III
Das Bild des Intérieurs geschichtlich zu explizieren, wäre eine Soziologie der Innerlichkeit not. Deren Idee ist nur scheinbar paradox. Innerlichkeit gibt sich als Restriktion der humanen Existenz in eine Privatsphäre, die der Macht von Verdinglichung enthoben sein soll. Als Privatsphäre aber gehört sie selber, ob auch polemisch, dem gesellschaftlichen Gefüge an. – Kierkegaard nimmt gelegentlich, ironisch-bescheiden und hochmütig genug, den Titel des Privaten für sich in Anspruch: »Ein geringer privatisierender Denker, ein spekulativer Grillenfänger, der als ein armer Mieter ganz oben in einem ungeheuren Bau eine Dachkammer bewohnt, sitzt da in seinem kleinen Verschlage, gefangen in Gedanken, die ihm schwierig zu sein scheinen.«1 Welcher Art die gesellschaftliche Beziehung zwischen der Außenwelt und dem privatisierenden Denker sei, darüber hat er einiges verraten: »Eine in Wahrheit große ethische Individualität würde ihr Leben so führen: sie würde sich selbst mit aller Kraft entwickeln, dabei vielleicht eine große Wirkung im Äußeren hervorbringen, aber dies würde sie gar nicht beschäftigen, weil sie weiß, daß das Äußere nicht in ihrer Macht steht und darum nichts, weder pro noch contra, zu bedeuten hat.«2 Wie aber hätte die moralische Person sich zu verhalten, wenn das Äußere ja in ihrer Macht stünde oder sie diese Macht in Besitz nehmen könnte? Ist nicht von Kierkegaard das Äußere als vom Inneren verschieden und als Material sittlichen Verhaltens anerkannt; wäre darum nicht Sittlichkeit selber vom geschichtlichen Stande dieses Materials als von ihrem Objekt abhängig? Indem Kierkegaard die gesellschaftliche Frage verleugnet, verfällt er dem eigenen gesellschaftlichen Standort. Es ist der des Privatiers in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Der ist in geräumigen Grenzen ökonomisch unabhängig – unabhängiger als der Besitzer der gleichen Kapitalkraft in der hochkapitalistischen Zeit, wo ein Vermögen entsprechenden Umfanges durch die Konzentration des Finanzkapitals und das System der Aktienanteile alle Selbständigkeit verloren hat. Zugleich aber ist er, bloßer »Rentner«, ausgeschaltet aus der wirtschaftlichen Produktion; akkumuliert nicht oder jedenfalls unvergleichlich viel weniger als ein Industrieller mit gleichem Grundvermögen; vermag auch die intellektuelle Arbeit, als isolierte »Schriftstellerei«, ökonomisch nicht zu aktivieren – wie denn Kierkegaard in der ›Ersten und Letzten Erklärung‹ angibt, es sei »wenigstens das Honorar ziemlich sokratisch«3 gewesen. Für seinen Typus läßt der fortschreitende Konkurrenzkampf bald keinen Raum mehr und ihm stellt er sich entgegen. Nur ein agrarisches, ökonomisch zurückgebliebenes Land gewährt ihm zunächst seine Sicherheit und ermöglicht seinen besonderen Lebensstil: nach Geismars Angabe verschmähte Kierkegaard aus religiöser Rücksicht, sein kleines Vermögen verzinslich anzulegen und verzehrte es ratenweise. Unter der modernen Antithese des Groß- und Kleinbürgers ist der Privatier ebensowenig wie sein Widerpart, der von Kierkegaard stets befehdete »Spießbürger« zu denken. Nicht angewiesen auf fremdes Kapital, nicht genötigt, die eigene Arbeitskraft zu verkaufen, wahrt sich der Privatier den »offenen Blick«. Seine Erkenntnis greift über die pure Unmittelbarkeit seines »Milieus« hinaus, an die der »Spießbürger« gebunden bliebe; die Not der eigenen gesellschaftlichen Lage verdeckt ihm nicht die Überschau übers Ganze und »Wesentliche«; daher die eitle Selbstironie des Tons, mit welchem er sich einen bloß privatisierenden Einzelnen nennt, während ihm doch gerade der Stand des Privatiers eine Totalität garantiert, die der klassische deutsche Idealismus weniger umständlich in Anspruch nahm. – Zur Ausgeschlossenheit aus der ökonomischen Produktion, deren »Zufällen« er schließlich doch überlassen ist, stimmen an Kierkegaard die unter gegenwärtigem Aspekt »kleinbürgerlichen« Züge. Nämlich der ohnmächtige Haß gegen die Verdinglichung, in welcher nur der kapitalistisch Mächtige, nach dem Worte von Karl Marx, sich »wohl und bestätigt« fühlt, weil er »die Entfremdung« als seine »eigene Macht« versteht und »in ihr den Schein einer menschlichen Existenz«4 besitzt, den sie dem Privatier bloß widerruflich spendet. Auch vorsichtiger Interpretation, die nicht unvermittelt philosophische Lehrgehalte aus der ökonomischen Lage des Philosophen herleitet, muß als Bestätigung von Kierkegaards »Ohnmacht im Äußeren« auffallen, daß er bei den Konjunkturschwankungen der Revolutionsjahre beträchtliche Summen verlor und darum in die Zwangslage sich versetzt glaubte, um eine Stellung nachsuchen zu müssen. Der Einfluß seines Stellungsgesuches bei Mynster auf seine spätere Haltung dem Bischof gegenüber ist gewiß nicht geringer anzuschlagen als der der Pietät für den »Beichtvater seines Vaters«: unmöglich konnte er zu Lebzeiten den gleichen Mann als Repräsentanten einer Kirche bezahlter Wahrheitszeugen angreifen, bei dem er selbst um einen bezahlten Posten am Seminar der Landeskirche sich bemüht hatte. So wenig sonst aus solchen Zusammenhängen philosophische Kritik ihre Argumente ziehen dürfte: vor Kierkegaards Anspruch der Identität von Wahrheit und Person sind sie nicht zu übersehen. Wie immer indessen es mit der Vermittlung zwischen privater Existenz und theoretischem Denken sich verhalte, Züge des Privatiers kann die Philosophie selber nicht verleugnen. Der Mangel jeglichen ausgeführten Begriffs von Praxis, wie ihn doch die idealistische Philosophie seit Kant und Fichte besaß; die polemisch-retrospektive Stellung zur übermächtigen kapitalistischen Außenwelt ist dem Gehalt nach privat. Die Außenwelt, die immerhin der Person Reservatrechte beläßt, verfällt darum wohl allgemein als »Außenwelt«, nicht aber als spezifisch-kapitalistische dem Verdikt. Evident wird der Zusammenhang, wo objektlose Innerlichkeit irgend sich selber in sozialer Existenz verstehen muß: in Kierkegaards Ethik. – Sein moralischer Rigorismus leitet sich aus dem absoluten Anspruch der isolierten Person her. Er kritisiert allen Eudämonismus als heteronom gegenüber dem objektlosen Selbst: »Wer aber Sinn und Ziel des Lebens im Genuß sieht, dessen Leben ist einer Bedingung unterstellt, die entweder außerhalb des Individuums liegt oder zwar im Individuum selbst, aber so, daß sie nicht durch das Individuum gesetzt ist.«5 Die autonome Ethik der absoluten Person jedoch bezeugt in ihren Sachgehalten deren Relativität auf die bürgerliche Klassenlage. Das konkrete Selbst ist für Kierkegaard mit dem bürgerlichen identisch: »es ist nicht bloß ein persönliches, sondern ein soziales, ein bürgerliches Selbst«6. Damit jedoch setzt es gerade solche »Differenzbestimmungen«, wie die Allgemeinheit des Sittengesetzes sie ausschließen sollte. Deren Grund ist Klassenbewußtsein. An Negern und Sängerinnen hat bei Kierkegaard die ethische Allgemeinheit ihre Grenze. In den ›Stadien‹ heißt es: »Denn ein Schwarzer, der nicht wohl das Geistige repräsentieren kann ...«7 – von Othello; in einem Brief an Boesen, den Schrempf mit Recht anführt: »An einer Sängerin ist im allgemeinen nicht viel verloren.«8 In ›Furcht und Zittern‹ verteidigt er gelegentlich krasseste soziale Unmoral und Unvernunft, mit der verstockten Naivetät eines Klassenstandpunktes, der gesellschaftlich-ökonomische Zusammenhänge nicht durchschauen will: »Als in Holland einmal die Gewürzpreise sanken, ließen die Kaufleute einige Schiffsladungen ins Meer versenken, um den Preis hinaufzuschrauben. Das war ein verzeihlicher, vielleicht ein notwendiger Betrug.«9 Vollends wo der »Ethiker« auf die Konflikte zu sprechen kommt, die sich zwischen Innerlichkeit – durch die Ehe repräsentiert – und materieller Lage – Armut – ergeben können, rechtfertigt er die Innerlichkeit mit dem behaglichen Zynismus eines Kleinrentners: »Stellen wir z.B. als eine der Schwierigkeiten, mit denen die eheliche Liebe zu kämpfen hat, die Armut auf, so würde ich sagen: Arbeiten, dann gibt sich alles von selbst! Du aber, da wir ja auf unsere Phantasie angewiesen sind, beliebst von der dichterischen Lizenz Gebrauch zu machen und entgegnest: ›Sie finden keine Arbeit; Handel und Wandel liegen darnieder, so daß viele Menschen brotlos sind.