Einleitung zum
»Positivismusstreit in der deutschen Soziologie«*1
Für Fred Pollock
zum fünfundsiebzigsten Geburtstag
in herzlicher Freundschaft
Sesam öffne dich – ich möchte hinaus!
Stanislaw Jerzy Lec
In seinen eindringlichen Anmerkungen zur Tübinger Diskussion der beiden Referate, mit denen in Deutschland die öffentliche Kontroverse über Dialektik und in weitestem Sinn1a positivistische Soziologie begann, beklagt Ralf Dahrendorf, es habe der Diskussion »durchgängig jene Intensität, die den tatsächlich vorhandenen Auffassungsunterschieden angemessen gewesen wäre«2, gefehlt. Einige der Diskussionsteilnehmer monierten ihm zufolge »die fehlende Spannung zwischen den beiden Hauptreferaten und -referenten«3. Demgegenüber spürt Dahrendorf »die Ironie solcher Übereinstimmungen«; verborgen hätten sich hinter Gemeinsamkeiten der Formulierung tiefe Differenzen in der Sache. Daß tatsächlich keine Diskussion zustande kam, in der Gründe und Gegengründe ineinandergriffen, lag nicht allein an der Konzilianz der Referenten: sie waren zunächst bestrebt, überhaupt die Positionen theoretisch kommensurabel zu machen. Verantwortlich aber ist auch nicht bloß die Attitüde mancher Diskussionsteilnehmer, die mit ihrer zuweilen erst erworbenen Philosophiefremdheit auftrumpften. Die Dialektiker rekurrieren ausdrücklich auf die Philosophie, aber die methodologischen Interessen der Positivisten sind dem naiv praktizierten research-Betrieb kaum weniger fremd. Als schuldig an einem wahrhaften Mangel jedoch, der der Diskussion im Wege stand, müßten beide Referenten sich bekennen: beiden gelang die volle Vermittlung zur Soziologie als solcher nicht. Vieles von dem, was sie sagten, bezog sich auf Wissenschaft überhaupt. Ein Maß an schlechter Abstraktheit ist aller Erkenntnistheorie gesetzt, auch der Kritik an ihr4. Wer bei der bloßen Unmittelbarkeit des wissenschaftlichen Verfahrens nicht sich bescheidet und aus dessen Necessitäten sich herausbegibt, verschafft mit dem freieren Blick sich auch illegitime Vorteile. Daß, wie man zuweilen hörte, die Tübinger Diskussion im Vorfeld verblieben sei und deswegen der Soziologie als bestimmter Wissenschaft nichts genutzt habe, zielt allerdings daneben. Argumente, die sich der analytischen Wissenschaftstheorie anvertrauen, ohne auf deren Axiomata einzugehen – und nur das kann mit »Vorfeld« gemeint sein –, geraten in die logische Höllenmaschine. Wie treu man auch dem Prinzip immanenter Kritik folgen mag, es ist nicht unreflektiert dort anzuwenden, wo logische Immanenz selber, unter Absehung von jeglichem besonderen Inhalt, zum alleinigen Maß erhoben wird. Zur immanenten Kritik der losgelassenen Logik rechnet die an ihrem Zwangscharakter hinzu. Ihn nimmt Denken durch gedankenlose Identifizierung mit formallogischen Prozessen an. Immanente Kritik hat ihre Grenze am fetischisierten Prinzip immanenter Logik: es selbst ist beim Namen zu nennen. Überdies ist die inhaltliche Relevanz der angeblichen Vorfelddiskussionen für die Soziologie keineswegs weit hergeholt. Ob man etwa zwischen Schein und Wesen unterscheiden darf, das tangiert unmittelbar, ob von Ideologie gesprochen werden kann, und damit bis in alle Verästelungen hinein ein zentrales soziologisches Lehrstück. Solche inhaltliche Relevanz dessen, was wie erkenntnistheoretische oder logische Präliminarien anmutet, erklärt sich dadurch, daß die einschlägigen Kontroversen ihrerseits latent inhaltlicher Art sind. Entweder ist Erkenntnis der Gesellschaft mit dieser verflochten, und Gesellschaft geht konkret in die Wissenschaft von ihr ein, oder diese ist einzig ein Produkt subjektiver Vernunft, jenseits aller Rückfrage nach ihren eigenen objektiven Vermittlungen.
Hinter der gerügten Abstraktheit indessen lauern weit ernstere Schwierigkeiten der Diskussion. Damit sie überhaupt möglich sei, muß sie nach der formalen Logik verfahren. Die These von deren Vorrang ist aber ihrerseits das Kernstück der positivistischen oder – um den vielleicht allzu belasteten Ausdruck auszutauschen durch einen, der allenfalls für Popper akzeptierbar wäre – szientistischen Auffassung von jeglicher Wissenschaft, Soziologie und Gesellschaftstheorie inbegriffen. Nicht auszuschalten ist unter den Gegenständen der Kontroverse, ob die unabdingbare Logizität des Verfahrens tatsächlich der Logik den absoluten Primat verschaffe. Gedanken indessen, welche die kritische Selbstreflexion des Primats der Logik in sachhaltigen Disziplinen fordern, geraten unvermeidlich in taktischen Nachteil. Sie müssen mit Mitteln, unter denen die logischen sich behaupten, über Logik nachdenken – ein Widerspruch jenes Typus, dessen bereits Wittgenstein, der reflektierteste Positivist, mit Schmerz innewurde. Würde eine Debatte wie die gegenwärtig unabweisbare weltanschaulich, von einander äußerlich entgegengesetzten Standpunkten aus geführt, so wäre sie a priori fruchtlos; begibt sie sich aber in die Argumentation, so droht ihr, daß die Spielregeln der einen Position stillschweigend anerkannt werden, die nicht zum letzten den Gegenstand der Diskussion abgeben.
