu. Selbst kaum ehrgeizig als Komponist – insgeheim soll er ein paar sehr schöne Lieder geschrieben haben –, wahrte er sich stets eine gewisse Unabhängigkeit und verstand wie kaum ein anderer, auf seinen Lehrer kritisch einzuwirken. Dieser hat die wichtige Funktion, die Stein bei der Gestaltung seiner Harmonielehre ausübte, nachdrücklich anerkannt. Stein stellte zwischen dem konzessionsfeindlichen Schönbergkreis und dem, was so Musikleben heißt, eine gewisse Verbindung her, ohne selber dabei Konzessionen zu machen; auch den Interessen des Verlages nicht, dem er attachiert war. Dabei kam ihm die Autorität des technischen Experten zugute. Wie wenige beherrschte er die Kunst, allzu große Orchesterapparate ›einzuziehen‹, auf das Maß des Verfügbaren zu bringen; war überhaupt einer der Seltenen, die größte Orchestererfahrung mit geistiger Musikalität verbanden. Neben Schönberg selbst und Scherchen zählte er zu den ersten, die den Pierrot lunaire leiteten.

Vor allem aber hat er jahrelang die Fachzeitschrift für Dirigenten »Pult und Taktstock« herausgegeben, in der, wie kaum an einer anderen Stelle, von technisch musikalischen Fragen technisch verbindlich, ohne Phrase, gesprochen wurde, während doch die Beziehung zum geistig Wesentlichen in jeder Erörterung durchsichtig blieb. Es gibt wohl wenig Literatur zur Neuen Musik aus den zwanziger und beginnenden dreißiger Jahren, in der man so viel Aufschlußreiches finden könnte wie in jener Zeitschrift, die wegen der Wirtschaftskrise ihr Erscheinen einstellte. An keiner anderen Stelle war es möglich, so ungehemmt technische Analyse und ästhetische Deutung aufeinander zu beziehen. Stets war Stein beseelt vom freundschaftlichsten Verständnis, auch dort, wo ihm die Gedanken der Jüngeren einiges zumuteten. Seine eigenen Beiträge zu sammeln und zu publizieren, wäre wahrhaft der Mühe wert. Ihm sind so wichtige Bestimmungen wie die der immanenten Polyphonie der neuen Harmonik, also des in sich ›vielstimmigen‹ Charakters jedes einzelnen der dissonanten Akkorde, zu verdanken; auch was er über Mahler schrieb, dürfte leicht alles aufwiegen, was über diesen sonst gesagt wurde. Schönberg vertraute denn auch Stein die Aufgabe an, als erster der Öffentlichkeit Mitteilungen über die soeben von ihm entwickelte Zwölftontechnik zu machen. Steins Aufsatz »Neue Formprinzipien«, veröffentlicht in der Schönberg-Jubiläumsschrift zum fünfzigsten Geburtstag 1924, ist berühmt geworden.

Er emigrierte nach England, fand rasch wieder eine Expertenposition im Musikverlag. Schließlich kam der Name des unprätentiösen und zurückhaltenden Mannes auf die sonderbarste Weise in aller Mund: als seine Tochter Marion durch die Heirat mit dem Earl of Harwood Verwandte der englischen Königsfamilie wurde. In seiner englischen Zeit näherte Stein sich Britten; gern wüßte man Authentisches darüber, wie er während der letzten zwanzig Jahre zu jener Kunst sich stellte, an die er sachlich, unauffällig, aber mit großer Entschiedenheit sein Leben gewandt hatte. Seine Bedeutung für die formative Zeit der Neuen Musik war ohne Frage weit größer, als es die offizielle Literatur und der Prominentenbetrieb erkennen lassen; Treue und Dankbarkeit gebührt dem Toten.

1958