‹ Ein bißchen Arbeit gestehst du zu, aber es genügt nicht, sie zu ernähren. Ich meine, sie könnten sparen und so aus der Klemme herauskommen.«10 Die Logik der Argumentation zeugt gegen sich selber. Und sie noch geht Kierkegaard zu weit. Obwohl er sogar den Einfluß der Konjunktur auf die Möglichkeit von Ersparnissen anerkennt, nimmt er die ganze Krise als »willkürlich herangezogene dichterische Möglichkeit«11 von einer Wirklichkeit aus, in welcher zur gleichen Zeit, da ›Entweder/Oder‹ geschrieben ward, die furchtbarste Verelendung des englischen Industrieproletariats sich zutrug. Wenn sonst die Ethik absoluter Innerlichkeit ihre puritanischen Forderungen nicht unerbittlich genug verfechten kann – hier macht sie es sich leicht: »Zu der Frage der äußeren Schwierigkeiten will ich doch noch ein Wort Luthers zitieren; er sagt irgendwo in einer seiner Predigten, wo er über Armut und Not spricht: Man hat noch nie gehört, daß ein Christenmensch Hungers gestorben ist; damit ist Luther fertig mit der Sache und glaubt gewiß mit Salbung und recht erbaulich darüber gesprochen zu haben / mit Recht, wie mich dünkt.«12 Ohne Kritik fügt sich der Einzelne der kirchlichen Tradition. – Moralisches Handeln gilt bei Kierkegaard allein dem »Nächsten«. Von der beabsichtigten Wirkung seiner Apologie der Ehe sagt er: »Durch sie« – die Ehefrau – »bin ich Mann: nicht mit Unrecht heißt der Ehemann auch einfach der ›Mann‹; jeder andere Titel ist gegen diesen ein Nichts und setzt ihn eigentlich voraus. Durch sie bin ich Vater: jede andere Würde ist nur eine menschliche Erfindung, und ein Fündlein, das in hundert Jahren vergessen ist. Durch sie bin ich das Haupt der Familie, der Vertreter des Hauses, der Ernährer und Schirmherr der Kinder. – Wenn man so viele Würden hat, wird man nicht Schriftsteller um eine neue Würde zu erreichen. Mich reizt auch nicht, was ich nicht beanspruchen darf. Schreibe ich doch, so habe ich nur die Absicht, daß der eine, der glücklich ist wie ich, wenn er dies liest, sich seines Glücks erinnere; daß der andere, der zweifelt, wenn er dies liest, für dieses Glück gewonnen werde. Könnte ich nur einen einzigen gewinnen, schon das würde mich froh machen.«13 Indem dergestalt ethische Anrede sich aufs Nächste beschränkt, glaubt sie auch aller objektiven Kritik sich entzogen; Wilhelm »wünscht, daß der Leser sich durch die Mangelhaftigkeit der Form den etwaigen Gewinn nicht verkümmern lasse, und verbittet sich jegliche Kritik. Ein Ehemann, der über die Ehe schreibt, wünscht am allerwenigsten kritisiert zu werden.«14 Das Pathos der Beschwörung aber vermag Kritik nicht hintanzuhalten. Denn der Begriff des Nächsten, der der Kierkegaardschen Ethik zugrunde liegt, ist fiktiv. Er gilt für einen gesellschaftlichen Zustand unmittelbarer menschlicher Beziehungen, von dem er wohl weiß, daß er verloren ist. Fliehend vor Verdinglichung gerade zieht er sich in die »Innerlichkeit« zurück. Hier aber verhält er sich, als ob es draußen noch jene Unmittelbarkeit gäbe, deren Ersatz Innerlichkeit selber ist. Daß ein im Sinne privater Ethik einwandfrei Handelnder durch seine objektive, auf Innerlichkeit nicht reduzible Funktion in der Gesellschaft gleichwohl verwerflich handeln könne, ist eine Einsicht, die Kierkegaard nicht aufkommen läßt. Tatsächlich gibt es ja im Rahmen gemeinsamen Klasseninteresses noch jene Unmittelbarkeit oder deren Schein; der Bruch der Unmittelbarkeit ist mit dem zwischen den Klassen identisch. Darum ist Kierkegaards Ethik konkret-sinnvollen Lebens schlechte und trügerische Klassenmoral. Theologisch formuliert er: »Und daß man jeden einzelnen Menschen, unbedingt jeden Menschen ehrt, das ist die Wahrheit und ist Gottesfurcht und Nächstenliebe. Wenn aber ethisch-religiös die ›Menge‹« – für Kierkegaard als Produkt von Verdinglichung das Widerspiel des konkreten »Nächsten« – »als Instanz für die ›Wahrheit‹ anerkannt wird, so wird damit Gott geleugnet, also auch gewiß nicht der ›Nächste‹ geliebt. Und der ›Nächste‹, das ist der absolut wahre Ausdruck für die Gleichheit der Menschen: liebte jeder in Wahrheit den Nächsten als sich selbst, so wäre die Gleichheit zwischen den Menschen unbedingt vollkommen erreicht.«15 Sie ist es nicht, wo durch Herrschaft des Tauschwerts, Arbeitsteilung und Warencharakter der Arbeit die menschlichen Beziehungen derart vorgeformt sind, daß weder mehr der Nächste zum Nächsten länger als für den Augenblick unmittelbar sich verhalten kann noch die Güte des Einzelnen ausreicht, ihm zu helfen, geschweige denn ins gesellschaftliche Gefüge hineinzuwirken. Damit ist Kierkegaards Ethik gegenstandslos. – Sie entspringt in seinem Begriff von Freiheit. Der verbleibt nicht, wie der Kantische, im intelligibeln Bereich, um den empirischen der Notwendigkeit zu überlassen. Er richtet im empirischen selber sich ein und die empirische Welt wird nur geduldet als Ort von Freiheit. Die Gesellschaft schrumpft zum Umkreis freier »Nächster« zusammen, und gerade ihre Notwendigkeiten werden als »zufällig« von den Toren der Philosophie fortgewiesen. Wie über die Gesellschaft so entscheidet Freiheit auch übers Ich, das Kierkegaard bloß in seiner Freiheit denkt. Wird in deren Namen die materielle Lebensnot der Gesellschaft verleugnet, so entfällt im Ich nach gleichem Schema Not und Wirklichkeit der Triebe. Kierkegaards absolutes Selbst ist bloßer Geist. Der Einzelne ist nicht der sinnlich entfaltete Einzige, und kein Eigentum ist ihm gewährt als das der schmalen Notdurft. Innerlichkeit besteht nicht in ihrer Fülle. Über sie gebietet asketischer Spiritualismus.
Dessen Thesis ist in den ›Brocken‹ auf die extreme Formel gebracht. Das Verhältnis von Wahrheit und Unwahrheit wird dem von Sein und Nichtsein gleichgesetzt. Vom »Schüler«, dem erbsündigen Menschen, der durch Christus erweckt werden soll, heißt es: »Sofern er in der Unwahrheit war und nun mit der Bedingung die Wahrheit erhält, geht eine Veränderung mit ihm vor, gleich der Bewegung vom Nichtsein zum Sein.«16 Die allein geistige »Wiedergeburt«, die er darin sieht, daß man »mit der Bedingung die Wahrheit erhält«, wird als Übergang vom Nichtsein zum Sein der natürlichen Geburt verglichen und damit Geburt selber spiritualisiert: »Wenn nun der Geborene sich geboren denkt, so denkt er ja diesen Übergang vom Nichtsein zum Sein. So muß es sich wohl auch mit der Wiedergeburt verhalten.«17 Zwar macht Kierkegaard sich flüchtig selber den Einwand des Spiritualismus: »Oder sollte das die Sache schwieriger machen, daß das der Wiedergeburt vorausgehende Nichtsein« – also das natürliche Sein, das hier geradeswegs als Nichtsein angesprochen wird – »mehr Sein enthält als das Nichtsein, welches der Geburt vorausgeht?«18 Aber der Einwand wird sogleich kasuistisch niedergeschlagen. Die spiritualistische Thesis der ›Brocken‹ gilt fürs ganze Werk. Wie das natürliche Ich so ist ihm »die ›Menge‹« »die Unwahrheit«19. Lebendige Menschen treten durchweg als Allegorien für Wahrheit und Unwahrheit auf. Das erst läßt die künstlerische Insuffizienz verstehen: alles leibhafte Substrat der Anschauung wird von seiner Philosophie getilgt und geduldet nur, wofern es Wahrheit oder Unwahrheit vorstellt. Aufschlußreich, daß Kierkegaard stichhaltige ästhetische Produktion dort nur zuteil ward, wo er die Verwirrung bloßen Geistes selber darstellte; wo also der Spiritualismus nicht mehr die dichterische Formung verwehrt, weil er von ihr als ihr Objekt ergriffen ist wie in der Novelle ›Eine Möglichkeit‹ aus den ›Stadien‹. Aus der erotischen Psychologie ist alles Sexuelle ausgeschlossen; selbst in Inhaltsangaben wird es prüde vermieden20. Herrscht Spiritualismus auf dem Triebgrund, so setzt er vollends mit der philosophischen Dialektik sich durch, die sogar in der ›Krankheit zum Tode‹ nicht als eine von Geist und Natur gedeutet wird – hier hat Geist selber sich in Freiheit und Dämonie aufgespalten. Das freilich weist auf den entscheidenden Umschlag. Wenn der Leib nur im Zeichen der »Bedeutung« von Wahrheit und Unwahrheit des Geistes auftritt, dann bleibt dafür, bei Kierkegaard, der Geist an körperliche Figuren als seinen Ausdruck gekettet: gebannt wie an den Schein des Intérieurs. Natur, durch Geschichte vom objektlosen Innen ausgeschlossen, schlägt in diesem selber durch, und der historische Spiritualismus baut sich eine natürlich-anthropologische