Dahrendorf hat die Bemerkung des Korreferenten, es handle sich um keine Standpunktdifferenz, sondern um entscheidbare Gegensätze, mit der Frage beantwortet, »ob nicht das erstere richtig, das letztere aber falsch«5 sei. Wohl schlössen ihm zufolge die Positionen Diskussion und Argument nicht aus, die Unterschiede in der Art der Argumentation indessen seien so tiefgehend, »daß man bezweifeln muß, ob Popper und Adorno sich auch nur auf eine Prozedur zu einigen vermöchten, mit deren Hilfe sich ihre Unterschiede entscheiden ließen«6. Die Frage ist genuin: beantworten läßt sie sich nur im durchgeführten Versuch, eine solche Entscheidung herbeizuführen, nicht früher. Zum Versuch genötigt wird man, weil die friedliche Toleranz für zwei verschiedene nebeneinander koexistierende Typen Soziologie auf nichts Besseres hinausliefe als auf die Neutralisierung des emphatischen Anspruchs von Wahrheit. Die Aufgabe präsentiert sich paradox: die kontroversen Fragen ohne logizistisches Präjudiz, aber auch ohne Dogmatismus zu diskutieren. Die Anstrengung dazu, keine abgefeimten eristischen Künste meint Habermas mit den Formulierungen »unterwandern« oder »hinter dem Rücken«. Ein geistiger Ort wäre zu finden, wo man aufeinander eingehen kann, nicht jedoch einen in der Kontroverse selbst thematischen Regelkanon akzeptiert; ein Niemandsland des Gedankens. Jener Ort ist nicht, nach umfangslogischem Modell, als ein noch Allgemeineres denn die beiden kollidierenden Positionen vorzustellen. Seine Konkretion gewinnt er, weil auch Wissenschaft, die formale Logik inbegriffen, nicht nur gesellschaftliche Produktivkraft, sondern ebenso gesellschaftliches Produktionsverhältnis ist. Ob das Positivisten akzeptieren mögen, steht dahin; es rührt kritisch an die Grundthese von der absoluten Eigenständigkeit der Wissenschaft, von ihrem konstitutiven Charakter für jegliche Erkenntnis. Zu fragen wäre, ob eine bündige Disjunktion gilt zwischen der Erkenntnis und dem realen Lebensprozeß; ob nicht vielmehr die Erkenntnis zu jenem vermittelt sei, ja ob nicht ihre eigene Autonomie, durch welche sie gegenüber ihrer Genese sich produktiv verselbständigt und objektiviert hat, ihrerseits aus ihrer gesellschaftlichen Funktion sich herleite; ob sie nicht einen Immanenzzusammenhang bildet und gleichwohl ihrer Konstitution als solcher nach in einem sie umgreifenden Feld angesiedelt ist, das auch in ihr immanentes Gefüge hineinwirkt. Solche Doppelschlächtigkeit, wie plausibel auch immer, widerstritte dem Prinzip der Widerspruchslosigkeit: Wissenschaft wäre dann eigenständig, und wäre es doch nicht. Dialektik, die das verficht, darf dabei so wenig wie sonstwo als ›privilegiertes Denken‹ sich gebärden; nicht sich als ein subjektives Sondervermögen aufspielen, mit dem der eine begabt, das dem anderen verschlossen sei, oder gar als Intuitionismus sich gerieren. Umgekehrt müssen die Positivisten das Opfer bringen, aus der von Habermas so genannten Kannitverstan-Haltung sich herauszubegeben und nicht alles kurzerhand als unverständlich zu disqualifizieren, was mit Kategorien wie ihren »Sinnkriterien« nicht übereinstimmt. Man wird angesichts der sich ausbreitenden Feindschaft gegen die Philosophie den Verdacht nicht los, als wollten manche Soziologen krampfhaft die eigene Vergangenheit abschütteln; dafür pflegt diese sich zu rächen.
Prima vista stellt die Kontroverse so sich dar, als verträten die Positivisten einen strengen Begriff objektiv wissenschaftlicher Gültigkeit, den Philosophie aufweiche; die Dialektiker verführen, wie die philosophische Tradition nahelegt, spekulativ. Dabei freilich modifiziert der Sprachgebrauch den Begriff des Spekulativen bis in sein Gegenteil. Er wird nicht mehr wie bei Hegel, im Sinn kritischer Selbstreflexion des Verstandes, seiner Begrenztheit und ihrer Selbstkorrektur gedeutet, sondern unvermerkt nach dem populären Modell, das sich unter dem Spekulierenden einen unverbindlich, gerade ohne logische Selbstkritik und ohne Konfrontation mit den Sachen eitel Drauflosdenkenden vorstellt. Seit dem Zusammenbruch des Hegelschen Systems und vielleicht als dessen Folge hat die Idee der Spekulation sich dergestalt verkehrt, willfährig dem Faustischen Cliché vom Tier auf dürrer Heide. Was einmal den Gedanken bezeichnen sollte, der seiner eigenen Borniertheit sich entäußert und dadurch Objektivität gewinnt, wird subjektiver Willkür gleichgesetzt: der Willkür, weil es der Spekulation an allgemein gültigen Kontrollen gebräche; dem Subjektivismus, weil der Begriff der Tatsache von Spekulation durch Emphase auf Vermittlung aufgelöst werde, durch den ›Begriff‹, der als Rückfall in scholastischen Realismus erscheint und, nach positivistischem Ritus, als Veranstaltung des Denkenden, die vermessen mit einem Ansichseienden sich verwechsle. Demgegenüber hat mehr Kraft als das von Albert beargwöhnte tu-quoque-Argument die These, daß die positivistische Position, deren Pathos und deren Wirkung an ihrem Objektivitätsanspruch haften, ihrerseits subjektivistisch sei. Das