Anton von Webern

Im Gespräch sagte Alban Berg einmal, die Zeit Anton Weberns sei erst in hundert Jahren gekommen; dann werde man seine Musik spielen, wie man heute Gedichte von Novalis und Hölderlin lese. Nichts könnte genauer die Art Weberns als die extreme von Lyrik charakterisieren, welche von ihrer Prägung derart in sich verschlossen wird, daß sie erst in der Zeit und nicht im bloßen Augenblick des Erklingens sich entfaltet. Nichts aber könnte auch schärfer die Situation bezeichnen, in der Weberns Werk heute sich befindet: gegenwärtig zugleich und der Entfaltung in der Zeit bedürftig. Die Isoliertheit seiner Musik ist weder Schicksal bloßer Vereinzelung und privater Selbstgenügsamkeit, noch ist sie durch Aufklärung und Hörgewohnheit beliebig korrigierbar. Vielmehr: weil mehr als jegliche andere Kunst extreme Lyrik der Zeit bedarf, sich zu erschließen, darum tritt sie allemal notwendig als unzeitig auf; dicht gehüllt in die Keimblätter von Fremdheit und Unverständlichkeit, die das zu frühe Licht von ihr fernhalten, um ihr inwendiges Wachstum nicht zu gefährden. Man kann getrost sich vorstellen, wie Hölderlins späte Hymnen vor den Zeitgenossen sich zurückzogen. So zieht Weberns Musik vor uns sich zurück; sie sticht in die Hand, die zu eilig danach tastet. Ich weiß, wie Deutungsversuche, die ich vordem unternahm, von ihr abprallten. Man muß ihr mit der gleichen Behutsamkeit nahen, mit der sie sich selber schützt. Kaum wird mehr zu ihrem Wachstum – und das Wachstum einer Kunst ist nichts anderes als das Verständnis, das in der Zeit ihr erwächst – beizutragen sein, als sie fleißig dem Hören anzuvertrauen und die Hülle zu lockern; die Mißdeutungen zu benennen, denen sie notwendig verfällt, weil sie zum Schutze ihrer Entfaltung sie selber hervorruft.

Von drei solchen Mißdeutungen darf ich reden. Sie mögen die der Unselbständigkeit, der destruktiven Zerrissenheit und der monologisch überfeinerten, spätromantischen Einsamkeit heißen. Die drei Einwände umstellen Weberns Musik, halten den Hörer fern von ihm, wiederholen sich mit der leeren Hartnäckigkeit der bannenden Formel; und alle drei halten der Erkenntnis nicht stand.

Der erste, der der Unselbständigkeit, gilt dem Verhältnis Weberns zu Schönberg. Dem Auge, das in der Breite des gegenwärtigen Musiklebens die Partiturbilder von Strawinsky und Bartók, von Hindemith und Krenek sinnfällig unterschieden erblickt, dünken die Partiturbilder Schönbergs und Weberns ähnlich, in manchen Phasen, wie der von Schönbergs kleinen Klavierstücken oder den Herzgewächsen und der Webernschen Opera etwa von fünf bis zehn verwechselbar geradezu; ebenso musikalische Diktion, Klang und Harmonik beim unmittelbaren Hören. Daß darum der Schüler Webern der Unselbständigkeit gegenüber dem Meister Schönberg bezichtigt wird, versteht sich. Er erscheint als einer, der eifernd und im kleinen Konsequenzen zieht, während der Große von Entwurf zu Entwurf weiterschreitet. Aber im Begriff der Konsequenz, der hier auftritt und überall, wo man Webern hochmütig den Respekt bewilligt, ist zugleich der Maßstab der Unterscheidung angelegt. Zunächst verwehrt er es, die verschiedenen kompositorischen Stile von heute gleichsam räumlich nebeneinander zu stellen und nur den Komponisten Selbständigkeit zuzubilligen, die einen »eigenen Stil« besitzen wie andere Protagonisten. Denn Schönbergs Stil ist keine bloße individuelle Verfahrungsweise, sondern ein Zusammenhang kompositorischer, technisch ermeßlicher Forderungen, die den zur Konsequenz – also zur selbständigen Ausbildung eines Stils, wie er als Muster bei Schönberg selber angelegt ist – zwingen, der einmal das Material handhabt, das ihm geschichtlich von Schönberg gegeben ward. Jede Selbständigkeit des Stils im faßbaren Oberflächenverstande wird sich im Sinn solcher Forderung technischer Konsequenz nicht mehr als solche, sondern vielmehr als Willkür und technisch erweislicher Fehler darstellen. Darum ist im Schönbergschen Bereich der Selbständigkeit nicht mehr mit so derben Kriterien nachzufragen, wie sie die anderen Komponisten der Zeit voneinander fernhalten. Dem Blick aber, der sich nicht mit dem rohen Umriß begnügt, sondern der Gefügtheit des Werkes in sich selber nachgeht, wird eine andere und bessere Selbständigkeit sich eröffnen, als die der einseitigen und konsequenzlosen Ausbildung isolierter kompositorischer Mittel es wäre. Nun steht gewiß Webern auch bei genauerer Sicht Schönberg näher als irgendein anderer. Aber näher eben durch Konsequenz: dadurch daß er strenger als alle anderen, unerbittlicher gegen das Gewesene zumal, dem nachgeht, was an Problem und Forderung hier aufsteigt. Zugleich aber ist es Konsequenz auch gerade, die ihn von Schönberg sondert. Während dieser – so etwa darf das Verhältnis umschrieben werden – in jedem Werk einen Zusammenhang von Problemen auskristallisiert, die im folgenden Werk zugleich gelöst und aufgehoben werden, so daß jedes Werk Schönbergs einen Gegenschlag gegen das vorhergehende und die Formulierung eines gänzlich neuen musikalischen Problemzusammenhanges bedeutet, treibt Webern Zug um Zug, und ohne Umbruch ins Neue, das Bild einer Musik heraus, wie sie bereits im tonalitätsfreien Ausgangsmaterial Schönbergs für Webern als Idee angelegt war. Bei ihm ist Konsequenz in der Realisierung dieses Bildes das gleiche, was bei anderen Entwicklung heißt. Webern kennt Entwicklung bloß als Entfaltung einer unverrückt gegenwärtigen, im Beginn gesetzten und bewußten Idee, nicht in Problem und Gehalt selbst. Ziel seiner Musik ist einzig und unausweichlich der lyrische Augenblick, in dem die Zeit sich drängt und verschwindet: darum ist sie entwicklungslos, im Gang von Werk zu Werk nicht anders als im Einzelwerk. Der losgelöste, unverstellte, rein kreatürliche Laut: das ist die Idee seiner Musik, und ihre Konsequenz will nichts anderes, als bis zu ihm hinabdringen und alle Form versinken lassen in ihm, unterm Zwang seines eigenen Formgesetzes. Nicht umsonst teilen sich in seiner Setzweise die instrumentalen Phrasen unterm Gebot des unerbittlich differenzierenden Gehörs solange, bis von Instrument zu Instrument nichts übrig bleibt als der einzelne Ton. Subtilität und konstruktive Gewalt seiner Musik dienen bloß dazu, die kreatürliche Ursprungsmacht des bloßen Lautes, des einzelnen Tones wiederherzustellen. Erst wenn er verhallt – »verlöschend« ist eine seiner liebsten Vortragsbezeichnungen –, findet die Kreatur, ihres Machtanspruches entkleidet, ihren Trost als vergehende. Darum ist Georg Trakl der wahrhaft gemäße Dichter Weberns und in den Trakl-Liedern hat er seinen Gegenstand gefunden. Dies ist der tiefe und fruchtbare Widerspruch Weberns: die äußerste Kunst der kompositorischen Technik, das wachste kritische Bewußtsein, die bewußteste Formdisziplin dienen allein dazu, die Musik aller vorgegebenen Regel, aller willkürlichgeistgesetzten Bindung, aller Architektur und Symmetrie zu berauben, bis sie wahrhaft klingt wie der Gesang einer gefangenen Amsel. Bei ihm will nicht Natur sich vergeistigen – am Ende seines Weges wird der Geist selber als kreatürlich, als Natur offenbar. Aber erst am Ende des Weges und nicht im Rückgriff aufs Vergangene. Dann antwortet ihm Trost: »Strahlender Arme Erbarmen / umfängt ein brechendes Herz.«

