Anhang
Einleitung zum Vortrag »Gesellschaft«
Die folgenden Bemerkungen stellte Adorno dem Text »Gesellschaft« voran, den er am 14. Oktober 1966 in Rom als Vortrag hielt.
Die Erwägungen über Gesellschaft, die ich Ihnen vorlege, bedürfen einleitender Worte. Meine Formulierungen sind schwer zu trennen von ihrem Anlaß. Ich schrieb sie für das Evangelische Staatslexikon nieder. Als mich die Einladung erreichte, das Stichwort Gesellschaft dort zu behandeln, erschrak ich zunächst ordnungsgemäß angesichts der offenbaren Unmöglichkeit, einem Gegenstand, von dem nur in einem Buch einigermaßen verantwortlich geredet werden könnte, in genau begrenztem, sehr knappem Umfang gerecht zu werden. Die Aufgabe konnte ich nur als tour de force, auf einem Bein stehend, anfassen. Eben das jedoch reizte mich. Ich sah die Chance, Gedanken zwar arg verkürzt, dafür aber ohne hemmende Rücksicht auszudrücken. Nicht nur habe ich auf die üblichen Verweise und den gelehrten Apparat fast gänzlich verzichtet sondern auch auf die Begründungszusammenhänge, die man billigerweise erwarten kann. Versucht wurde, die Ergebnisse von Überlegungen zu verdichten, nicht die Überlegungen selbst zu geben. Eine Rechtfertigung des Verfahrens ist allein zu erwarten, wenn die Relevanz der Fragestellungen und mancher Antworten für sich selber spricht. Dogmatisch gleichsam, wie es nach wissenschaftlichen Gepflogenheiten anstößig ist, habe ich riskiert, etwas wie die Quintessenz meiner theoretischen Vorstellungen von Gesellschaft vorzubringen.
Derlei ungedeckte Gedanken provozieren den Einwand des Subjektivismus. Man äußere, was man sich ausgedacht hat, ohne es durch Fakten oder auch nur durch hinlängliche geistesgeschichtliche Bezüge zu stützen. Was aber, nach diesem Cliché, subjektivistisch scheint, halte ich für das Gegenteil. Die heute herrschende Sozialwissenschaft geht, im Namen der strengen Objektivität empirischer Methoden, auf subjektive Befunde zurück, nämlich auf jeweils erhobene Meinungen, Ansichten, Attitüden von Subjekten, die statistisch verallgemeinert werden. Demgegenüber ist das Interesse, das ich verfolge, das an der gesellschaftlichen Objektivität. Sie erst konstituiert die subjektiven Verhaltensweisen. Gerade jene Objektivität bedarf des subjektiven Gedankens, der sie konstruiert: sie ist nicht unmittelbar vorfindlich. Den vergegenständlichenden wissenschaftlichen Methoden entzieht sie sich weithin. Einzig innerhalb der gesellschaftlichen Objektivität gewinnen diese ihren Stellenwert, mögen dann freilich auch die objektiv gemeinten theoretischen Konstruktionen ihrerseits verändern. Beabsichtigt ist daher nicht, ein Darstellungsschema zu entwerfen, in dem alles Gesellschaftliche, alle erdenklichen Forschungsresultate ihren Platz finden, und das Schema als Theorie der Gesellschaft zu präsentieren; ebensowenig, eine Methodologie zwischen den Erkennenden und die Sache zu schieben und sie womöglich für die Sache zu nehmen. Nicht mehr will ich, als einiges zur Sache selbst, eben Gesellschaft, sagen.
Der Versuch dazu entspricht genau dem, was für die Verhaltensweise des Intellektuellen gilt. Dessen Diffamierung, die im Augenblick wieder ihre Wellen schlägt, wird dem Versuch fraglos widerfahren; fehlt es doch bereits in der akademischen Diskussion über die Soziologie nicht an Stimmen, die mehr oder minder ausdrücklich den Intellektuellen durch den Forschungstechniker ersetzen möchten. Zugrunde liegt diesen Bestrebungen ein Modell von subjektiver Vernunft: Überlegungen werden allein am Typus des Denkenden gemessen, nicht am Gedachten. Diejenigen, die den Intellektuellen und seine Haltung abwerten, stellen sich, ohne daß sie es wohl ganz realisierten, mehrerlei Wahrheit vor: eine für vernünftige Leute mit gesundem Menschenverstand; eine für die Massen, die man zu verachten pflegt; und eine für die Intellektuellen, die im allgemeinen nun einmal unfreundliche Dinge sagen, für die sich bietenden sogenannten positiven Aufgaben nicht recht zur Verfügung stehen und Antipathie erregen. Es kommt aber auf die Objektivität der Erkenntnis an, nicht auf die soziale oder psychologische Beschaffenheit der Erkennenden; heute vor allem darauf, ob etwas Wesentliches berührt wird, oder ob der gesunde Menschenverstand und auch die Wissenschaftsapparatur davon abhält. Angesichts der mittlerweile allgegenwärtigen vorgeformten Meinungen und Verfahrungsweisen dürfte das Verhalten des Intellektuellen, das weder mit Fakten noch mit Beiträgen sich abspeisen läßt, seine spezifische Funktion haben, die der Weigerung, bei der Fassade sich zu bescheiden, einer gewissen Hartnäckigkeit, der die Frage, wie es nun eigentlich sei, mehr gilt als das Approbierte.