antezipierte Hegels Kritik an dem, was er Reflexionsphilosophie nannte. Carnaps Triumph, von der Philosophie bleibe nichts übrig als Methode: die logischer Analyse, ist der Prototyp quasi-ontologischer Vorentscheidung für subjektive Vernunft7. Der Positivismus, dem Widersprüche anathema sind, hat seinen innersten und seiner selbst unbewußten daran, daß er der Gesinnung nach äußerster, von allen subjektiven Projektionen gereinigter Objektivität nachhängt, dabei jedoch nur desto mehr in der Partikularität bloß subjektiver, instrumenteller Vernunft sich verfängt. Die sich als Sieger über den Idealismus fühlen, sind diesem weit näher als die kritische Theorie: sie hypostasieren das erkennende Subjekt, nicht länger zwar als erzeugendes, absolutes, doch als den topos noetikos aller Geltung, der wissenschaftlichen Kontrolle. Während sie Philosophie liquidieren möchten, advozieren sie bloß eine, die sich, gestützt auf die Autorität von Wissenschaft, gegen sich selbst abdichtet. Bei Carnap, dem Endglied der Kette Hume-Mach-Schlick, liegt der Zusammenhang mit dem älteren subjektiven Positivismus noch zutage durch seine sensualistische Interpretation der Protokollsätze. Sie hat dann, weil auch jene Sätze der Wissenschaft nicht anders als sprachlich gegeben, nicht unmittelbar sinnlich gewiß sind, die Wittgensteinsche Problematik ausgelöst. Keineswegs indessen wird der latente Subjektivismus durch die Sprachtheorie des Tractatus durchbrochen. »Das Resultat der Philosophie«, heißt es darin, »sind nicht ›philosophische Sätze‹, sondern das Klarwerden von Sätzen. Die Philosophie soll die Gedanken, die sonst, gleichsam, trübe und verschwommen sind, klar machen und scharf abgrenzen.«8 Klarheit aber kommt einzig dem subjektiven Bewußtsein zu. Wittgenstein überspannt, im szientifischen Geist, den Anspruch von Objektivität derart, daß er zergeht und jener totalen Paradoxie von Philosophie weicht, die den Nimbus Wittgensteins bildet. Latenter Subjektivismus hat den Objektivismus der gesamten nominalistischen Aufklärungsbewegung kontrapunktiert, die permanente reductio ad hominem. Ihr braucht Denken nicht sich zu fügen. Es vermag den latenten Subjektivismus kritisch aufzudecken. Staunenswert, daß die Szientisten, Wittgenstein inbegriffen, an jenem so wenig sich gestört haben wie am permanenten Antagonismus des formallogischen und des empiristischen Flügels, der innerpositivistisch, verzerrt, einen höchst realen zutage fördert. Schon bei Hume stand die Doktrin von der schlechthinnigen Gültigkeit der Mathematik dem skeptischen Sensualismus heterogen gegenüber. Darin manifestiert sich, wie wenig dem Szientismus die Vermittlung von Faktizität und Begriff gelang; unverbunden werden beide zu einem logisch Unverträglichen. Nicht läßt sich sowohl der absolute Vorrang der Einzelgegebenheit vor den »Ideen« verfechten wie die absolute Eigenständigkeit eines rein idealen Bereichs, eben des mathematischen, festhalten. Solange, gleichviel wie variiert, das Berkeleysche esse est percipi konserviert wird, ist uneinsichtig, woher der Geltungsanspruch der formalen Disziplinen rührt, der in keinem Sinnlichen sein Fundament hat. Umgekehrt postulieren alle verbindenden Denkoperationen des Empirismus, für den ja Verbundenheit der Sätze ein Wahrheitskriterium ist, die formale Logik. Diese simple Überlegung müßte hinreichen, den Szientismus zur Dialektik zu bewegen. Die schlecht abstrakte Polarität des Formalen und Empirischen aber setzt sich höchst fühlbar fort in die Gesellschaftswissenschaften hinein. Formalsoziologie ist das äußerliche Komplement der, nach dem Terminus von Habermas, restringierten Erfahrung. Nicht sind die Thesen des soziologischen Formalismus, etwa die Simmelschen, an sich falsch; wohl aber die Denkakte, die sie von der Empirie losreißen, hypostasieren und dann nachträglich, illustrativ auffüllen, Lieblingsentdeckungen der Formalsoziologie wie die Bürokratisierung proletarischer Parteien haben ihr fundamentum in re, entspringen aber nicht invariant aus dem Oberbegriff »Organisation überhaupt« sondern aus gesellschaftlichen Bedingungen wie dem Zwang, innerhalb eines übermächtigen Systems sich zu behaupten, dessen Gewalt vermöge der Verbreitung seiner eigenen Organisationsformen über das Ganze sich realisiert. Jener Zwang teilt sich den Opponenten mit, nicht bloß durch soziale Ansteckung, sondern auch quasi rational: damit die Organisation die Interessen ihrer Angehörigen momentan wirksam zu vertreten vermag. Nichts hat innerhalb der verdinglichten Gesellschaft eine Chance, zu überleben, was nicht seinerseits verdinglicht wäre. Die konkret historische Allgemeinheit des Monopolkapitalismus verlängert sich ins Monopol der Arbeit samt all seinen Implikationen. Eine relevante Aufgabe der empirischen Soziologie wäre es, die Zwischenglieder zu analysieren, im einzelnen darzutun, wie die Anpassung an die veränderten kapitalistischen Produktionsverhältnisse diejenigen ergreift, deren objektive Interessen à la longue jener Anpassung widerstreiten.