Organlehre. Die Bilder bloßen Geistes, die Kierkegaard findet, sind stets Bilder des menschlichen Leibes. »Meine Seele ist so schwer, daß kein Gedanke sie mehr tragen, kein Flügelschlag sie in den Äther emporheben kann«21, sagt der Schwermütige aus ›Entweder/Oden‹, von allen Masken Kierkegaards die spirituellste. Ihm wird körperloser Geist zur Schwere, die in Verzweiflung zieht. Die alte somatische Temperamentenlehre kehrt im idealistischen Spiritualismus sonderbar wieder. Sie stimmt gut zur Kierkegaardschen Affektenpsychologie. Wo jede Seelenregung, bar eigenen Rechtes, Chiffre der verstellten Wahrheit ist, die in ihr »erscheint«, muß sie selber Erscheinung sein und als solche paradox anschaubar. Wenn die Funktionen von Auge und Ohr geschieden werden nicht sowohl nach ihrer Funktion in der Raumwelt als nach der fürs spirituelle Innen, so wird andererseits zugleich das Innen selber nach den Bildern der natürlichen Organe aufgeteilt. »Hier will ich diese Betrachtung abbrechen. Sie befriedigt dich vielleicht nicht; dein gieriges Auge verschlingt sie, ohne daß du davon gesättigt würdest. Aber das hat dann nur den Grund, daß das Auge am schwersten zu sättigen ist / insbesondere wenn man, wie du, nicht wirklich hungert, sondern nur an der Augenlust leidet, die überhaupt nicht zu befriedigen ist.«22 Sonach ist das Auge Organ der ästhetischen »Unmittelbarkeit« und des Scheins, als welchen sie der Innerlichkeit die Bilder der Dinge allein entwirft. Dabei mag noch die herkömmliche Unterscheidung von »innerem« und »äußerem« Sinn, zeitlicher und räumlicher Anschauungsform mitspielen. Aber es hätte Kierkegaard, der die Musik des Don Giovanni als vollkommensten Ausdruck »sinnlicher Genialität« verstand, am letzten verborgen bleiben können, daß wie der Gesichts- so auch der Gehörssinn sinnliche Qualitäten gibt. Trotzdem wird ihm unvermittelt das Ohr zum Organ von Innerlichkeit selber, zur leibhaften Repräsentanz des schlechthin Unleiblichen. Zu Beginn von ›Entweder/Oder‹ heißt es an einer der markiertesten Stellen: »Denn wie die Stimme die Offenbarung einer zum Äußeren in keinem meßbaren Verhältnis stehenden Innerlichkeit ist, so ist das Ohr das Werkzeug, mit welchem diese Innerlichkeit erfaßt, das Gehör der Sinn, mit welchem sie zugeeignet wird.«23 Das ist keineswegs bloß der Maske des Ästhetikers A zugewiesen. Noch die ›Krankheit zum Tode‹ hält am Gedanken fest: »So sonderbar akustisch ist die Welt des Geistes konstruiert, so sonderbar sind ihre Entfernungen bestimmt«24 – wo die dialektische Notwendigkeit von Gottferne erörtert wird. – Kierkegaards Spiritualismus ist vorab Naturfeindschaft. Geist setzt gegen Natur sich frei und autonom, weil er sie als dämonisch erkennt: wie in der auswendigen Realität so bei sich selber. Indem aber der autonome Geist als leibhaft erscheint, nimmt Natur vom Geiste Besitz, wo er am geschichtlichsten auftritt: im objektlosen Innen. Dessen Naturgehalt ist nachzufragen, wenn das Sein von Subjektivität selber bei Kierkegaard zur Auslegung kommen soll. Der Naturgehalt bloßen, in sich »geschichtlichen« Geistes mag mythisch heißen.
Kierkegaard hat den Begriff des Mythischen, als Gegenbegriff zur historischen Bewegung und in Einheit mit ihr, in der Dissertation eingeführt und zwar bei Gelegenheit der Platonischen Mythen. Was von ihnen gesagt ist, führt zu seinem eigenen mythischen Gehalt, den seine reife Philosophie in sich vergräbt. – Sein Exkurs über ›Das Mythische in den früheren platonischen Dialogen‹ geht aus von einem »Mißverhältnis zwischen dem Dialektischen und dem Mythischen«25, wie es zwischen begrifflicher und bildlicher Darstellungsform bei Platon zutage komme. Die Divergenz als notwendig aus dem Gegenstand und seiner Einheit abzuleiten, setzt Kierkegaard sich zur Aufgabe. Denn das Mythische sei nicht freie Schöpfung des Darstellers. Es »hat hier eine bei weitem tiefere Bedeutung, wovon man sich auch überzeugen wird, wenn man bemerkt, daß das Mythische bei Platon eine Geschichte hat«26. Geschichte nicht nur in der Entwicklung des Platonischen Werkes, sondern auch bei sich selber. Schon in den frühen Dialogen »findet man es nämlich in Verbindung mit seinem Gegensatz, der abstrakten« – will sagen: begrifflichen – »Dialektik«27. Wenn Stallbaum und F. Chr. Baur die Platonischen Mythen »in Verbindung mit dem Volksbewußtsein« bringen oder »im Mythischen das Traditionelle« hervorheben28, so haben sie wohl das Historische am Mythos gesichtet, aber es äußerlich belassen, ohne dialektische und mythische Darstellungsweise aus dem gemeinsamen Grunde zu begreifen. Ihnen stellt Kierkegaard die Idee einer »inneren Geschichte des Mythischen«29 entgegen. Mit ihr tendiert er auf die historische Figur des Mythischen im eigenen Werk: die der vollkommenen Immanenz, als deren Bild das Intérieur ihm geriet. Als Bild erkennt er die Einheit des Dialektischen und Mythischen bei Platon: während nämlich das Mythische »in den früheren Dialogen im Gegensatz zum Dialektischen auftritt, indem, wenn das Dialektische verstummt, das Mythische sich hören oder richtiger sehen läßt, so steht es dagegen in den späteren in einem freundlicheren Verhältnis zum Dialektischen, d.h. Plato ist seiner Herr geworden; das bedeutet: das Mythische wird zum Bildlichen«30. Produziert in der Immanenz des Gedankens und seiner »inneren Geschichte«, ist das »Mythische« zugleich als Bild leibhaft sichtbar, so wie Kierkegaards Spiritualismus in seiner Dialektik der leibhaft-organischen Bilder bedarf. Organisch-natural ist die Produktion dieser Einheit, in welcher die Charaktere historischer Faktizität und ontologischer Wahrheit vereint untergehen: »Die mythische Darstellung der Existenz der Seele nach dem Tode wird weder zu der historischen Reflexion in Beziehung gesetzt, ob es sich wirklich so verhält, ob Aiakos, Minos und Rhadamanthys sitzen und richten, noch zu der philosophischen, ob es Wahrheit ist. Kann man die Dialektik, die dem Mythischen entspricht, als Verlangen, Begehren bezeichnen, als den Blick, der auf die Idee sieht, ihrer zu begehren, so ist das Mythische die fruchtbare Umarmung der Idee.«31 Daß aber die Rede von Verlangen, Begehren, fruchtbarer Umarmung nicht, wie Kierkegaard es wohl vermeinte, als ablösbare Metapher die Produktivität bloßen Geistes bekundet; daß vielmehr in ihr Spiritualität selber als »mythisch«, die Produktivität des Geistes als eine von Natur benannt wird, erweist ein Satz, mit dessen pragmatischen Elementen Kierkegaards Philosophie näher ans Bewußtsein ihrer selbst rückt als irgendwo anders: »Zu einer gleichen Betrachtung des Mythischen kann man auch kommen, wenn man vom Bildlichen ausgeht. Wenn man nämlich in einer reflektierenden Zeit in einer reflektierenden Darstellung das Bildliche sehr sparsam und leicht überhörbar hervortreten, gleich einer antediluvialen Versteinerung an eine andere Daseinsform erinnern sieht, die den Zweifel wegspülte, so wird man sich vielleicht darüber verwundern, daß das Bildliche jemals eine so große Rolle hat spielen können.«32 Das »Verwundern« wehrt Kierkegaard mit dem Folgenden ab. Und doch meldet es die tiefste Einsicht über das Verhältnis von Dialektik, Mythos und Bild an. Denn nicht als je und je lebendig-gegenwärtige setzt Natur in der Dialektik sich durch. Dialektik hält im Bild inne und zitiert im historisch Jüngsten den Mythos als das Längstvergangene: Natur als Urgeschichte. Darum sind die Bilder, die gleich dem des Intérieurs Dialektik und Mythos zur Indifferenz bringen, wahrhaft »antediluviale Versteinerungen«. Sie dürfen dialektische Bilder heißen mit einem Ausdruck Benjamins, dessen schlagende Definition der Allegorie auch für Kierkegaards allegorische Intention als Figur historischer Dialektik und mythischer Natur gilt. Nach ihr »liegt in der Allegorie die facies hippocratica der Geschichte als erstarrte Urlandschaft dem Betrachter vor Augen«33. – Mythisch ist bei Kierkegaard Natur als Urgeschichte, zitiert in Bild und Begriff seiner historischen Gegenwart. So hat er sehr evident den Ausdruck an der einzigen Stelle gebraucht, wo er nach der Dissertation noch akzentuiert vorkommt: in der Deutung von Mozarts ›Figaro‹. Dort nennt er den Pagen eine »mythische Figur«34. Das historische Kostüm des Pagen ist zugleich die Verkleidung des zweideutigen Naturwesens selber; in ihrer unbestimmten und rätselvollen Tiefe nächstverwandt der des bloßen Geistes, dessen mythische Art sich nicht verleugnen läßt: »Obgleich die Begierde in diesem Stadium nicht als Begierde bestimmt, obgleich sie, die ja bloß Ahnung von Begierde ist, hinsichtlich ihres Gegenstandes durchaus unbestimmt ist / eine Bestimmung hat sie doch: sie ist unendlich tief. ... Sie bringt es noch nicht zu einem Verhältnis zum Gegenstand; es bleibt bei der unendlichen, unbestimmten Sehnsucht. Es stimmt gut zu der hier gegebenen Beschreibung ..., daß die Rolle des Pagen für eine Frauenstimme geschrieben ist. In diesem Widerspruch ist das Widersprechende in jenem Stadium angedeutet: die Begierde ist so unbestimmt, der Gegenstand so wenig ausgeschieden, daß das Begehrte androgyn in der Begierde bleibt, wie im Pflanzenorganismus beide Geschlechter in einer Blüte vereinigt sind. Die Begierde und das Begehrte bilden eine Einheit, in der beide Teile neutrius generis sind.