Einstweilen wird man gegen die Intellektuellen selten mehr offen so argumentieren wie in der Zeit des Vorfaschismus und Faschismus; schwerlich sie zersetzend schelten. Das wäre nicht nur taktisch unklug, sondern verginge sich auch gegen das gepriesene Ideal wissenschaftlicher Wertfreiheit. Beliebter ist es, die Intellektuellen, verglichen mit denjenigen, die sich damit begnügen, sozialwissenschaftliche Tatsachen zu ermitteln, als überholt zu erledigen. Man folgt dabei insgeheim dem Sozialdarwinismus. Die Intellektuellen stürben aus, weil für ihre Arbeit kein Bedürfnis innerhalb der vorwaltenden Praxis mehr vorliegt; sie seien nicht mehr verwertbar, es erginge ihnen etwa so wie in paläontologischen Zeitspannen mit Organen und Lebewesen, denen die Anpassung mißlingt. In der Ideologie des Hitler spielten die Intellektuellen die Rolle der Hyänen; heute eher die von Dinosauriern. Man läßt sie sogar ihr Wesen treiben, darauf vertrauend, daß wenige ihnen nachfolgen, weil das, was man bei ihnen lernen kann, nicht unmittelbar berufliche Chancen eröffnet, vielleicht gar am beruflichen Funktionieren hindert. Diese Prognose datiert auf Max Weber zurück. Er hatte sie freilich noch kritisch gemeint; sah voraus, daß der Typus des gebildeten Menschen, entsprungen in absolutistischen Zeiten und früher, durch den des Fachmenschen ersetzt werde. Während ihm jene Entwicklung so zwingend erschien wie die fortschreitende Bürokratisierung der Welt, sann er über Korrektive nach. Seine Gedanken über das Charisma, die ihre verhängnisvollen Folgen hatten, waren nicht zuletzt um solcher Korrektur willen entstanden. In den mehr als vierzig Jahren seit der ersten Veröffentlichung von »Wirtschaft und Gesellschaft« aber hat das herrschende Bewußtsein den Sachverhalt umgekehrt. Die soziologische Selbstreflexion hat sich auf die Seite jener Entwicklung gestellt, vor der Max Weber noch schauderte. Aus seiner Beschreibung einer geschichtlichen Tendenz wird ein frischfröhlicher Defaitismus des Gedankens, getragen von einer höchst äußerlichen Ansicht von Geschichte. Der Fortschritt des Geistes soll nicht in der Kraft, der Folgerichtigkeit seiner Einsicht bestehen. Zum Kriterium des Fortschritts wird die Angemessenheit des Bewußtseins an die von außen, heteronom ihm sich stellenden Aufgaben. Ähnlich profund sind die Ansichten derer, die den Jazz, weil er einer bestimmten Art gesellschaftlich-psychologisch bedingter Bedürfnisse entspricht, für moderner halten als die qualitativ moderne Musik. Vergessen wird, daß das Zeitgemäße in der Gestalt der Sache selbst liegt. Es gibt eine immanente Fortgeschrittenheit, die mit der Anpassung an das, was angeblich gerade benötigt wird, zuweilen wenig zu tun hat, und im Augenblick deren Gegenteil ist. Gegenüber der Universalität der Anpassungsmechanismen heute dürften die Gedanken die fortgeschritteneren sein, welche jenen Mechanismen nicht sich unterwerfen und sich weigern, nach ihren Spielregeln zu verfahren. Der Weg des Fortschritts über die Anpassung des Denkens an die Maschinen, die es erfunden hat, ist keiner sondern regressiv. Er endet im Schwachsinn. Je mehr der Gedanke ans Wesentliche durch die Technifizierung des Denkens verstümmelt wird, desto mehr bedarf es dessen, was diesem Prozeß zum Opfer fällt und wonach auf dem Markt, auch dem geistigen, kein Bedürfnis besteht. Dies Interesse wird aber vertreten vom Intellektuellen; demjenigen, der nicht sich einschüchtern läßt, unabhängig genug, die Gedankenkontrolle zu erkennen, anstatt ihr zu parieren. Was ich Ihnen also vortrage, ist gesagt aus der ausdrücklichen, ihrer selbst bewußten Position des Intellektuellen, die sich auch das Recht auf die heute verfemte Spekulation nicht verkümmern läßt. Selbst nach dem Maß der herrschenden Anschauung, die vom Geist die Anpassung verlangt, deren Gegenteil er dem eigenen Begriff nach ist, läßt der chronologischen Diffamierung des Intellektuellen sich antworten. Die Menschen wenden in Wahrheit keineswegs vom unreglementierten Gedanken so sich ab, wie die Verwalter des reglementierten es gern möchten. Eher atmen sie auf, wo das nicht zugerichtete, das nicht verdinglichte Bewußtsein noch sich zu regen wagt. Im Vertrauen darauf teile ich Ihnen einige meiner Spekulationen über Gesellschaft mit, und wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sie so aufnehmen wollten, wie es in dieser Konzeption gelegen ist.
Einleitung zu einer Diskussion über die »Theorie der Halbbildung«
Der Text wurde im Oktober 1960 für eine Rundfunkdiskussion geschrieben, in dieser aber nicht benutzt.