Mit Grund darf die vorherrschende positivistische Soziologie subjektiv heißen im selben Sinn wie die subjektive Ökonomie; in einem von deren Hauptrepräsentanten, Vilfredo Pareto, hat der gegenwärtige soziologische Positivismus eine seiner Wurzeln. ›Subjektiv‹ hat dabei doppelte Bedeutung. Einmal operiert die herrschende Soziologie, wie Habermas es ausdrückt, mit Rastern, aufs Material aufgelegten Schemata. Während in diesen fraglos das Material ebenfalls zur Geltung kommt, je nachdem, in welche Sparte es eingefügt werden muß, macht es eine zentrale Differenz aus, ob Material, Phänomene gemäß einer ihnen an sich vorgeordneten, nicht erst von der Wissenschaft klassifikatorisch hergestellten Struktur interpretiert werden oder nicht. Wie wenig gleichgültig die Wahl der vermeintlichen Koordinatensysteme ist, läßt an der Alternative sich exemplifizieren, gewisse soziale Phänomene unter Begriffe wie Prestige und Status zu bringen, oder sie aus objektiven Herrschaftsverhältnissen abzuleiten. Der letzteren Auffassung zufolge unterliegen Status und Prestige der Dynamik des Klassenverhältnisses und können prinzipiell als abschaffbar vorgestellt werden; ihre klassifikatorische Subsumtion dagegen nimmt tendenziell jene Kategorien als schlechthin Gegebenes und virtuell Unveränderliches hin. So inhaltlich konsequenzreich ist eine scheinbar bloß die Methodologie betreffende Unterscheidung. In Konkordanz damit ist der Subjektivismus der positivistischen Soziologie in seiner zweiten Bedeutung. Zumindest in einem sehr erheblichen Sektor ihrer Tätigkeit geht sie von Meinungen, Verhaltensweisen, vom Selbstverständnis der einzelnen Subjekte und der Gesellschaft aus anstatt von dieser. Gesellschaft ist einer solchen Konzeption weithin das statistisch zu ermittelnde, durchschnittliche Bewußtsein oder Unbewußtsein vergesellschafteter und gesellschaftlich handelnder Subjekte, nicht das Medium, in dem sie sich bewegen. Die Objektivität der Struktur, für die Positivisten ein mythologisches Relikt, ist, der dialektischen Theorie zufolge, das Apriori der erkennenden subjektiven Vernunft. Würde sie dessen inne, so hätte sie die Struktur in ihrer eigenen Gesetzlichkeit zu bestimmen, nicht von sich aus nach den Verfahrensregeln begrifflicher Ordnung aufzubereiten. Bedingung und Gehalt der an Einzelsubjekten zu erhebenden sozialen Tatsachen werden von jener Struktur beigestellt. Gleichgültig, wie weit die dialektische Konzeption von der Gesellschaft ihren Objektivitätsanspruch eingelöst hat, und ob ihr das überhaupt noch möglich ist – sie nimmt ihn schwerer als ihre Opponenten, welche die scheinbare Sekurität ihrer objektiv gültigen Befunde damit erkaufen, daß sie von Anbeginn auf die nachdrückliche Idee von Objektivität verzichten, die einmal vom Begriff des An sich gemeint war. Die Positivisten präjudizieren die Debatte insoweit, wie sie durchblicken lassen, sie verträten einen neuen, fortgeschrittenen Denktyp, dessen Auffassungen sich zwar, wie Albert es nennt, nicht heute schon überall durchgesetzt hätten, demgegenüber aber die Dialektik Archaismus sei. Diese Ansicht vom Fortschritt läßt den Preis außer acht, der ihn sabotiert. Geist soll dadurch fortschreiten, daß er als Geist zugunsten der Fakten sich fesselt, wahrhaft ein logischer Widerspruch. »Warum«, fragt Albert, »sollten neue Ideen nicht ebenfalls eine Chance bekommen sich zu bewähren?«9 Gemeint wird mit den neuen Ideen eine Gesinnung, die im allgemeinen keineswegs ideenfreundlich ist. Ihr Anspruch auf Modernität kann kein anderer sein als der fortgeschrittener Aufklärung. Er jedoch bedarf der kritischen Selbstreflexion subjektiver Vernunft. Deren Fortschritt, bis ins Innerste zusammengewachsen mit der Dialektik von Aufklärung, ist nicht umstandslos als höhere Objektivität zu supponieren. Das ist der Brennpunkt der Kontroverse.
Daß Dialektik keine von ihrem Gegenstand unabhängige Methode ist, verhindert ihre Darstellung als ein Für sich, wie das deduktive System sie gestattet. Dem Kriterium der Definition willfahrt sie nicht, sie kritisiert es. Schwerer wiegt, daß sie nach dem unwiderruflichen Zusammenbruch des Hegelschen Systems auch das einstige und tief fragwürdige Bewußtsein philosophischer Sicherheit eingebüßt hat. Was ihr die Positivisten vorrechnen, der Mangel eines Fundaments, auf dem alles Weitere sich aufbaue, wird gegen sie auch von der herrschenden Philosophie ausgespielt: es gebreche ihr an der arxh. In ihrer idealistischen Version vermaß sie sich, das Seiende, durch ungezählte Vermittlungen hindurch, ja kraft seiner eigenen Nichtidentität mit dem Geist, als ohne Rest mit diesem identisch darzutun. Das mißlang, und deswegen steht Dialektik in ihrer aktuellen Gestalt nicht minder polemisch zum »Mythos der totalen Vernunft« als Alberts Szientismus. Sie darf nicht ihren Wahrheitsanspruch als garantiert sich zuschreiben wie in idealistischen Zeiten. Als umfassendes Erklärungsprinzip verstand die dialektische Bewegung bei Hegel sich umstandslos als ›Wissenschaft‹. Denn in ihren ersten Schritten oder Setzungen war stets schon die Identitätsthese mit enthalten, die im Fortgang der Analysen nicht sowohl erhärtet als expliziert wurde; Hegel hat sie mit dem Gleichnis des Kreises beschrieben. Derlei Geschlossenheit, die dafür sorgte, daß nichts als wesentlich unerkannt und zufällig aus der Dialektik draußenblieb, ist ihr samt Zwang und Eindeutigkeit zersprungen; sie besitzt keinen Kanon, der sie regulierte. Ihre raison d'être hat sie dennoch. Gesellschaftlich ist die Idee eines objektiven, ansichseienden Systems nicht so schimärisch, wie es nach dem Sturz des Idealismus dünkte und wie der Positivismus es beteuert. Der Begriff großer Philosophie, den jener für überholt erachtet10, verdankt sich keinen vorgeblich ästhetischen Qualitäten von Denkleistungen, sondern einem Erfahrungsgehalt, der eben um seiner Transzendenz zum einzelmenschlichen Bewußtsein willen zu seiner Hypostasis als Absolutes verlockte. Zu legitimieren vermag sich Dialektik durch Rückübersetzung jenes Gehalts in die Erfahrung, aus der er entsprang. Das ist aber die von der Vermitteltheit alles Einzelnen durch die objektive gesellschaftliche Totalität. Sie war in der traditionellen Dialektik auf den Kopf gestellt mit der These, die vorgängige Objektivität, das Objekt selbst, als Totalität verstanden, sei Subjekt. Albert hat beanstandet, der Tübinger Korreferent lasse es bei bloßen Andeutungen über Totalität sein Bewenden haben11. Nun ist es fast tautologisch, daß auf den Begriff der Totalität nicht in gleicher Weise mit dem Finger zu deuten ist wie auf jene facts, von denen er als Begriff sich abhebt. »Zur ersten, noch allzu abstrakten Annäherung sei an die Abhängigkeit aller Einzelnen von der Totalität erinnert, die sie bilden. In dieser sind auch alle von allen abhängig. Das Ganze erhält sich nur vermöge der Einheit der von seinen Mitgliedern erfüllten Funktionen. Generell muß jeder Einzelne, um sein Leben zu fristen, eine Funktion auf sich nehmen und wird gelehrt, zu danken, so lange er eine hat.«12