«35 Mit dem Kostüm des Androgynen ist das Moment des Scheins gegenwärtig, das allen Dingen im Intérieur eignet; das Kierkegaard, in der Dissertation, an den Platonischen Mythen gewahrte und mit Worten beschrieb, die an die ahnend verschlossene Begierde des Pagen deutlich mahnen: »Sobald nämlich das Bewußtsein hinzutritt, zeigt es sich, daß diese Lufterscheinungen« – die Mythen – »doch nicht die Idee waren. Wenn nun die Phantasie sich wiederum, nachdem das Bewußtsein erweckt ist, zu diesen Träumen zurücksehnt, tritt das Mythische in einer neuen Gestalt hervor, nämlich als Bild. ... Das Mythische kann daher sehr wohl etwas Traditionelles an sich haben. Das Traditionelle ist gleichsam das Wiegenlied, das mit ein Moment des Träumens ausmacht; aber mythisch ist es doch recht eigentlich gerade in dem Augenblick«36 – nicht zwar wohl, wie Kierkegaard spiritualistisch annimmt, »wo der Geist hinfährt und niemand weiß, woher er kommt und wohin er fährt«37, jedoch dort, wo das erscheinende Bild das Gewesene aus den Höhlen der Vorzeit aufscheucht. Indem aber, im mythischen Bilde des Pagen, »das Begehrte androgyn in der Begierde bleibt«, bleibt auch das Bild immanent-spirituell. Die immanente Spiritualität selber ist mythisch. Als mythische wird sie leibhaftig. Darum das drastische Gleichnis des Verführers: »Ich bin ein Dichter, wenn auch nicht für andere; ich esse meine Dichtungen selber; davon lebe ich. Erscheine! Ich will dich dichten.«38 So wird der Künstler, bloßer Geist, im Bilde des Saturn, der seine Kinder frißt, mythisch an den Sternenhimmel geheftet. Deshalb transzendiert in Kierkegaards Philosophie bloßer Geist zum Geisterhaften als seinem vorzeitlichen Urbild. Von einer »modern-tragischen« Figur – Regine wohl – wird gesagt: »Ihr Leben entfaltet sich nicht wie das der griechischen Antigone; die Bewegung der Entwicklung ist nach innen, nicht nach außen gerichtet, die Szene ist innen, nicht außen, ist eine Geisterszene.«39 Und der unendlich reflektierte Verführer tritt spurlos auf: als Gespenst: »Wie man von ihm sagen könnte, daß sein Weg durchs Leben keine Spuren hinterlassen habe (denn seine Füße waren so eingerichtet, daß sie die Spur mitnahmen /so stelle ich mir am besten seine unendliche Reflektiertheit in sich selbst vor), in demselben Sinn könnte man sagen, daß seine Verführungskunst keine Opfer gefordert habe.«40 – Wo Kierkegaard den mythischen Charakter bloßen Geistes durchschaut, nennt er ihn dämonisch. So vor allem im ›Begriff der Angst‹. Hier wird die Einwanderung mythischer Natur in spirituelle Innerlichkeit geschichtlich gedeutet: »Es hilft wenig, wenn man das Dämonische zu einem Wauwau macht, den man perhorresziert und dann auch ignoriert, da er ja schon manches Jahrhundert sich nicht mehr auf der Welt gezeigt hat, / welche Annahme doch eine große Torheit ist; denn es war vielleicht noch nie so verbreitet, wie in unseren Zeiten: nur daß es gegenwärtig besonders in den geistigen Sphären auftritt.«41 Dämonie, definiert als »das Verschlossene und das unfreiwillig Offenbare«42, entspringt der Verblendung, mit welcher der autonome Geist sich absolut denkt: »Das Dämonische schließt sich nicht ein mit irgend etwas, aber es schließt sich selbst ein, und darin liegt das Tiefsinnige im Dasein, daß die Unfreiheit eben sich selbst zum Gefangenen macht.«43 Als mythisch sprengt Dämonie die Subjektivität und wird zur ontologischen Unwahrheit wider die ontologische Wahrheit Gottes: »Die Verzweiflung des Teufels ist die intensivste Verzweiflung, denn der Teufel ist nur Geist und insofern absolutes Bewußtsein und Durchsichtigkeit; in ihm ist keine Dunkelheit, die zu mildernder Entschuldigung dienen könnte, daher ist seine Verzweiflung der absoluteste Trotz.«44 – All das wäre so gut von objektloser Innerlichkeit zu sagen, wie es vom verworfenen, entselbsteten Selbst purer Dämonie gesagt wird. Denn aus Dämonie führt erst die Sprache, die auch einer Innerlichkeit verwehrt ist, die nicht a priori weiß, »ob es noch andre Menschen« auf der Welt »gibt«45: »Das Verschlossene ist nämlich eben das Stumme; die Sprache, das Wort ist das Erlösende, das von der leeren Abstraktion der Verschlossenheit erlöst. Tritt nun die Freiheit von außen zu dem in sich verschlossenen Dämonischen in ein Verhältnis, so ist das Gesetz für die Offenbarung des Dämonischen, daß es wider willen mit der Sprache herausrückt. In der Sprache liegt nämlich die Kommunikation«46 mit einer Außenwelt, die als kontingent von Innerlichkeit ausdrücklich verbannt ist. Freilich lehnt er ab, das Dämonische dem Mythisch-Natürlichen gleichzusetzen; warnt davor, zu »vergessen, daß die Unfreiheit« – als welche er Dämonie denkt – »ein Phänomen der Freiheit und nicht durch Naturkategorien zu erklären«47 sei. Die mythische Deutung des Dämonischen weist er einer »ästhetisch-metaphysischen« Betrachtung zu; »dann wird das Phänomen als Unglück, Schicksal usw. aufgefaßt und beurteilt; es läßt sich dann als Analogie dazu anführen, daß ein Mensch schwachsinnig geboren sein kann usf.«48 Aber die Ideen der Dämonie und des Schicksals, verschwistert von je, vermag er voneinanderzureißen nur durch den gewaltsamen Einspruch einer Theologie, der die Dämonie »frei« ist, weil sie das urgeschichtliche Ereignis des Sündenfalls selber als Akt der Freiheit faßt, und die der Verstrickung in Schicksal durch den »Sprung« sich entzieht. Jedoch der theologische Einspruch reicht nicht hin, anders als durch die blanke Behauptung Dämonie von Natur – bloße Innerlichkeit vom »Mythischen« zu scheiden. – Es wird damit der Charakter des Mythischen in begrifflicher Ausprägung wie Kierkegaards absoluter Innerlichkeit so jeglichem Idealismus des absoluten Geistes zugeschrieben. Im radikalen Idealismus expliziert sich das mythisch-geschichtliche Bild des Intérieurs durch philosophisches Selbstbewußtsein. So vermag die vulgäre Rede von der Hegelschen Geschichtsmythologie sich tiefer zu rechtfertigen, als sie vermeint: nicht als metaphysisches Umdichten der Wirklichkeit, sondern aus dem mythischen Gehalt selber. »Hier ist der Punkt, wo die Philosophie Hegels mit methodischer Notwendigkeit in die Mythologie getrieben wird.«49 Gewiß aber die Baaders und Schellings. Sie haben nicht bloß mythische »Elemente« als »Material« ins philosophische Gefüge aufgenommen. Sondern mythisch ist dessen Grund: die Selbstherrlichkeit des Geistes; des geschaffenen, der sich als Schöpfer inthronisiert und in Natur um so tiefer einstürzt, je höher er ihr zu entragen vermeint. In den letzten Erzeugnissen des idealistischen Geistes durchbricht bloß der mythische Gehalt die Zellen des systematisch entfalteten Begriffs, darein philosophische Kritik ihn verwiesen, und ergreift von den alten Bildern Besitz. Samt dem Halt des Systems aber zerstört er sich selber: bloßer Geist, beim Namen gerufen, verliert seine Macht. Mit den späten Idealisten steht Kierkegaard an der gleichen historischen Umschlagstelle. Wie bei ihnen vollzieht in ihm sich die Krise des selbstherrlichen Geistes als Emanzipation des mythischen Gehalts. Aber ihn führt der Umschlag nicht in mythologische Metaphysik und »positive« Philosophie. Der mythische Gehalt beharrt treu in der immanenten Dialektik und wird von ihm gebannt erst mit der Tilgung von Subjektivität schlechthin.