Der Vortrag, den wir unserer Diskussion zugrunde legen, basiert auf keiner empirischen Untersuchung zur Bildungssoziologie. Er ist theoretischer Art, freilich nicht ohne die Absicht formuliert, auch gewisse Fragestellungen zu fördern, die empirisch sich beantworten lassen. Erschienen ist der Text im Heft 132 des »Monats« und auch in den Akten der Berliner Tagung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie vom Jahr 1959. Da wir jedoch nicht voraussetzen können, daß diese Publikationen Ihnen bekannt sind, möchte ich in aller Kürze ein paar Gedanken daraus wiedergeben; nicht etwa, wie man so sagt, den Vortrag selbst referieren. Die Möglichkeit des Resümees verantwortlich formulierter Dinge bezweifle ich. Was ich schreibe, opponiert geradezu der Resümierbarkeit. Sie setzt eine Trennung von Form der Darstellung und Inhalt voraus, die ich ungebrochen nicht anerkennen kann. Ließe ein Text angemessen sich resümieren, so bedürfte es nicht des Textes, sondern das Resümee wäre die Sache selbst. Darum sind die Motive, die ich andeute, fragmentarisch und unzulänglich. Sie wollen nicht für sich selbst genommen werden sondern lediglich als Rohmaterial der Diskussion.
Ausgegangen wird von der These, daß Bildung heute zur sozialisierten Halbbildung geworden ist. Das aber wird nicht auf ihre eigene Geschichte oder etwa die der Pädagogik zurückgeführt, sondern gesellschaftlich begriffen. Kultur selbst hat Doppelcharakter: als Geisteskultur auf der einen Seite, als sich anpassende Naturbeherrschung auf der anderen. Bildung auf ihrer Höhe, wie sie vom Humanitätsbegriff gemeint war, enthielt beide Momente in sich. Unterdessen ist die Spannung zwischen ihnen weithin zergangen. Geistige Kultur wird, außer von den beruflich mit ihr Befaßten, kaum mehr als etwas Substantielles erfahren, Anpassung im Netz einer universal vergesellschafteten Gesellschaft wird allherrschend und läßt kaum mehr die Erinnerung an ein geistig Selbständiges übrig.
Geist, im Sinn jener freilich stets auch problematischen Selbständigkeit, beginnt zu veralten. Wo er sich unreflektiert diesem Prozeß entgegenstellt, droht ihm die Unwahrhaftigkeit: er wird zum Fetisch. Nicht anders aber auch die Anpassung, als Vorrang universal organisierter Mittel über jeglichen vernünftigen Zweck des gesellschaftlichen Ganzen.
Bildung allein hat nie, wie sie es wähnte, eine vernünftige Gesellschaft herbeigeführt oder garantiert. In ihrem Ideal, das Kultur absolut setzt, schlägt die Fragwürdigkeit von Kultur selber durch. Während an dem die ganze Geschichte hindurch wirkenden Widerspruch wirtschaftlicher Macht und Ohnmacht, und damit an der den Ohnmächtigen objektiv aufgezwungenen Grenze von Bildung, nichts Entscheidendes sich änderte, wandelte sich die Ideologie um so gründlicher. Sie macht es heute auch denen möglich, die gesellschaftliche Spaltung zu erkennen, welche die Last zu tragen haben. Das Bewußtsein oben und unten gleicht sich an. Subjektiv werden die sozialen Unterschiede immer mehr verflüssigt. Die Massen werden durch ungezählte Kanäle mit Bildungsgütern beliefert, die früher der Oberschicht reserviert waren. Die Voraussetzung zur Bildung selbst, zur lebendigen Erfahrung des unterdessen zum Bildungsgut Geronnenen jedoch bleibt fragwürdig. Von den Arbeitsprozessen her zerfällt überhaupt jener Begriff von Erfahrung, der all das trägt, was einmal Bildung hieß. Die Entwicklung ist nicht zufällig, auch nicht etwa dem bösen Willen der über die Kulturindustrie Verfügenden zuzuschreiben, sondern gründet objektiv in der Tendenz der Gesellschaft und läßt sich auch durch den guten Willen nicht beliebig widerrufen.
Das Resultat dieser Tendenz ist einstweilen die universale Halbbildung, die Verwandlung aller geistigen Gehalte in Konsumgüter. Weder sind diese mehr verbindlich, noch auch nur eigentlich verstanden. Statt dessen informiert man sich über sie, um an der Kultur teilzuhaben. In Wahrheit taugen sie nur noch dazu, die tragenden gesellschaftlichen Vorgänge zu verschleiern. Halbbildung ist die Verbreitung von Geistigem ohne lebendige Beziehung zu lebendigen Subjekten, nivelliert auf Anschauungen, die herrschenden Interessen sich anpassen. Die Kulturindustrie, die zu einem durch alle Medien hindurch sich erstreckenden System geworden ist, gehorcht nicht nur der ökonomischen Notwendigkeit der Konzentration und der technischen Standardisierung, sondern produziert zugleich Kultur ausdrücklich für jene, welche Kultur von sich stieß. Halbbildung ist der manipulierte Geist der Ausgeschlossenen.
Anstatt daß Geist kritisch erfahren und selbst zum kritischen Element würde, wird er zu Leitbildern verarbeitet, die den Menschen Ersatz bieten im trostlosen Stand der Bilderlosigkeit, in den sie hineingeraten sind. Was, noch bis in die Zeit des Expressionismus hinein, mit einem selbst schon eitlen und fragwürdigen Ausdruck der Geistige Mensch hieß, stirbt ab. Sein Erbe, der Versierte, der sich realistisch dünkt, ist aber nicht näher zu den Sachen, sondern einzig bereit, alles ohne Anstrengung zu schlucken, was in ihn hineingestopft wird.