Habermas wird von Albert einer totalen Vernunftidee geziehen, mit allen Sünden der Identitätsphilosophie. Objektiv gewandt: Dialektik gehe, hegelianisch obsolet, mit einer Vorstellung vom gesellschaftlichen Ganzen um, die von der Forschung nicht einzuholen sei und auf den Schutthaufen gehöre. Die Faszination, welche Mertons Theory of the Middle Range ausübt, ist nicht zuletzt aus der Skepsis gegen die Totalitätskategorie zu erklären, während die Gegenstände solcher Theoreme gewaltsam aus übergreifenden Zusammenhängen herausgebrochen sind. Nach dem einfachsten common sense treibt Empirie zur Totalität. Studiert man etwa sozialen Konflikt an einem Fall wie den Berliner Ausschreitungen gegen Studenten 1967, so reicht der Anlaß der Einzelsituation zur Erklärung nicht aus. Eine These wie die, daß die Bevölkerung eben spontan reagierte gegen eine Gruppe, welche ihr die Interessen der unter prekären Bedingungen gehaltenen Stadt zu gefährden scheine, wäre unzulänglich nicht nur wegen der Fragwürdigkeit der von ihr unterstellten politisch-ideologischen Zusammenhänge. Sie macht keineswegs die unmittelbar in physischer Gewalt ausbrechende Wut gegen eine spezifische, sichtbare und nach populärem Vorurteil leicht zu identifizierende Minderheit plausibel. Die verbreitetesten, wirksamsten Stereotypen, welche gegen die Studenten im Schwang sind: daß sie demonstrierten, anstatt zu arbeiten – eine flagrante Unwahrheit –, daß sie die Gelder der Steuerzahler vergeudeten, die ihr Studium bezahlen, und Ähnliches, haben offensichtlich mit der akuten Situation nichts zu tun. Wie sehr solche Parolen denen der Jingopresse gleichen, liegt auf der Hand; doch fände jene Presse kaum ihre Resonanz, knüpfte sie nicht an Dispositionen der Meinung und der Triebrichtung zahlreicher Individuen an, die sie bestätigt und verstärkt. Anti-Intellektualismus, die Bereitschaft, Unzufriedenheit mit fragwürdigen Zuständen auf die zu projizieren, welche die Fragwürdigkeit aussprechen, gehen in die Reaktionen auf die unmittelbaren Anlässe ein; diese fungieren als Vorwand, als Rationalisierung. Wäre selbst die Situation von Berlin ein Faktor, welcher das massenpsychologische Potential zu entbinden beiträgt, so wäre sie wiederum anders als aus den übergreifenden Zusammenhängen der internationalen Politik nicht zu verstehen. Aus der sogenannten Berliner Situation abzuleiten, was von Machtkämpfen herrührt, die im Berliner Konflikt sich aktualisieren, ist borniert. Verlängert, führen die Linien auf das soziale Geflecht. Zwar ist es, um der unendlichen Vielzahl seiner Momente willen, kaum nach szientifischen Vorschriften in den Griff zu bekommen. Eliminiert man es jedoch aus der Wissenschaft, so werden die Phänomene falschen Ursachen zugerechnet; regelmäßig profitiert davon die vorwaltende Ideologie. Daß Gesellschaft nicht als Faktum sich festnageln läßt, nennt eigentlich nur den Tatbestand der Vermittlung: daß die Fakten nicht jenes Letzte und Undurchdringliche sind, als welches die vorherrschende Soziologie nach dem Muster der sinnlichen Daten der älteren Erkenntnistheorie sie betrachtet. In ihnen erscheint etwas, was sie nicht selbst sind13. Nicht die geringfügigste der Differenzen von positivistischer und dialektischer Konzeption ist, daß der Positivismus nach der Schlickschen Maxime nur Erscheinung gelten lassen möchte, während Dialektik den Unterschied von Wesen und Erscheinung nicht sich ausreden läßt. Es ist seinerseits gesellschaftliches Gesetz, daß entscheidende Strukturen des sozialen Prozesses wie die der Ungleichheit der vermeintlichen Äquivalente, die getauscht werden, ohne Eingriff der Theorie nicht offenbar werden können. Dem Verdacht dessen, was Nietzsche hinterweltlerisch nannte, begegnet dialektisches Denken damit, daß das verborgene Wesen das Unwesen sei. Unversöhnlich mit der philosophischen Tradition, bejaht es dies Unwesen nicht seiner Gewalt wegen, sondern kritisiert es an seinem Widerspruch zum »Erscheinenden«, schließlich zum realen Leben der einzelnen Menschen. Festzuhalten ist der Hegelsche Satz, das Wesen müsse erscheinen; damit gerät es in jenen Widerspruch zur Erscheinung. Totalität ist keine affirmative, vielmehr eine kritische Kategorie. Dialektische Kritik möchte retten oder herstellen helfen, was der Totalität nicht gehorcht, was ihr widersteht oder was, als Potential einer noch nicht seienden Individuation, erst sich bildet. Die Interpretation der Fakten geleitet zur Totalität, ohne daß diese selbst Faktum wäre. Nichts sozial Faktisches, das nicht seinen Stellenwert in jener Totalität hätte. Sie ist allen einzelnen Subjekten vorgeordnet, weil diese auch in sich selbst ihrer contrainte gehorchen und noch in ihrer monadologischen Konstitution, und durch diese erst recht, die Totalität vorstellen. Insofern ist sie das Allerwirklichste. Weil sie aber der Inbegriff des gesellschaftlichen Verhältnisses der Individuen untereinander ist, das gegen die Einzelnen sich abblendet, ist sie zugleich auch Schein, Ideologie. Eine befreite Menschheit wäre länger nicht Totalität; ihr Ansichsein ist ebenso deren Unfreiheit, wie es sie über sich selbst als das wahre gesellschaftliche Substrat täuscht. Damit ist zwar nicht das Desiderat einer logischen Analyse des Begriffs der Totalität 14, als eines Widerspruchslosen, erfüllt, das Albert gegen Habermas anmeldet, denn die Analyse terminiert im objektiven Widerspruch der Totalität. Aber die Analyse dürfte den Rekurs auf Totalität dem Vorwurf dezisionistischer Willkür entziehen15. Habermas so wenig wie ein anderer Dialektiker bestreitet die Möglichkeit einer Explikation von Totalität, nur seine Verifizierbarkeit nach dem Faktenkriterium, das durch die Bewegung zur Totalitätskategorie transzendiert wird. Gleichwohl ist sie nicht xoris von den Fakten sondern als deren Vermittlung ihnen immanent. Totalität ist, provokatorisch formuliert, die Gesellschaft als Ding in sich, mit aller Schuld von Verdinglichung. Gerade aber weil dies Ding an sich noch nicht gesellschaftliches Gesamtsubjekt, noch nicht Freiheit ist, sondern heteronom Natur fortsetzt, eignet ihm objektiv ein Moment von Unauflöslichkeit, wie es Durkheim, einseitig genug, zum Wesen des Sozialen schlechthin erklärte. Insofern ist sie auch »faktisch«. Der Begriff von Faktizität, den die positivistische Anschauung als ihr letztes Substrat hütet, ist Funktion der gleichen Gesellschaft, von welcher die szientistische Soziologie, insistierend auf dem undurchsichtigen Substrat, zu schweigen gelobt. Die absolute Trennung von Faktum und Gesellschaft ist ein Kunstprodukt der Reflexion, durch zweite Reflexion abzuleiten und zu widerrufen.