Unter der Kategorie des Mythischen erst ist aufzuklären das Verhältnis objektloser Innerlichkeit zur verstellten Ontologie, der, als Wahrheit, Kierkegaards Frage gilt. Mythisch verschlossene Subjektivität unternimmt es, die »menschlichen Grundverhältnisse« und ihren Sinn: die Ontologie zu retten durch Beschwörung. Bereits der Verführer bekennt sich als Zauberer im mythischen Bild: »Aber Du ahnst nicht, welches das Reich ist, über das ich herrsche. Ich herrsche über die Stürme der Stimmungen. Wie Äolus ...«50 Und Beschwörung bleibt so wenig auf die »ästhetische Sphäre« wie aufs poetisierende Gleichnis beschränkt. Innerlichkeit selber beschwört. »Für die ethische Betrachtung des Lebens ist es demnach die Aufgabe des einzelnen, sich der Bestimmung durch das Innere zu entkleiden und diese in einem Äußern auszudrücken.«51 So ist ihr das Äußere eine magische Apparatur, die, als »Ausdruck«, verborgenen Gehalt zitiert. Der beschworene Gehalt aber ist, ob auch inwendig, doch nicht Innerlichkeit selber: »Das Paradox des Glaubens ist dieses, daß es ein Inneres gibt, welches von dem Äußeren aus inkommensurabel ist; ein Inneres, welches, wohl zu merken, nicht mit jenem ersten identisch, sondern ein neues Inneres ist.«52 Dies zweite Innere aber, dem alle Dialektik Kierkegaards gilt, ist die beschworene Wahrheit. – Die Intention der Beschwörung ist von Kierkegaard nicht zum Begriff erhoben. Ihre Dämonie müßte den Wahrheitsanspruch der dialektischen Innerlichkeit gefährden. Aber sie wird offenbar in der Form seiner Sprache. Mehr noch als in den beschwörenden Gleichnissen der ästhetischen Schriften in deren Breite. Oft ist sie bemerkt, kaum aber in ihrer Notwendigkeit aus dem philosophischen Gehalt selber hergeleitet worden. Es genügt nicht sein bekannter Hinweis auf die »Weitläufigkeit des Kummers«, die schlechte Unendlichkeit in Monolog und Dialektik des Schmerzes. Auch die Begründung in sokratischer Redelust gibt nur seine Absicht, nicht den Ursprung; ebenso der Widerwille gegen die bündige Formulierung im System, von dem der ›An Lessing gerichtete Dank‹ negativ zeugt mit dem Lob: »Diese stilistische Sorglosigkeit, die eine Vergleichung bis ins kleinste Detail ausführt, als hätte die Darstellung selbst einen Wert, als wäre Friede und Sicherheit, und das obschon vielleicht der Buchdruckerjunge und die Weltgeschichte, ja die ganze Menschheit darauf wartete, daß er fertig würde.«53 All das vermag nicht zu erhellen, warum eine Philosophie, die – anders als Hegel, aber auch selbst Lessing – aller Realien enträt und die ihre Bestimmungen sämtlich aus dem bloßen »Punkt« der Person entwickeln muß, dennoch der äußersten räumlichen Extension ihrer Darstellungsform bedarf. Deren Gesetz ist die Wiederholung: Wiederholung beschwörender Formeln. Die unveränderliche und verstellte Wahrheit wird als das immer Gleiche mit immer gleichen Worten angerufen, aus Ohnmacht, ihren Gehalt positiv zu setzen oder fortlaufend zu deduzieren, aber auch aus Hoffnung, sie möchte aufspringen, wenn die rechte Zahl der Anrufungen erfüllt ist. Den mythischen Wiederholungen des Ganzen entspricht genau die formelhafte Kürze des Einzelnen; den endlosen Paraphrasen der ›Leidensgeschichte‹ und der ›Unwissenschaftlichen Nachschrift‹ die dicht gedrängten, orakelmäßigen Hauptsätze im ›Begriff der Angst‹ und zumal der Grundlegung der Existentialphilosophie zu Beginn der ›Krankheit zum Tode‹. Ontologie aber, von mythisch-autonomem Willen beschworen, gehorcht der Anrufung bloß als Phantasmagorie. Schicksal, Glück, Unglück sind die mythischen Sternbilder einer dialektischen Fahrt, die zweideutig verläuft, weil »auf dem Meer der Möglichkeiten« des bloßen Ich »der Kompaß selbst dialektisch«54 ist. Zweideutig muß Kierkegaards Dialektik in genauerem Sinne heißen. Denn als Bewegung losgelösten einzelmenschlichen Bewußtseins, das mythisch selber entspringt und auch als bewegtes im mythischen Umkreis verbleibt, hat sie zwei Bedeutungen. Diese sind zu unterscheiden nach den Erscheinungsweisen, die der mythische Gehalt in ihnen annimmt. – Einmal wird bloße Natur, mythischer Schein, von Kierkegaard als Gefährdung des Menschen gedacht, der als sündhaftes Geschöpf ihr angehört, durch »Freiheit« aber sich erhebt über sie. Hier ist Dialektik ein Prozeß von Spiritualisierung oder, nach Kierkegaards Sprachgebrauch, »Durchsichtigmachung«, den das Selbst in Kraft seines freien Geistes inauguriert. Diese Dialektik spielt zwischen Natur und Geist, mythischem Gehalt und Bewußtsein als qualitativ-verschiedenen, schlechterdings konträren Mächten; sie soll den Zugang zur Versöhnung freilegen, indem vor der pneumatischen Helligkeit der mythische Schein versinkt. Sie herrscht in Kierkegaards expliziter Lehrmeinung durchaus vor, nach welcher aus der durchschauten Unwirklichkeit sich selbst behauptender Natur das wahre Selbst, die »Freiheit« des Menschen hervorgeht. Aber sie bietet nur die Vorderansicht eines zweiten und tieferen Begriffs von Dialektik, der, ohne im Werke theoretisch entfaltet zu sein, sachlich dort sich nachweisen läßt. Es ist der einer Dialektik im mythischen Naturgrund selber. Er rückt notwendig ins Zentrum einer Interpretation, die kritisch den mythischen Charakter dessen aufdeckte, was bei Kierkegaard als Geist und Freiheit supranatural auftritt: der objektlosen Innerlichkeit. Das supranaturale Wesen des »Geistes« wird von Kierkegaard selber in Zweifel gerückt durch die theologische Lehre von der absoluten Transzendenz Gottes in den ›Brocken‹, die allen Anspruch spiritueller Freiheit des Menschen bricht: »noch weniger wird er in eigener Kraft Gott aufs neue auf seine Seite zu ziehen vermögen«55. Dann aber teilt der Mensch sich nicht in Natur und Übernatur auf, die ihren Kampf austragen – sein Naturwesen ist dialektisch in sich, und was im Menschen beiträgt ihn zu erretten, rechnet gleichermaßen zu seiner Natur wie was ihn verderben will. Auf den Entwurf von Naturdialektik weist hin Kierkegaards Versuch, Natur und Dämonie voneinander abzuheben; ein Versuch, der freilich im Vordergrunde des herrschenden Spiritualismus nicht geraten kann. Deutlicher aber kommt er zum Vorschein in einer Metaphorik, die den gleichen Prozeß des Durchsichtigwerdens, welchen Bewußtsein an der widerstrebenden Natur durchsetzen soll, als Naturvorgang beschreibt: »Mein Wesen war Durchsichtigkeit wie das tiefe Sinnen des Meeres, wie das selbstzufriedene Schweigen der Nacht, wie die monologische Stille des Mittags.«56 Wenn Kierkegaard spiritualistisch den Satz wagt, »daß jeder einzelne, der geboren wird, eben durch seine Geburt und durch die Angehörigkeit zum Geschlecht ein Verlorener ist«57, so hat er dem entgegen die Möglichkeit von Rettung in die Naturdialektik aufgenommen mit der Frage der ›Krankheit zum Tode‹, »wie weit vollständige Klarheit über sich selbst, davon, daß man verzweifelt ist, sich mit Verzweiflung vereinigen läßt, d.h. ob diese Klarheit der Erkenntnis und Selbsterkenntnis einen Menschen nicht gerade aus der Verzweiflung herausreißen und ihn so vor sich erschrecken lassen muß, daß er aufhört, verzweifelt zu sein«58. Die Klarheit des Verzweifelten, der als Geist dämonisch in die bloße Natur seiner selbst sich verstrickt, ist aber eine, welche die mythische Dialektik in sich selber produziert. In der Gefangenschaft vollkommener Immanenz wird die mythisch-zweideutige Natur geschieden, indem sie nicht dumpf beharrt, sondern dialektisch sich bewegt und ihre Bewegung faßt Natur in der Tiefe, aus welcher sie entspringt, um rettend sie hochzureißen.