Geist an sich kann von all dem nicht sich rein erhalten. Es berührt ihn in seiner innersten Zusammensetzung, daß Bildung nicht mehr im Ernst erwartet, nicht mehr gesellschaftlich honoriert wird. Gesellschaftlich nützlicher, verwertbarer ist die Halbbildung, der vom Fetischcharakter der Ware ergriffene Geist. Er hat auch, was einmal oben war, in sich hineingerissen. Nichts ist zu gut und zu teuer, aber nichts bleibt unverschandelt, alles wird von der Produktionsseite her auf die zugeschnitten, die man als Konsumenten einkalkuliert.
Zweifel werden gehegt an dem unbedingt aufklärerischen Weg der Popularisierung von Bildung unter den gegenwärtigen Bedingungen, so wenig auch dieser Prozeß sich stornieren läßt, so gewiß er sein Fruchtbares hat. Vielfach verändert das verbreitete Bildungsgut durch seine Verarbeitung genau jenen Sinn, den zu verbreiten man sich rühmt. Es gibt in geistigen Dingen keinen Approximationswert der Wahrheit. Das halb Verstandene und halb Erfahrene ist nicht Vorstufe der Bildung sondern ihr Todfeind. Die Vorstellung, das Geniale und Große zeuge unmittelbar für sich selbst und mache sich verständlich, ist illusionär. Nichts, was mit Fug Bildung heißen darf, kann voraussetzungslos ergriffen werden. Halbbildung jedoch hat das geheime Königreich, von dem zu Unrecht die Vielen ausgeschlossen waren und das allein schon deshalb kein rechtes war, zu dem Aller gemacht; alle können mitreden, alle gehören dazu, aber bloß als Konformierende, nicht in jener Autonomie, jener Freiheit, die an der Beziehung zur Sache wächst, so wie es einmal die Idee von Bildung selber gewesen ist.
Solche Überlegungen hatte ich in jenem Vortrag angestellt. Ehe nun Herr Hellmut Becker das Wort ergreift, darf ich Sie vielleicht noch darauf aufmerksam machen, daß diese Überlegungen, im Sinne einer kritischen Theorie der Gesellschaft und ihrer Zurückgebliebenheit hinter ihrem eigenen Potential, genau jene Anschauungen verletzen, die mit dem landläufigen Begriff von Fortschrittlichkeit verbunden werden. Dieser Widerspruch ist eigentlich das Medium, in dem unsere Diskussion sich zuträgt.
Diskussionsbeitrag zu »Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft?«
Auf Adornos Einleitungsvortrag zum 16. Deutschen Soziologentag in Frankfurt a.M., »Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft?«, der am 8. April 1968 gehalten wurde, reagierte Ralf Dahrendorf am folgenden Tag in seinem Referat »Herrschaft, Klassenverhältnis und Schichtung« (vgl. Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft? Verhandlungen des 16. Deutschen Soziologentages, hrsg. von Theodor W. Adorno, Stuttgart 1969, S. 88ff.). Die anschließende Diskussion wurde von Adorno mit dem folgenden Beitrag eröffnet, der, obwohl frei formuliert und Adornos prinzipiellen Vorbehalten gegenüber seinen gesprochenen Worten exponiert, um seiner sachlichen Relevanz willen abgedruckt wird.
Ich habe mich zunächst bei Ihnen dafür zu entschuldigen, daß ich schon wieder hier auftrete. Aber da es gestern zu der projektierten Diskussion meines Referats nicht gekommen ist, und da Herr Dahrendorf in seinem Referat explizit darauf Bezug genommen hat, würde ich es als Kneifen empfinden, wenn ich ihm nicht antwortete, und zwar genauso dezidiert, wie er zu meinem Referat sich stellte; selbstverständlich ohne daß ich dabei die Punkte präjudizieren möchte, die sich auf das von Herrn Brandt verlesene Referat der Arbeitsgruppe beziehen, die anstelle von Herrn Teschner eingesprungen ist.