Eine Fußnote Alberts lautet: »Habermas zitiert in diesem Zusammenhang den Hinweis Adornos auf die Unprüfbarkeit der Abhängigkeit jedes sozialen Phänomens ›von der Totalität‹. Das Zitat entstammt einem Kontext, in dem Adorno unter Bezugnahme auf Hegel behauptet, Widerlegung sei nur als immanente Kritik fruchtbar; siehe dazu Adorno, Zur Logik der Sozialwissenschaften, a.a.O., S. 133f. Dabei wird der Sinn der Popperschen Ausführungen zum Problem der kritischen Prüfung durch ›Weiterreflektieren‹ ungefähr in sein Gegenteil verkehrt. Mir scheint, die Unprüfbarkeit des erwähnten Adornoschen Gedankens hängt zunächst wesentlich damit zusammen, daß weder der verwendete Begriff der Totalität noch die Art der behaupteten Abhängigkeit auch nur einer bescheidenen Klärung zugeführt wird. Es steckt wohl nicht viel mehr dahinter als die Idee, daß irgendwie alles mit allem zusammenhänge. Inwiefern aus einer solchen Idee irgendeine Auffassung einen methodischen Vorteil gewinnen könnte, müßte eigentlich nachgewiesen werden. Verbale Beschwörungen der Totalität dürften da kaum genügen.«16 Die »Unprüfbarkeit« besteht jedoch nicht darin, daß für den Rekurs auf die Totalität kein triftiger Grund zu nennen wäre, sondern darin, daß Totalität nicht faktisch ist wie die sozialen Einzelphänomene, auf welche das Albertsche Kriterium der Überprüfbarkeit limitiert ist. Auf den Einwand, es stecke hinter dem Begriff der Totalität nicht mehr als die Trivialität, daß alles mit allem zusammenhängt, ist zu erwidern, es sei die schlechte Abstraktheit jenes Satzes »nicht sowohl dünnes Denkprodukt als schlechter Grundbestand der Gesellschaft: der des Tausches. In dessen universalem Vollzug, nicht erst in der wissenschaftlichen Rechenschaft darüber, wird objektiv abstrahiert; wird abgesehen von der qualitativen Beschaffenheit der Produzierenden und Konsumierenden, vom Modus der Produktion, sogar vom Bedürfnis, das der gesellschaftliche Mechanismus beider, als Sekundäres befriedigt. Noch die in Kundenschaft verkehrte Menschheit, das Subjekt der Bedürfnisse, ist über alle naive Vorstellung hinaus gesellschaftlich präformiert, nicht erst vom technischen Stand der Produktivkräfte, sondern ebenso von den wirtschaftlichen Verhältnissen, in denen jene funktionieren. Die Abstraktheit des Tauschwertes ist a priori mit der Herrschaft des Allgemeinen über das Besondere, der Gesellschaft über ihre Zwangsmitglieder verbündet. Sie ist nicht, wie die Logizität des Reduktionsvorgangs auf Einheiten wie die gesellschaftlich durchschnittliche Arbeitszeit vorspiegelt, gesellschaftlich neutral. Durch die Reduktion der Menschen auf Agenten und Träger des Warentauschs hindurch realisiert sich die Herrschaft von Menschen über Menschen. Der totale Zusammenhang hat die konkrete Gestalt, daß alle dem abstrakten Tauschgesetz sich unterwerfen müssen, wenn sie nicht zugrunde gehen wollen, gleichgültig, ob sie subjektiv von einem ›Profitmotiv‹ geleitet werden oder nicht.«17 Die Differenz der dialektischen Ansicht von der Totalität und der positivistischen spitzt sich darauf zu, daß der dialektische Totalitätsbegriff ›objektiv‹, nämlich zum Verständnis jeglicher sozialen Einzelfeststellung intendiert ist, während die positivistischen Systemtheorien lediglich durch Wahl möglichst allgemeiner Kategorien Feststellungen widerspruchslos in einem logischen Kontinuum zusammenfassen möchten, ohne die obersten Strukturbegriffe als Bedingung der Sachverhalte zu erkennen, die unter ihnen subsumiert werden. Schwärzt der Positivismus diesen Totalitätsbegriff als mythologischen, vorwissenschaftlichen Rückstand an, so mythologisiert er im unverdrossenen Kampf gegen Mythologie die Wissenschaft. Ihr instrumenteller Charakter, will sagen, ihre Orientierung am Primat verfügbarer Methoden anstatt an der Sache und ihrem Interesse, inhibiert Einsichten, die ebenso das wissenschaftliche Verfahren treffen wie dessen Gegenstand. Kern der Kritik am Positivismus ist, daß er der Erfahrung der blind herrschenden Totalität ebenso wie der treibenden Sehnsucht, daß es endlich anders werde, sich sperrt und vorliebnimmt mit den sinnverlassenen Trümmern, die nach der Liquidation des Idealismus übrig sind, ohne Liquidation und Liquidiertes ihrerseits zu deuten und auf ihre Wahrheit zu bringen. Statt dessen hat er es mit Disparatem zu tun, dem subjektivistisch interpretierten Datum und, komplementär, den reinen Denkformen des Subjekts. Diese auseinandergebrochenen Momente von Erkenntnis bringt der gegenwärtige Szientivismus so äußerlich zusammen wie einst die Reflexionsphilosophie, die eben darum ihre Kritik durch die spekulative Dialektik verdiente. Dialektik enthält auch das Gegenteil idealistischer Hybris. Sie beseitigt den Schein einer irgend naturhaft-transzendentalen Dignität des Einzelsubjekts und wird seiner und seiner Denkformen als eines an sich Gesellschaftlichen inne: insofern ist sie ›realistischer‹ als der Szientivismus samt seinen ›Sinnkriterien‹.