Diese Bewegung bildet Kierkegaards Affektenpsychologie ab als die Bewegung von Schwermut. Sie gehört zum Intérieur, an welches »Stimmung«: die Konstellation der Sachgehalte sie bindet. Wie dort das geschichtliche Bild als mythisch sich präsentiert, so stellt hier bloße Natur: das melancholische Temperament als historisch sich dar. Damit aber als dialektisch und als »Möglichkeit« von Versöhnung. – Die innere Geschichte der Melancholie ist von Kierkegaard, gleich der der Subjektivität insgesamt, in Indifferenz gesetzt zur äußeren Geschichte. »Ich meine die egoistische oder sympathetische Schwermut. Man hat schon so viel vom Leichtsinn unserer Zeit gesprochen; mir scheint, wir hätten Ursache auch einmal von ihrer Schwermut zu reden, und ich möchte glauben, daß dadurch manches Problem erklärt werden könnte. Schwermut, das ist die Krankheit unserer Zeit, und sie erklingt noch in ihrem leichtsinnigen Lachen; sie hat uns den Mut geraubt zu befehlen und zu gehorchen, die Kraft zu handeln, den Glauben, die Hoffnung.«59 Als solche »Krankheit der Zeit« ist sie nicht unverbindlich – allgemein, sondern Innerlichkeit wird schwermütig durch die bestimmte Auseinandersetzung mit historischen Realien, die Kierkegaards großes Gleichnis deutlich genug umreißt: »Aber die absonderlichen Ideen meiner Schwermut gebe ich nicht auf. Denn diese Launen, wie sie vielleicht ein Dritter heißen würde; diese bösen Träume, wie sie sie vielleicht voll Teilnahme nennen würde: sie führen mich zu der ewigen Gewißheit der Unendlichkeit, wenn ich ihnen nur unerschrocken folge. – Darum sind mir diese Ideen in meiner Einsamkeit lieb, ob sie mich schon erschrecken. Ich verdanke ihnen eine Lehre von höchster Bedeutung: daß ich mir nicht, wie andere, zu unvergleichlichen Entdeckungen auf dem religiösen Gebiet gratuliere und die Menschheit mit meinen Entdeckungen beglücke, sondern zu meiner eigenen Demütigung nur das Allersimpelste gleichsam wiederentdecke und mir mit dem Allersimpelsten, unendlich befriedigt, genügen lasse ... Woher kommt es wohl, daß in abgelegenen Gegenden, wo eine halbe Meile zwischen einer kleinen Hütte und der andern liegt, mehr Gottesfurcht ist als in den lärmenden Städten? Daß der Seemann mehr Gottesfurcht hat als der seßhafte Bürger? Kommt es nicht daher, daß man auf der einsamen Heide, auf dem wilden Meer etwas erlebt? und es so erlebt, daß man standhalten muß? Wenn der nächtliche Sturm rast und der hungernde Wolf unheimlich dreinheult; wenn man in Seenot sich auf eine Planke gerettet hat und auf ihr über das tobende Meer dahintreibt; wenn man sich dann alles Schreien ersparen kann, da man doch kein menschliches Ohr erreichen kann: da lernt man sein Vertrauen auf etwas anderes setzen als auf Nachtwächter und Gendarmen, auf die Feuerwehr und das Rettungsboot. In der großen Stadt sitzen Menschen und Häuser allzunahe aufeinander. Soll man einen primitiven Eindruck bekommen, so muß entweder Begebenheit her, oder man muß einen anderen Weg haben / wie ich ihn in meiner Schwermut habe.«60 Die beiden Wege, deren Kierkegaard Erwähnung tut, schneiden sich in seiner Psychologie der Schwermut und bilden den Kreuzweg, der nach altem Glauben der Beschwörung am günstigsten ist. Die Intention des Gleichnisses ist die ontologische: der »primitive Eindruck« der, welchen im erfahrenden Menschen die »Urschrift der humanen Existenz« hinterläßt. In der verdinglichten Welt der großen Städte, deren Bewohner als Gendarmen und Nachtwächter, »Funktionäre« der Ordnung, selber Dinge und Karikaturen sind, ist der Wahrheitsgehalt der Schrift geschichtlich verloren, weil die Objektivität der gesellschaftlichen Formen den »primitiven Eindruck« nicht mehr zuläßt. Lediglich noch die urgeschichtliche Natur des Schiffes, des Hüttenbewohners soll jenseits von Verdinglichung mit Meer und Heide den Menschen die »Urschrift« vor Augen stellen. In der verdinglichten Welt selber aber ist durch deren Geschichte mythische Natur zurückgeworfen in die Innerlichkeit des Menschen. Innerlichkeit ist das geschichtliche Gefängnis des urgeschichtlichen Menschenwesens. Der Affekt des Gefangenen ist die Schwermut. In Schwermut stellt Wahrheit sich dar, und die Bewegung von Schwermut ist die zur Rettung des verlorenen »Sinnes«. Freilich wahrhaft dialektische Bewegung. Denn wenn in Schwermut Wahrheit sich darstellt, so stellt sie doch der bloßen Innerlichkeit sich dar einzig als Schein. Wahrheit ist in ihr bloße Imagination gleich dem Genuß des Schwermütigen: »Der Genuß liegt nicht eigentlich im Genuß, sondern in der Vorstellung, die man dabei hat.«61 Als Imagination ist Schwermut dem Wahnsinn verwandt; in Wahnsinn wird sie mit der Novelle ›Eine Möglichkeit‹ verzaubert. In deren Zentrum steht ein Intérieur der Beschwörung: »Das konnte man auf der Straße sehen; wer aber in sein Zimmer kam, sah noch viel Verwunderlicheres. Es ist nicht eben seltsam, daß man von einem Menschen einen höchst verschiedenen Eindruck bekommt, wenn man ihn in seinem Heim sieht, und wenn man ihn draußen sieht. Bei Magiern, Alchimisten und Astrologen« – Figuren in mythischer Bindung also – »gehört das sozusagen zum Begriff; wie der berühmte Dapsul von Zabelthau unter den Menschen aussah wie andere Menschen, in seinem Observatorium aber trug er einen hohen spitzen Hut, hüllte sich in einen Mantel von grauem Kalamank, hatte einen langen weißen Bart und sprach mit einer verstellten Stimme, so daß seine eigene Tochter ihn nicht kannte und für den Knecht Ruprecht hielt.«62 Solch ein Intérieur ist der Wahnsinn des Buchhalters, der die »Möglichkeit«, daß ein Kind von ihm lebe, magisch durch Erinnerung aus seiner Vorzeit zu beschwören trachtet. Mit der Beschwörung aber treten die kontingente Wirklichkeit und die Innerlichkeit auseinander: »Das äußere Erbleichen ist gleichsam ein Abschiedsgruß des Inneren; und dem Flüchtling eilt der Gedanke und die Phantasie nach, um ihn in seinem Versteck aufzuspüren.«63 Dies bleiche Licht ist das von Schein, wie er den abgeschiedenen Schwermütigen zum mythischen Grunde zieht. So stellt Kierkegaard Abgeschiedenheit des Inwendigen, bloße Natur und Schein zusammen im Gleichnis vom Echo: »Stehst du dem Nichts gegenüber, so beruhigt sich deine Seele, ja sie kann wehmütig gestimmt werden, wenn dir aus dem Nichts das Echo deiner Leidenschaft entgegentönt. Um ein Echo zu bekommen, muß man ja einen leeren Raum vor sich haben.«64 Und der Scheincharakter der Schwermut bleibt in seinem Werk nicht bloß metaphorisch. Von ihm zeugt die Theorie selber mit der Aussage: »Darum liegt es auch in der Natur der Schwermut, daß sie nie ganz wahr ist.«65 Als Schein aber ist mythische Schwermut nicht verworfen sondern dialektisch in sich selber. In ihr verbirgt sich »Vorsehung«. Sie »stattet eine Individualität für das Verhältnis zur Wirklichkeit mit ungewöhnlichen Kräften aus. ›Aber‹, sagt sie nun, ›damit er nicht zu viel Schaden stifte, binde ich diese Kraft in Schwermut und verberge sie dadurch vor ihm selbst‹« – gleichwie die »Wahrheit« bei Kierkegaard der Innerlichkeit selber verborgen ist. »›Was er vermag, soll er selbst nie zu wissen bekommen; aber ich will ihn brauchen. Keine Wirklichkeit soll ihn demütigen; insofern soll er es besser haben als andere Menschen; aber in sich selbst soll er sich vernichtet fühlen, wie ein anderer Mensch sich nie vernichtet fühlt. Erst da, und allein da soll er mich verstehen; aber dann soll er auch dessen gewiß sein, daß er mich verstanden hat.‹«66 So gibt Wahrheit sich dem schwermütigen Schein durch dessen eigene Dialektik. In ihrem Schein ist Schwermut, dialektisch, das Bild eines Anderen. Das begründet genau den allegorischen Charakter von Kierkegaards Schwermut. Allegorisch wird vor Schwermut natürliches Sein: »Wer, der nicht ganz von Sinnen ist, kann ein junges Mädchen sehen ohne eine gewisse Wehmut zu empfinden? ohne daß er durch ihre Lieblichkeit gerade am allerempfindlichsten an die Hinfälligkeit des irdischen Lebens erinnert würde?«67, fragt Wilhelm, vielleicht mit bewußtem Anklang an die Allegorie des Matthias Claudius vom Tod und dem Mädchen. Das Bild des Mädchens bedeutet in seiner Jugend gerade Vergänglichkeit. Schwermut selber jedoch ist der geschichtliche Geist in seiner Naturtiefe und darum, in den Bildern ihrer Leiblichkeit, die zentrale Allegorie. Den in Innerlichkeit Verschlossenen muß »die Schwermut durch die vorläufigen Stadien geleitet haben«68, gleich einer Figur des Hermes, der mit dem Stabe die Toten geleitet. Und die saturnische Abkunft der Melancholie wird zitiert von der Rede: »Was ist meine Krankheit? Schwermut. Wo hat diese Krankheit ihren Sitz? In der Einbildungskraft; und ihre Nahrung ist die Möglichkeit.«69 Mahnt Kierkegaards Philosophie durch ihre Bruchlinie an Descartes: den völligen Sprung von Innen und Außen, der einzig in der leibhaften Tiefe der Affekte sich schließt, so erweist vollends die allegorische Intention eine sachliche Affinität zum Barock, die auch die Übereinstimmungen zwischen Kierkegaard und Pascal genauer festhalten dürfte als jene philosophische Stimmung, die Gespräche zwischen Augustin, dem jansenistischen Katholiken und dem idealistischen Protestanten als solche einsamer Gläubiger über die Jahrhunderte hinweg hofft erlauschen zu können.