Ich möchte zunächst wenigstens ein Wort sagen zum Komplex Theorie und Praxis. Mich hat gewundert, daß gerade von Herrn Dahrendorf der Vorwurf erhoben wurde, die Dinge, die ich vertreten habe und die auch von der Arbeitsgruppe vertreten worden sind, seien von der Praxis allzuweit entfernt gewesen. Ich bin eigentlich auf diesen Vorwurf bisher sonst eher von ganz anderer Seite her gefaßt. Ich kann nicht den ganzen Komplex aufrollen und möchte mich bescheiden zu einer immanenten Kritik dessen, was Herr Dahrendorf über diesen Punkt gesagt hat. Der Kern seines Argumentes war doch wohl der, daß eine sogenannte gesamtgesellschaftliche Konzeption notwendig auch einen Begriff gesamtgesellschaftlicher Praxis involviere, während diejenige Praxis, die erfolgversprechend ist, bei der man also wirklich etwas Reales bessern kann, etwa die ist, daß man der berühmten Forderung des Tages genügt, also in konkreten Einzelheiten sich bewährt. Nun, ich glaube in der Tat, daß der ganze Zusammenhang von Theorie und Praxis durchaus neu und radikal durchdacht werden muß und vor allem, daß man nicht in einer klappernden und mechanischen Weise einen Zusammenhang von Theorie und Praxis postulieren darf. Ich bin mir auch der Gefahr bewußt und meine, das in meinen Arbeiten reichlich zum Ausdruck gebracht zu haben, daß die Forderung der Einheit von Theorie und Praxis sehr leicht zu einer Art von Zensur der Theorie durch die Praxis führt. Dadurch unterbleibt unter Umständen gerade die für eine sinnvolle Praxis notwendige gesellschaftliche Analyse. Aber ich denke doch, daß die Begriffskombination zwischen den Kategorien Theorie und Praxis und gesamtgesellschaftlicher oder empirischer Einzelanalyse, so wie sie dem Konstrukt von Herrn Dahrendorf zugrunde liegt, nicht zu halten ist. Und zwar möchte ich dabei auf eine ganz simple Tatsache verweisen. Nämlich, daß man, wenn man in einem beschränkten sogenannten konkreten Bereich – und wer möchte heutzutage nicht konkret sein – etwas zu ändern versucht, fast mit abstrakter Notwendigkeit, mit einer Regelhaftigkeit, die den Charakter der lähmenden Stereotypie hat, auf Grenzen einer solchen partikularen Praxis stößt. Ich bedaure es in diesem Zusammenhang ganz besonders, daß mein Kollege Teschner nicht unter uns ist, der in seinen Untersuchungen über politischen Unterricht außerordentlich konkret und zwingend nachgewiesen hat, daß die Reform- und Besserungsvorschläge, die in diesem für die Zukunft einer freien Gesellschaft so außerordentlich wichtigen Sektor gemacht werden, sofort auf Grenzen stoßen, die man nur als durch das System gegebene Grenzen bezeichnen kann. Ohne daß ich den Riesenaspekt Theorie und Praxis jetzt aufrollen möchte, dürfte das doch genügend rechtfertigen, daß Praxis nicht an den einzelnen konkreten Notsituationen primär sich entfaltet, sondern daß sie das, was das Ganze meint, in sich einbezieht. Selbstverständlich ist das gesellschaftliche Substrat schließlich die konkrete Situation: was geändert werden muß, ist das reale Leben der einzelnen Menschen. Aber eine solche Veränderung ist jetzt und hier nicht notwendig eine des Lebens der Menschen unmittelbar, weil ihr Leben kein unmittelbares ist, sondern längst durch jene gesamtgesellschaftlichen Momente determiniert. Die zu erkennen, ihre in jedem Augenblick zu erfahrende, aber außerordentlich schwer nun wieder ihrerseits in Tatsachen zu übersetzende Beschaffenheit, das macht die oberste Aufgabe einer aktuellen Soziologie aus. Herr Dahrendorf hat mich in diesem Zusammenhang attackiert deswegen, weil ich so etwas wie einen neuen Jargon der Eigentlichkeit verbreiten würde. Ich möchte annehmen, daß sich das auf die Terminologie der theoretisch orientierten Arbeiten der Frankfurter Schule bezieht. Herr Dahrendorf, ich bitte Sie zu verzeihen, wenn ich hier sehr drastisch rede. Aber ihr Einwand ist eine Retourkutsche, und zwar eine, die mich nicht mitnimmt. Keine Wissenschaft, gleichgültig welcher Art, kommt ohne eine gewisse Terminologie aus. Diejenigen, die den Jargon der Eigentlichkeit gelesen haben, wissen, daß ich dabei nicht etwa das Terminologische jener Sprache angegriffen habe, sondern eine Terminologie, die sich gebärdet, als ob sie keine wäre. Oder anders gesprochen: den Ausdruck von gesellschaftlich vermittelten Verhältnissen, der sich benimmt, als ob er der Ausdruck menschlicher Urerfahrungen wäre. Der Jargon der Eigentlichkeit ist ein Stück Ideologiekritik und nur als solches zu verstehen, deshalb auch kritisierbar nur an seinem spezifischen Inhalt. Es gehört zum elementaren Verständnis einer solchen Ideologiekritik, daß man nicht etwa den Begriff Jargon, wie er darin vorkommt, einfach nach wissenschaftlichen Spielregeln behandelt und fragt, ist das nun wirklich ein Jargon, sondern daß man das kritisch-parodische Moment daran mitdenkt. Und dazu allerdings stehe ich und bilde mir ein, daß diese Arbeit immerhin ein wenig zur Entideologisierung der deutschen Atmosphäre beigetragen hat. Der sogenannte Jargon, wie er mir und meinen nächsten Freunden vorgeworfen wird, wenn der sich dadurch auszeichnen soll, daß er sich dem leichten Verständnis entzieht, dann kommt das genau davon, daß hier der Versuch gemacht wird, durch einen sehr strengen Ausdruck der Sache selbst sich jener Schlamperei der allgemeinen Kommunikation zu entziehen, die, so wie die Gesellschaft heute geartet ist, selber nur dazu hilft, die Wahrheit durch den Schein eines allgemeinen Einverständnisses zu verdunkeln.