Weil aber Gesellschaft aus Subjekten sich zusammensetzt und durch ihren Funktionszusammenhang sich konstituiert, ist ihre Erkenntnis durch lebendige, unreduzierte Subjekte der »Sache selbst« weit kommensurabler als in den Naturwissenschaften, welche von der Fremdheit eines nicht seinerseits menschlichen Objekts dazu genötigt werden, Objektivität ganz und gar in den kategorialen Mechanismus, in abstrakte Subjektivität hineinzuverlegen. Freyer hat darauf aufmerksam gemacht; die südwestdeutsche Unterscheidung des Nomothetischen und Idiographischen darf dabei um so eher außer Betracht bleiben, als eine unverkürzte Theorie der Gesellschaft auf Gesetze, die ihrer strukturellen Bewegung, nicht verzichten kann. Kommensurabilität des Objekts Gesellschaft ans erkennende Subjekt existiert sowohl, wie sie nicht existiert; auch das ist schwer mit der diskursiven Logik zu vereinbaren. Gesellschaft ist verstehbar und unverstehbar in eins. Verstehbar insofern, als der in ihr objektiv maßgebende Sachverhalt des Tauschs selbst Abstraktion, seiner Objektivität nach einen subjektiven Akt impliziert: in ihm erkennt das Subjekt wahrhaft sich selbst wieder. Das erklärt wissenschaftstheoretisch, weshalb die Webersche Soziologie im Begriff der Rationalität zentriert ist. In ihr tastete er, gleichgültig ob mit Bewußtsein oder nicht, nach jenem Gleichen zwischen Subjekt und Objekt, das etwas wie Erkenntnis der Sache anstatt ihrer Zersplitterung in Gegebenheiten und deren Aufbereitung gestattete. Aber die objektive Rationalität der Gesellschaft, die des Tauschs, entfernt sich durch ihre Dynamik immer weiter von dem Modell der logischen Vernunft. Darum ist Gesellschaft, das Verselbständigte, wiederum auch nicht länger verstehbar; einzig das Gesetz von Verselbständigung. Unverstehbarkeit bezeichnet nicht nur ein Wesentliches ihrer Struktur sondern ebenso die Ideologie, durch welche sie gegen die Kritik ihrer Irrationalität sich panzert. Weil Rationalität, Geist, von den lebendigen Subjekten als Teilmoment sich abgespalten hat, zur Rationalisierung sich beschied, bewegt sie sich fort in der Richtung auf ein den Subjekten Entgegengesetztes. Der Aspekt von Objektivität als Unveränderlichkeit, den sie dadurch annimmt, spiegelt sich dann wiederum zurück in der Verdinglichung des erkennenden Bewußtseins. Der Widerspruch im Begriff der Gesellschaft als einer verständlichen und unverständlichen ist der Motor rationaler Kritik, die auf Gesellschaft und ihre Art Rationalität, die partikulare, übergreift. Sucht Popper das Wesen von Kritik darin, daß fortschreitende Erkenntnis ihre logischen Widersprüche beseitigt, so wird sein eigenes Ideal zur Kritik an der Sache, wofern der Widerspruch seinen erkennbaren Ort in ihr hat, nicht bloß in der Erkenntnis von ihr. Bewußtsein, das sich nicht vor der antagonistischen Beschaffenheit der Gesellschaft, auch nicht vorm ihr immanenten Widerspruch von Rationalität und Irrationalität Scheuklappen vorbindet, muß zur Kritik an der Gesellschaft schreiten ohne metabasis eis allo genos, ohne andere Mittel als vernünftige.