Kierkegaard nennt sich selbst gelegentlich »der barocke Denker«70, offenbar auf eine zeitgenössische Äußerung über ihn anspielend, ohne zu wissen, wieweit tatsächlich seine pragmatischen Motive mit denen des literarischen Barock korrespondieren. Mit diesem teilt er die verschlossene Immanenz71 nicht anders als die Beschwörung entsunkener Seinsgehalte durch Allegorie. Wie Strandgut an einer Insel werden an seine philosophische Landschaft Reste, längst vergangene Figuren der barocken Dramatik angespült, von deren Urbildern ihm allein Shakespeare – wofern man diesen dem Barock zuzählt – mochte geläufig sein. Die Konstituentien des Barockdramas, die Benjamin im ›Ursprung des deutschen Trauerspiels‹ durch dessen Idee erschlossen hat, treten vollzählig versammelt auf in der Höhle seiner Philosophie. Der Tyrann kommt vor als mythisch – historische Person: bald Nero72, bald Periander73, bald Nebukadnezar74 geheißen; letzterer eingeführt mit einem ganz entlegenen Motiv aus der Allegorik des Melancholischen, dem der Tiergestalt, das der deutsche Barockdramatiker Hunold verwandte75. Mit dem dialektischen Gegenbild des Tyrannen, dem Märtyrer, hat Kierkegaard sich geradezu identifiziert, und dessen Begriff beherrscht seine späte Theologie so durchaus, daß in der letzten Polemik Martensen ihm mit Recht vorwerfen konnte, er setze den »Wahrheitszeugen« dem »Blutzeugen« ohne weiteres gleich. Barocke Intrigen sind nicht nur die Verführungsgeschichte, sondern auch die Loslösung des Quidam von der Geliebten, der Hamlet gleich bei ihr den Albernen spielt. Die Dialektik der Schwermut führt in den Darlegungen der »indirekten Methode« in der ›Unwissenschaftlichen Nachschrift‹ und dem ›Gesichtspunkt für meine Wirksamkeit als Schriftsteller‹ zu einer vollständigen Kasuistik und Apologie der Intrige. Wie im Barock sind Schwermut und Verstellung eines Wesens: »Dabei deutete ja die genaue Proportion zwischen der Schwermut und Verstellungskunst darauf hin, daß ich auf mich selbst und auf das Gottesverhältnis angewiesen war«76 – zugleich weist die Isolierung objektloser Innerlichkeit hier auf die barocke Verlassenheit der Kreatur in der Immanenz des Diesseits. Mit den gefürchteten Insignien barocken Geistes Schwulst und Grausamkeit sogar ist Kierkegaards Philosophie bekleidet. Es häufen sich die allegorischen Bilder: »Jede hat das Ihre: das muntere Lächeln; den schelmischen Blick; das verlangende Auge; die demütige Neigung des Hauptes; den ausgelassenen Sinn; die stille Wehmut; die ahnungsvolle, tiefe Melancholie« – als Mitte der Bilder – – »das irdische Heimweh; die unerklärliche Rührung ...«77; so setzt es lange noch mit stets frischen Variationen sich fort. Barocke Grausamkeit eignet Kierkegaard in den Diapsalmen vom Zauberer Vigilius und vom Ofen des Phalaris, in der Darstellung des schizophrenen Periander, aber auch im Charakter der Leidensgeschichte, deren Namen nicht umsonst die Passion zitiert; hier wird Schwermut als spiritueller Leib des Selbst qualvoll in ihre Affektregungen als ihre Glieder aufgeteilt. Der einzige Schauplatz, den außer dem Intérieur Kierkegaards Philosophie annimmt – die Straße des Flaneurs verkürzt sich im Spiegel bis zur Unkenntlichkeit – ist das barocke Totenfeld. »Alles schläft; nur die Toten steigen jetzt aus ihren Gräbern und leben wieder auf. Aber ich / ich bin ja nicht tot, kann also nicht wiederaufleben; und wenn ich tot wäre, könnte ich auch nicht wiederaufleben /ich habe ja nie gelebt ...«78 Oder geradezu wie ein barocker Aktbeginn, möglicherweise absichtliche Stilkopie bis in die Details der Sprachform: »Des Aussätzigen Monolog. Ein Gräberfeld; Tagesanbruch. Simon Leprosus sitzt auf einem Leichenstein; er ist eingeschlummert, fährt auf und ruft: Simon! ... ›Ja!‹ ... Simon! ... ›Ja, wer ruft?‹ ... Wo bist du, Simon? ... ›Hier; mit wem sprichst du denn?‹ ... Mit dir, Simon! Du Unflat! Du Pest! Du Ekel! Weiche weg von mir! Fliehe davon, wohin du gehörst, zu den Toten! ... Warum bin ich der einzige, der nicht so mit mir reden kann?«79 All diese Züge, in ihrer Kontinuität kaum wohl gewürdigt, umgeben das Bild der Melancholie, der Versunkenen und der Geleitenden. Der Nachweis literarischer Abhängigkeit führt nicht weit. Von Lohenstein und Gryphius hat Kierkegaard gewiß nichts gewußt, und selbst ob er Calderon kannte, scheint fraglich, da er bei der Verwandtschaft der Intentionen in seiner – selber barocken – Freude an Bildungsstoff sonst fraglos auf diesen sich berufen hätte. Zudem hat Kierkegaard die konventionelle Argumentation wider die Allegorie sich zu eigen gemacht. Das zeigt ein kritischer Exkurs zum Text der ›Zauberflöte‹: »Die Repliken, die wir entweder Schikaneder oder seinen Bearbeitern verdanken, sind so wahnwitzig und dumm, daß es fast unbegreiflich ist, wie Mozart aus ihnen herausbringen konnte was er gegeben hat. Daß Papageno von sich selbst sagt: ich bin ein Naturmensch, womit er sich im Augenblick Lügen straft, mag als Exempel instar omnium gelten.«80 Aber Papageno, von Kierkegaard gleich dem Pagen »mythisch« genannt, ist eine allegorische Figur für den Begriff unverderbter Natur im Aufklärungssinne, und der inkriminierte Satz ist nicht sowohl mißglückter Ausdruck einer individuellen Seele als vielmehr die deutende Unterschrift unterm Bilde des federgeschmückten Vogelfängers, wie sie sich als Rudiment im »Entrélied« der Operetten bis zur Gegenwart erhielt. Kierkegaard hat die Tiefe der Allegorie nicht theoretisch reflektiert. Um so größer ist ihre Macht anzuschlagen in einem Werke, das aus den verborgensten Impulsen die gleiche Intention durchgehends zeigt, die es nach den Kategorien der idealistischen Ästhetik verdammen müßte, welche es der manifesten Lehrmeinung nach vertritt. Diese Macht muß im Zentrum der Kierkegaardschen Philosophie wohnen. Wenn sie, ohne Plan und ohne eindringenderes Wissen von der zuständigen Literatur, nicht nur allegorische Bedeutungsformen, sondern allegorische Sachgehalte bis hinab zur Konkretion der Personennamen hervortreibt, so mag das beweisen, daß die wahren Beziehungen zwischen den geschichtlich auftretenden Philosophien niemals von »Denkstrukturen« und Kategorien, sondern stets von pragmatischen Elementen gestiftet sind, die urbildlich den begrifflichen Ausprägungen zum Grunde dienen und wieder aufspringen, sobald die objektive Konstellation des Denkens sie herbeizieht, mag es nun in der philosophischen Absicht gelegen sein oder nicht. Kierkegaards Barock ist der geistesgeschichtlichen Genesis nach anachronistisch, historisch aber unterm Gesetz mythischer Innerlichkeit, deren Labyrinth der »Einzelne« durchmißt und die an ihren geschichtlich-natürlichen Bildern untrennbar haftet. Sie beschwört durch Schwermut den Schein der Wahrheit, bis sie selber als Schein durchsichtig – vernichtet zugleich und gerettet wird; sie beschwört Bilder und diese liegen als Rätselfiguren in Geschichte für sie bereit. Nicht umsonst rechnen sie sämtlich der Region einer vergangenen ästhetischen Bildlichkeit zu. Auf deren Topographie aber zielen, als auf ihre Einheit, alle die disparaten Bestimmungen, die Kierkegaard mit dem Namen des Ästhetischen bedenkt.