Weiter hat Herr Dahrendorf mir einen – er drückte sich sehr diskret und rücksichtsvoll aus –, aber doch: einen nicht ganz verantwortungsvollen Gebrauch der Kategorien objektiv und subjektiv vorgeworfen. Ich möchte diese Begriffe klarstellen, obwohl Sie wissen, daß die Anschauungen, für die auch ich einstehe, mit dem Prinzip der Definition nicht so rückhaltlos einverstanden sind wie die, welche die Gegenposition vertreten. Aber immerhin: gemeint ist hier mit einer objektiven Soziologie eine, die glaubt, auf Strukturen der Gesellschaft rekurrieren zu können, die, wie ich es gestern ausgedrückt habe, dem System der Gesellschaft selber entnommen sind oder das System der Gesellschaft selber treffen, und die nicht etwa durch das szientifische Bedürfnis und die szientifische Organisation hervorgebrachte Systematisierungen oder Ordnungsschemata sind. Demgegenüber habe ich mit subjektiv zweierlei bezeichnet.
Einmal, den szientifischen Subjektivismus: daß die Ordnungskategorien der klassifikatorischen Wissenschaft die eigentlichen Medien der Erkenntnis abgeben sollen auf Kosten einer Struktur der Sache selbst. Dann aber, und das war wohl mehr die Bedeutung, die Herr Dahrendorf im Auge hatte, den Subjektivismus, der darin besteht, daß auf subjektive Daten, also zum Beispiel auf Einkommensgruppen oder auf Standesbewußtsein, auf Rollenbewußtsein oder gar auf die bekannten Indices, wie die amerikanische Schichtensoziologie sie benutzt, rekurriert wird dort, wo es sich in Wirklichkeit um die objektiv vorgezeichnete Stellung der einzelnen Menschen im Produktionsprozeß handelt.
Herr Dahrendorf hat sehr effektvoll darauf hingewiesen, daß schließlich eine soziale Tatsache wie die weit unterrepräsentative Beteiligung von Arbeiterkindern an den sogenannten höheren Bildungsinstitutionen doch weiß Gott ein konkretes Problem sei, das aber nach den Kategorien, die ich verwende, der Vergleichgültigung verfiele. Ich möchte kein Mißverständnis aufkommen lassen; ich bin der letzte, der diese Dinge unterschätzt, und das ist noch viel zu schwach und armselig gesprochen. Natürlich ist der letzte Angriffspunkt einer kritischen Theorie der Gesellschaft das reale Leben der einzelnen Menschen. Aber der Unterschied besteht darin, ob man dabei von Einzelsektoren ausgeht, oder ob man die Einzelsektoren, die Einzelerfahrungen sieht in einem Strukturzusammenhang mit der Gesellschaft als solcher. Wie weit man an Einzelphänomenen auch unabhängig davon etwas ändern kann, das muß im Augenblick auf sich beruhen; die Grenzen sehe ich als sehr eng an. Aber ich meine etwas, was sicherlich Herrn Dahrendorf als einem genauen Kenner von Marx ebenfalls gegenwärtig ist, nämlich, daß dieser und Engels den Gebrauch der beiden Begriffe arm und reich, wie er etwa bei den Utopisten, schon bei dem alten Morus vorliegt, aufs allerschärfste kritisiert hat. Nicht deshalb, versteht sich, weil er die Tatsache der Armut hat bagatellisieren wollen, sondern weil er glaubte, daß die allerrealste und dringlichste, die reale Armut der Menschen, gleichzeitig von der Struktur her nicht das Erste, sondern ein Abgeleitetes und Sekundäres ist, das man in seiner Vermittlung erkennen muß. Geht man auch hier wirklich auf die Wurzeln, so setzt man sich dadurch auch noch dem Vorwurf der Unmenschlichkeit aus, weil man nicht unmittelbar an die Menschen denkt. Aber ich halte auch das für einen Teil des Verblendungszusammenhangs. Die Unmenschlichkeit, um die es geht, ist gerade die, daß die Menschen in ihrem lebendigen Schicksal zu Objekten geworden sind, und es ist nicht die Unmenschlichkeit der Soziologie, die versucht, das auszusprechen.
Nun, was die Zurückhaltung in bezug auf die Zukunft anlangt, so kann ich dazu nur wiederholen, was ich gestern sagte; daß der Sinn emphatischer Theorie nicht die Prognose ist. Das gehörte eigentlich in den Zusammenhang einer Positivismus-Debatte, denn im Positivismus sind die Bewährungskriterien für die Wahrheit allesamt prognostischer Art. Herr Dahrendorf hat so viele Fragen aufgeworfen, daß ich zum Thema Prognose vielleicht mit einer Frage antworten darf. Es könnte ja möglich sein – Horkheimer hat in einer alten Arbeit einmal dies Problem sehr eindringlich verfolgt –, daß es zu den Eigentümlichkeiten gerade der Irrationalität der Gesellschaft gehört, daß Prognosen zumal gesamtgesellschaftlicher Art, und zwar gerade wegen der systemfremden Faktoren, auf die die Arbeitsgruppe hingewiesen hat, nicht mehr möglich sind.
Was den Begriff der Anarchie anlangt, so glaube ich – es tut mir leid –, daß Herr Dahrendorf an dieser Stelle ein bißchen undialektisch gedacht hat. Natürlich ist das weiter kein Wunder, aber man darf es vielleicht doch sagen. Es sieht aus, als ob der Begriff der Anarchie bei Marx in einem durchaus kritischen Sinn verwandt wurde, das wissen wir alle. Aber dahinter steht die Vorstellung von der Anarchie der Warenproduktion, also von einem Zustand, in dem die Menschen den über sie ergehenden gesellschaftlichen Gesamtprozeß als ein für jeden Einzelnen Blindes und Zufälliges erfahren. Die Idee hinter der Kritik einer solchen Anarchie ist die einer Kritik an dem über die Menschen herrschenden System, keineswegs die an der Idee einer Freiheit von Herrschaft insgesamt. Solange man diesen Doppelcharakter der Kritik an der Anarchie, der Stellung zu ihr überhaupt, nicht einbegreift, sieht man den gesamten Komplex zu kurz. Marx hat während der Jahre seines Lebens, die er darauf verwandte, den Anarchismus zu kritisieren, nicht etwa einen herrschaftslosen Zustand hintertreiben wollen, sondern meinte, daß durch bestimmte kurzschlüssige Aktionen das, was ihm vorschwebte, hintertrieben werde.