Habermas hat, in seiner Abhandlung über analytische Wissenschaftstheorie, den Übergang zur Dialektik als notwendig begründet mit Hinblick auf spezifisch sozialwissenschaftliche Erkenntnis18. Nicht nur ist seiner Argumentation zufolge, wie der Positivismus zugestände, das Objekt der Erkenntnis durch das Subjekt vermittelt, sondern ebenso umgekehrt: das Subjekt seinerseits fällt als Moment in die von ihm zu erkennende Objektivität, den gesellschaftlichen Prozeß. In diesem ist Erkenntnis, mit steigender Verwissenschaftlichung in steigendem Maß, Produktivkraft. Dialektik möchte dem Szientismus auf dessen eigenem Feld begegnen insoweit, wie sie die gegenwärtige gesellschaftliche Realität richtiger erkennen will. Sie möchte den Vorhang vor dieser durchdringen helfen, an dem Wissenschaft mitwebt. Deren harmonistische Tendenz, welche die Antagonismen der Wirklichkeit durch ihre methodische Aufbereitung verschwinden läßt, liegt in der klassifikatorischen Methode, ohne alle Absicht derjenigen, die ihrer sich bedienen. Sie bringt wesentlich Ungleichnamiges, einander Widerstreitendes, durch die Wahl der Begriffsapparatur und im Dienst von deren Einstimmigkeit, auf den gleichen Begriff. Aus jüngerer Zeit ist ein Beispiel für diese Tendenz der allbekannte Versuch von Talcott Parsons, eine Einheitswissenschaft vom Menschen zu stiften, deren Kategoriensystem Individuum und Gesellschaft, Psychologie und Soziologie gleichermaßen unter sich befaßt oder wenigstens auf einem Kontinuum anträgt19. Das seit Descartes und zumal Leibniz gängige Kontinuitätsideal ist nicht allein durch die jüngste naturwissenschaftliche Entwicklung dubios geworden. Gesellschaftlich täuscht es über die Kluft zwischen Allgemeinem und Besonderem, in welcher der fortwährende Antagonismus sich ausdrückt; die Einheit der Wissenschaft verdrängt die Widersprüchlichkeit ihres Objekts. Für die offenbar ansteckende Befriedigung, die gleichwohl von der Einheitswissenschaft ausgeht, ist zu zahlen: das gesellschaftlich gesetzte Moment der Divergenz von Individuum und Gesellschaft, und der den beiden gewidmeten Disziplinen, entgleitet ihr. Das pedantisch organisierte Totalschema, das vom Individuum und von seinen Gesetzmäßigkeiten zu komplexen sozialen Gebilden reicht, hat für alles Raum, nur dafür nicht, daß Individuum und Gesellschaft, obwohl kein radikal Verschiedenes, geschichtlich auseinander getreten sind. Ihr Verhältnis ist widerspruchsvoll, weil die Gesellschaft den Individuen weithin verweigert, was sie, stets Gesellschaft von Individuen, ihnen verheißt und warum sie überhaupt sich zusammenfügt, während wiederum die blinden und losgelassenen Interessen der einzelnen Individuen die Bildung eines möglichen gesellschaftlichen Gesamtinteresses inhibieren. Dem einheitswissenschaftlichen Ideal gebührt ein Titel, der ihm am letzten behagte, der des Ästhetischen, so, wie man in der Mathematik von elegant redet. Die organisatorische Rationalisierung, auf welche das Programm der Einheitswissenschaft gegenüber den disparaten Einzelwissenschaften hinausläuft, präjudiziert aufs äußerste die wissenschaftstheoretischen Fragen, welche die Gesellschaft aufwirft. Wird, nach Wellmers Worten, »sinnvoll zu einem Synonym für wissenschaftlich«, so usurpiert Wissenschaft, ein gesellschaftlich Vermitteltes, Gesteuertes und Kontrolliertes, das der bestehenden Gesellschaft und ihrer Tradition den kalkulablen Tribut zollt, die Rolle des arbiter veri et falsi. In Kantischen Zeiten hieß die erkenntnistheoretische Konstitutionsfrage die nach der Möglichkeit von Wissenschaft. Nun wird sie an die Wissenschaft in einfacher Tautologie zurückverwiesen. Einsichten und Verfahrungsarten, welche, anstatt innerhalb der geltenden Wissenschaft sich zu halten, diese selbst kritisch betreffen, werden a limine verscheucht. So hat der scheinbar neutrale Begriff »konventionalistische Bindung« fatale Implikationen. Durch die Hintertür der Konventionstheorie wird gesellschaftlicher Konformismus als Sinnkriterium der Sozialwissenschaften eingeschmuggelt; es lohnte die Mühe, die Verfilzung von Konformismus und Selbstinthronisierung der Wissenschaft im einzelnen zu analysieren. Auf den gesamten Komplex hat Horkheimer vor mehr als dreißig Jahren in dem Aufsatz »Der neueste Angriff auf die Metaphysik«20 hingewiesen. Der Begriff von Wissenschaft wird auch von Popper, um seiner Gegebenheit willen, supponiert, als wäre er selbstverständlich. Er hat indessen seine historische Dialektik in sich. Als um die Wende des achtzehnten Jahrhunderts zum neunzehnten die Fichtesche Wissenschaftslehre und die Hegelsche Wissenschaft der Logik geschrieben wurden, hätte man, was gegenwärtig mit Exklusivitätsanspruch den Wissenschaftsbegriff okkupiert, kritisch auf der Stufe des Vorwissenschaftlichen angesiedelt, während nunmehr, was damals Wissenschaft, das wie immer auch schimärische absolutes Wissen genannt ward, von dem von Popper so genannten Szientismus als außerwissenschaftlich verworfen würde. Der Gang der Geschichte, und nicht bloß der geistigen, der es dahin brachte, ist keineswegs, wie die Positivisten es möchten, eitel Fortschritt. Alles mathematische Raffinement der vorangetriebenen wissenschaftlichen Methodik zerstreut nicht den Verdacht, daß die Zurüstung von Wissenschaft zu einer Technik neben den anderen ihren eigenen Begriff unterhöhle. Das stärkste Argument dafür wäre, daß, was der szientivistischen Interpretation als Ziel erscheint, das fact finding, für emphatische Wissenschaft nur Mittel der Theorie ist; ohne sie unterbleibt, warum das Ganze veranstaltet wird. Allerdings beginnt die Umfunktionierung der Wissenschaftsidee schon bei den Idealisten, zumal bei Hegel, dessen absolutes Wissen mit dem entfalteten Begriff des so und nicht anders Seienden koinzidiert. Angriffspunkt der Kritik jener Entwicklung ist nicht die Auskristallisierung spezialwissenschaftlicher Methoden, deren Fruchtbarkeit außer Frage steht, sondern die vorwaltende, von Max Webers Autorität schroff urgierte Vorstellung, außerwissenschaftliche Interessen seien der Wissenschaft äußerlich, beides sei mit der Sonde zu scheiden. Während auf der einen Seite die vorgeblich rein wissenschaftlichen Interessen Kanalisierungen, vielfach Neutralisierungen außerwissenschaftlicher sind, die in ihrer entschärften Gestalt in die Wissenschaft hinein sich verlängern, ist das wissenschaftliche Instrumentarium, das den Kanon dessen liefert, was wissenschaftlich sei, auch auf eine Weise instrumentell, von der die instrumentelle Vernunft nichts sich träumen läßt: Mittel zur Beantwortung von Fragen, die ihren Ursprung jenseits der Wissenschaft haben und über sie hinaustreiben. Soweit die Zweck-Mittel-Rationalität der Wissenschaft das im Begriff des Instrumentalismus gelegene Telos ignoriert und sich zum alleinigen Zweck wird, widerspricht sie ihrer eigenen Instrumentalität. Eben das verlangt die Gesellschaft der Wissenschaft ab. In einer bestimmbar falschen, den Interessen ihrer Mitglieder wie des Ganzen widersprechenden partizipiert jede Erkenntnis, die sich den in Wissenschaft geronnenen Regeln dieser Gesellschaft willfährig unterordnet, an ihrer Falschheit.