»Mein Kummer ist meine Ritterburg; sie liegt wie ein Adlerhorst auf der Spitze eines Berges und ragt hoch in die Wolken. Niemand kann sie stürmen. Von diesem Wohnsitz fliege ich hinunter in die Wirklichkeit und ergreife meine Beute. Aber ich halte mich unten nicht auf; ich trage sie heim auf mein Schloß. Was ich erbeute, sind Bilder; die wirke ich in eine Tapete und bekleide damit die Wände meiner Zimmer. So lebe ich wie ein Abgeschiedener. An jedem Erlebnis vollziehe ich die Taufe der Vergessenheit und weihe es der Ewigkeit der Erinnerung. Alles Endliche und Zufällige wird abgestreift und vergessen. Da sitze ich, gedankenvoll, ein alter grauhaariger Mann, und erkläre mit leiser, fast flüsternder Stimme Bild um Bild; und neben mir sitzt ein Kind und lauscht meinen Worten, obwohl es längst alles weiß, was ich zu erzählen habe.«81 Wenn diese Definition des Ästhetischen, bildlich selber und doch die genaueste, die Kierkegaard gegeben hat, den mythischen Bild-Gehalt seiner Philosophie aus einer ästhetischen Weltansicht ableiten will, so wäre besser der Ursprung dessen, was ihm ästhetisch heißt, im mythischen Grunde aufzusuchen. Wohl beschwört Innerlichkeit die Bilder, aber sie gehen nicht auf in ihr, und nichts verrät das mythische Wesen seiner absoluten Spiritualität genauer als der Bildcharakter ihrer »Beute«. Was Kierkegaard kritisch an den modernen Umdeutungen der Idee des Tragischen erkannte, gilt für seinen eigenen Begriff von ästhetischer Innerlichkeit: »Wenn daher unsere Zeit darauf ausgeht, in der Tragödie alles Schicksalsschwangere in Individualität und Subjektivität zu transsubstantiieren, so hat sie das Wesen des Tragischen sicherlich mißverstanden.«82 Nicht anders mißversteht Kierkegaards Lehre von der subjektiven ästhetischen Haltung deren mythischen Gehalt. Tragik, als ästhetische Kategorie, wird nach seiner eigenen Einsicht durch Schicksal bestimmt und erstellt das Gegenbild zu aller subjektiven Dynamik. So verhält es aber gerade auch sich mit den Gegenständen, die sein Begriff des Ästhetischen umfaßt. Darum wird ästhetisches Verhalten von ihm als das des Zuschauers mit tieferem Rechte definiert als es in seiner »ethischen« Sicht aufs Ästhetische liegt: »Und nun dein eigenes Leben: hat es seine Teleologie in sich selbst? Ich will jetzt nicht fragen, ob irgendwer das Recht hat, so nur den Zuschauer zu spielen. Gesetzt also, deines Lebens Bedeutung wäre, die Welt um dich her zu beobachten, so hättest du ja deine Teleologie außerhalb deiner selbst. Erst wenn dir jeder einzelne Mensch zugleich Moment ist und das Ganze, erst dann betrachtest du ihn nach seiner Schönheit; dann betrachtest du ihn aber ethisch, betrachtest ihn nach seiner Freiheit.«83 Denn als dem »Zuschauer« liegt der objektlosen Innerlichkeit Wahrheit gleich einem fremden und rätselhaften Schauspiel gegenüber, ob er ihrer auch durch Introspektion sich zu vergewissern sucht. Der Bruch, der Wahrheit von Innerlichkeit scheidet, welcher sie als Schein bloß erscheint, markiert auch ihre eigene Figur. Daher die brüchige Vieldeutigkeit des Terminus Ästhetisch bei Kierkegaard, daher die Diskontinuität des Ästhetischen selber, die er unterm »ethischen« Aspekt gewahrt: »Denn darüber könntest du ... keine Auskunft geben, weil du selbst in dem Ästhetischen befangen bist; das Wesen des Ästhetischen kann nur erklären, wer selbst darüber steht, also wer ethisch lebt ... Wer ästhetisch lebt, kann von seinem eigenen Leben keine befriedigende Erklärung geben, weil er beständig nur im Moment lebt, also nur ein relatives, begrenztes Bewußtsein um sich selbst hat. ... Der Ästhetiker hat seinen ›Geist‹ nicht als freien Besitz: es fehlt ihm die Durchsichtigkeit. ... Du lebst immer nur im Moment; dein Leben zerfällt in zusammenhangslose Einzelerlebnisse, und es ist bei dir unmöglich, es zu erklären.«84 Mit dem historischen Sprung von innen und außen, dem Zerfall von »Totalität« aber prägt, als Diskontinuität, zugleich das mythische Wesen der ästhetischen Bilder sich aus. Ihr Bereich ist vieldeutig und kennt so wenig die scharfe Abhebung des Einzelnen wie den Zusammenhang des Ganzen. Es ist naturverfallen, ohne Treue, und zieht doch den Begegnenden in sich hinein: »Die Ästhetik ist die treuloseste aller Wissenschaften. Ein jeder, welcher sie recht geliebt hat, wird in gewissem Sinne unglücklich; aber der, welcher sie nie geliebt hat, er ist und bleibt ein pecus.«85 Das macht noch die befremdliche Gefahr des »Dichters« im ›Augenblick‹ aus: »Eben darum ist der Dichter, geistlich betrachtet, der Allergefährlichste, weil der Mensch vor allen den Dichter liebt. – Und der Mensch liebt den Dichter darum vor allen, weil er ihm der Allergefährlichste ist. Denn das gehört ja oft mit zu einer Krankheit, daß der Kranke just das am heftigsten begehrt, am meisten liebt, was ihm am schädlichsten ist. Geistlich betrachtet ist aber der Mensch in seinem natürlichen Zustand krank; er ist in einem Irrtum, einer Selbsttäuschung befangen, will daher am allerliebsten betrogen werden, um nicht allein in dem Irrtum zu verbleiben, sondern in der Selbsttäuschung sich auch recht wohl fühlen zu dürfen.«86 Der Dichter als der bloß natürliche Mensch: so erkennt absolute Spiritualität ihren mythischen Ursprung. Die Paradoxie kommt in Kierkegaards Entwurf des Ästhetischen klar zutage; wohl ist »das Ästhetische« die Sphäre bloßer Unmittelbarkeit; soll aber dialektisch sein in sich selber und zu eben jener Entscheidung führen, die bloß ästhetischem Leben abgesprochen wird: »Das Ästhetische ist das im Menschen, wodurch er unmittelbar der ist, der er ist. Das Ethische ist das, wodurch der Mensch wird, der er wird. ... Wer nun den ästhetischen Ernst hat, von dem du so oft sprichst, und etwas Erfahrung vom Leben, der sieht leicht, daß nicht alles zugleich gedeihen kann; er wird also eine Wahl treffen, und was seine Wahl bestimmt, das ist ein Mehr oder Weniger, also eine relative Differenz.«87 Die Dialektik, die hier entspringt, hat Kierkegaard gelegentlich als Schema seines gesamten schriftstellerischen Planes in Anspruch genommen: »Diese Bewegung vom ›Dichter‹ zur religiösen Existenz ist im Grunde die Bewegung in der ganzen Schriftstellerei, als Totalität betrachtet; man vgl. in ›Leben und Walten der Liebe‹ den Gebrauch, der dort wieder vom ›Dichter‹ gemacht ist: er ist terminus a quo für die christlich-religiöse Existenz. Die Bewegung vom Philosophischen, Systematischen zum Einfältigen, d.h. zu dem Existenziellen, wie sie in einer Reihe von Schriften beschrieben wird, ist wesentlich dieselbe wie die vom Dichter zur religiösen Existenz, nur in einer andern Beziehung aufgefaßt.«88 – Als dialektisches »Stadium« wird damit freilich der Begriff des Ästhetischen in bestimmten Gegensatz gerückt zu »Existenz«. Ästhetisch sind für Kierkegaard die objektiven Bilder und subjektiven Verhaltensweisen, deren mythischer Scheincharakter in seinem eigenen philosophischen Entwurf enthüllt ist. Die Einsicht in den mythischen Ursprung gilt aber in seiner Philosophie nicht für die Gestalt der objektiven Innerlichkeit selber. Darum trifft der Bann des »Ästhetischen« bei ihm wohl die Trümmer der unmittelbaren Außenwelt, die als zufällig von der Innerlichkeit abgesprengt ist; wohl auch die Trümmer eines transsubjektiven »Sinnes«, den er als romantischen Trug der Metaphysik abwehrt; nicht aber die Bewegungen der scheinhaften Inwendigkeit, die denn auch in der ›Leidensgeschichte‹ bruchlos als Bewegungen hin zu positiver Religiosität angesprochen werden. Das legt die zentrale Antinomie in seinem Begriff des Ästhetischen frei. Wo seine Philosophie, im Selbstbewußtsein ihres mythischen Scheins, »ästhetische« Bestimmungen trifft, kommt sie der Realität am nächsten: der eigenen des Standes objektloser Innerlichkeit ebensowohl wie der der fremden Dinge ihr gegenüber. Nirgends ist von Kierkegaard die gesellschaftliche Wirklichkeit in schärferen Konturen gesehen als in einem »ästhetischen« Diapsalm, das er anstatt nach den Gegenständen, die es anzeigt, nach der »Haltung« mißt und darum, verwerfend, unter die Fragmente des Scheins einreiht, während es nicht sowohl unentschiedenem Bewußtsein entstammt als vielmehr den Schein des Zustandes selber festhält: »Was ist denn überhaupt die Bedeutung dieses Lebens? Die Menschen zerfallen in zwei große Klassen: die einen müssen arbeiten um zu leben, die anderen haben das nicht nötig. Aber die Bedeutung des Lebens kann nicht darin liegen, daß man arbeitet um zu leben. Das wäre ja ein Widerspruch, denn das hieße, daß die Produktion der Bedingungen die Antwort sein soll auf die Frage nach der Bedeutung des Bedingten. Das Leben der übrigen hat keine andere Bedeutung als die: die Bedingungen zu verzehren. Sagt man, daß im Sterben die Bedeutung des Lebens liege, so scheint das abermals ein Widerspruch zu sein.«89 Wo aber seine Philosophie im Namen von Existenz den Stand objektloser Innerlichkeit und mythischer Beschwörung als substantielle Wirklichkeit versteht, verfällt sie dem Schein, den sie in der Tiefe der Versenkung leugnet. Schein, der in der Ferne der Bilder dem Denken als Gestirn der Versöhnung strahlt: im Abgrund der Innerlichkeit brennt er als verzehrendes Feuer. Hier wäre er aufzusuchen und zu benennen, soll dort der Erkenntnis seine Hoffnung nicht verloren gehen.