Der zentrale Punkt ist die Frage nach der Herrschaft. Es will mir scheinen, als ob die Wiederaufnahme der Kategorie der Herrschaft, die ja bekanntlich in schroffem Gegensatz zu dem Anti-Dühring von Engels steht, auf die Dialektik der Aufklärung von Horkheimer und mir zurückgeht. Dabei hat schwerlich die Theorie bloß sich zurückgebildet, wie man es uns gelegentlich vorgeworfen hat. Vielmehr drückt darin sich etwas sehr Reales und Ernstes aus, das im übrigen ja in den bisherigen Beiträgen immer wieder zur Sprache gekommen ist; die Tendenz – ich spreche ausdrücklich von Tendenz –, daß die gegenwärtige Gesellschaft, wenn ihre politischen Formen sich unter Zwang radikal an die ökonomischen anschließen sollten, unmittelbar im prägnanten Sinn meta-ökonomischen, nämlich nicht mehr durch den klassischen Tauschmechanismus definierten Formen zusteuert. Daß derartige Tendenzen bestehen, darüber dürfte wenig Kontroverse unter uns herrschen. Dann gewinnt aber tatsächlich der Begriff der Herrschaft erneut eine gewisse Präponderanz gegenüber den rein ökonomischen Prozessen. Strukturell scheinen durch eine immanente sozial-ökonomische Bewegung Formen gezeitigt zu werden oder sich abzuzeichnen, die dann ihrerseits aus dem Determinationszusammenhang der reinen Ökonomie und der reinen immanenten gesellschaftlichen Dialektik heraustreten und bis zu einem gewissen Grad sich verselbständigen, und keineswegs zum Guten. Hegel hat das mit satanischer Unschuld prognostiziert an der Stelle der Rechtsphilosophie, wo er sagt, daß die bürgerliche Gesellschaft, damit sie nicht in Stücke bricht, damit sie einigermaßen intakt weiter funktioniert, aus sich heraus Kräfte evoziert, die sogenannten Korporationen und die Polizei, die ihrerseits nun wieder von dem rein gesellschaftlichen Kräftespiel ausgenommen sein sollen. Er hat das als ein Positives gesehen, während wir unterdessen durch den Faschismus – und ich glaube, was Faschismus ist, das wissen wir – aufs gründlichste darüber belehrt worden sind, was der erneute Übergang in unmittelbare Herrschaft bedeuten kann.
Weiter bin ich der Ansicht, daß die Streittheorie, wie sie von Simmel entwickelt worden ist, und wie ihr Herr Dahrendorf zumindest zeitweise angehängt hat, nicht hypostasiert werden kann, jedenfalls nicht der Streit an sich. In der gegenwärtigen Situation ist das, ich möchte sagen, durchsichtige Telos legitimen Streites die Herstellung des Friedens. Das elementare Bedürfnis der Menschen, das jedem anderen vorgängig ist – das kam sowohl in dem Referat der Gruppe wie ganz unabhängig davon gestern in meinem eigenen zum Ausdruck –, hat seinen Primat darum, weil man alle anderen Bedürfnisse überhaupt – verzeihen Sie bitte die schreckliche Banalität, Herr Dahrendorf – nur dann haben kann, wenn man lebt. Daß auf die gegenwärtige zerrissene, antagonistische Gesellschaft mit Mitteln des gesellschaftlichen Kampfes zu antworten ist, darf nicht dazu führen, daß man die Kategorie des Streites selber als eine Invariante der menschlichen Natur absolut setzt. Ich finde, das ist ein allzu kostspieliger anthropologischer Sport; real sind die Formen des Streites, die heute aktuell sind, die gleichen, die buchstäblich das Leben der Menschen auszulöschen drohen. Die Vorstellung, der Streit oder die Lebensnot seien produktiv, hat sicherlich einmal ihr Wahrheitsmoment gehabt. Angesichts der destruktiven Potentiale der gegenwärtigen Technik, andererseits auch der Absehbarkeit eines wirklich radikal friedlichen Zustands glaube ich nicht, daß jene Vorstellung von der beflügelten Kraft des Streites noch gilt. Sie stammt eben wirklich aus einer relativ harmlosen Konkurrenzphase, die ihre Harmlosigkeit verloren hat. Wir haben ja verschiedentlich gehört, daß die Struktur unserer Gesellschaft längst nicht mehr die einer eigentlichen Konkurrenzstruktur ist. Ich bekenne mich lieber zu der Kantischen Idee des ewigen Friedens als zum Idealismus von Fichte, bei dem die Dynamik Selbstzweck wird, wenn nur die freie Tathandlung der Menschen sich fessellos entfaltet. Antwortet man darauf mit der Sorge, ob denn nun wirklich eine friedliche Gesellschaft nicht einschlafen, nicht stagnieren würde und sonst was, dann würde ich zunächst einmal ganz einfach sagen, das sind curae posteriores. Die Möglichkeit, daß die Welt zu schön werde, ist für mich so arg schreckhaft nicht. Wenn im übrigen irgend etwas nach einem wieder aufgewärmten Liberalismus aus dem neunzehnten Jahrhundert klingt, dann ist es genau diese zarte Sorge.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch ein paar Worte sagen über die Kategorie der Utopie. Auch sie unterliegt einer historischen Dynamik. Ich sehe von der Marxschen Problematik des Kampfes gegen den anarchistischen Utopismus im Augenblick einmal ab. Aber die Produktivkräfte, die materiellen Produktivkräfte haben sich heute derart entwickelt, daß bei einer rationalen Einrichtung der Gesellschaft die materielle Not nicht mehr nötig wäre. Daß ein solcher Zustand, und zwar auf der ganzen Erde, in tellurischem Maßstab sich herstellen ließe, das wäre im neunzehnten Jahrhundert als kraß utopistisch verfemt worden; noch in dem Beispiel von dem Kaviar und den Heringen schwang etwas davon mit. Dadurch, daß die objektiven Möglichkeiten so unendlich erweitert sind, besitzt jedenfalls die Art Kritik am Utopiebegriff, die an der Perpetuierung des Mangels orientiert war, eigentlich keine Aktualität mehr.
Was nun die Herrschaft anlangt – wenn ich dazu noch eine Bemerkung machen darf –, so glaube ich, daß auch hier die Interpretation von Herrn Dahrendorf angesichts der heute bestehenden Potentialien allzu unschuldig war. Herrschaft hatte schon immer das Moment des Furchtbaren in sich. Muß man heute zu einer radikalen Kritik von Herrschaft schreiten, so ist der Grund davon nicht der Kindertraum eines seligen Zustands unter Palmen, sondern einfach der, daß die Herrschaft in sich selbst heute, um sich als Herrschaft zu erhalten, die Tendenz zur Totalität ausbrütet. Und was totalitäre Herrschaft bedeutet, das wissen wir. Das ist der Grund, warum wir mit dem Begriff der Herrschaft nicht so zimperlich umgehen, nicht auch an ihre guten Seiten denken sollten, die sie sicherlich zuzeiten gehabt hat. Gegenüber dem Potential des absoluten Grauens, dem wir nach meiner Überzeugung nach wie vor gegenüberstehen, können sie ernsthaft nicht ins Gewicht fallen.
Weiter etwas zu Totalität und Konkretion. Es sieht in der bisherigen Diskussion dieses Kongresses leicht so aus, als ob da auf der einen Seite eine Gruppe von besonnenen Wissenschaftlern stünde, die sich mit dem Konkreten beschäftigen, die nach der Formel songez au solide handeln, während auf der anderen Seite ausschweifende Denker, Windbeutel, nichts anderes im Kopf haben als die abstrakte Totalität. Ich hoffe, gerade ich muß nicht sagen, daß ich mir der Komplexität des Zusammenhangs von Totale und Einzelnem sehr bewußt bin. Auch der Primat der Totale darf nicht hypostasiert werden. Die Totale reproduziert sich selber immer wieder aus den Einzelheiten des gesellschaftlichen Lebens, letztlich den Individuen. Wenn wir auf die Totalität der Gesellschaft einen solchen Wert legen, dann geschieht das nicht deshalb, Herr Dahrendorf, weil wir uns an den großen Begriffen, an der Macht und Herrlichkeit der Totale berauschten, sondern im Gegenteil, weil wir in ihr das Verhängnis sehen, darin, wenn ich mich selber zitieren darf, »daß das Ganze das Unwahre ist«. Wird demgegenüber heute von Pluralismus geredet, dann ist zu argwöhnen, daß dieser Pluralismus unter der ansteigenden Herrschaft des Gesamtsystems zur Ideologie wurde. Es käme darauf an, die Vormacht der Totale zu brechen, anstatt so zu tun, als ob Pluralität bereits existent wäre. Es ist darauf hinzuarbeiten, daß so etwas wie Pluralität, eine Assoziation freier einzelner Menschen doch einmal möglich wird. Dabei ist allerdings die ganze Dialektik auch im Verhältnis von Individuum und Gesellschaft mitzudenken.
Zum Schluß möchte ich nur noch sagen, daß auch in der Konzeption von der Gesellschaftslehre, für die ich im Augenblick ohne alle Autorität spreche, der schwerste Nachdruck auf das Konkrete, Einzelne fällt, aber in einem anderen Sinn, nämlich dem, daß die Vormacht der Totale, die zwar abstrakt ist, aber dem allgemeinen Begriff in einem gewissen Sinn sich auch entzieht, nur in der Erfahrung des Einzelnen und in der Deutung dieser Erfahrung des Einzelnen getroffen werden kann. Abgesehen davon ist, wo es dem Denken überhaupt noch möglich ist, Einzelnes und Konkretes zu ergreifen. Darin gerade überwintert das Potential einer besseren Einrichtung der Gesellschaft, die eine wäre, in der das Viele ungefährdet und friedlich miteinander existieren könnte. Nicht etwa ist die Totalität das Interesse einer kritischen Theorie der Gesellschaft derart, daß sie jene herstellen möchte. Was mir zum Vortrag von Herrn Dahrendorf einfiel, ist rhapsodisch genug, und ich danke Ihnen, daß Sie mir so viel Aufmerksamkeit gewidmet haben.