Es ist damit bereits dem zweiten Einwand begegnet, dem der destruktiven Zerrissenheit. Er kehrt sich gegen die Kürze der Webernschen Stücke ebenso wie gegen ihre Struktur. Gern wird die Kürze der Kurzatmigkeit gleichgesetzt. Aber wie Weberns op. 1, die Passacaglia, die Fähigkeit ausholender Gestaltung erweist, so bewährt sie sich auch im Inneren der Miniaturen, in welchen später bis hinauf zur Symphonie seine Musik sich ausspricht. Der Weg zum reinen Ton, zum Laut durchs Geäst der vielfältigsten musikalischen Sprache wird geleitet vom Ausdruck. Subjektive Beseeltheit durchdringt seine Musik gänzlich und verwehrt jede musikalische Konstellation, die nicht in Beseeltheit sich löste. »Ein Glück durch ein einziges Aufatmen auszudrücken«: das hat Schönberg als Intention von Weberns Musik bezeichnet, und sein Ausspruch wäre zu ergänzen damit, daß nur im Aufatmen, nicht aber in ihrer tektonischen, innerzeitlichen Geformtheit Musik Glück, und mehr noch als Glück: Trauer ausdrücken könne. Der Ausdruck zieht die Musik zur Geste zusammen und staut sie im Ton, bis der nun ausdruckslos, als reiner Laut übrig bleibt. Das ist das Schema der Webernschen Verfahrungsweise und der Grund seiner Kürze zugleich. Seine Form aber ist bloß noch der Widerstand, den Musik sich setzt, um an ihm sich zu verkleinern, zu verschwinden: nie vermöchte sie anders als im gefügten Körper der Form zum beseelten Atem sich zu wandeln. Sie kennt keine Zeit in sich und keine zeitliche Vermittlung, keinen Übergang; sie ist gleichsam simultan und erst in die Zeit transponiert; sie komponiert sich darum technisch nie in Entwicklungen, nie kennt sie Wiederholungen und nie deren Korrelat, das wiederholbare Thema. Sie fügt sich aus Kontrasten wie eine Landschaft oder wie das ungebundene Lied eines Vogels. Die Aufgabe, die sie dem Ohr stellt, ist nicht, Entwicklungen zu verfolgen oder die Wiederkehr des Gleichen zu erkennen, sondern über den Abgrund des Schweigens hinweg die Laute zur Einheit zu binden, in welcher sie erst, als Laute, ihren wahren Ausdruck gewinnen. Nur nach dem Maßstab einer dynamischen Musik erscheint sie zerrissen, dem sie nicht untersteht. Sie steigert nicht: im Wechsel von Atmen und eingehaltenem Atem entwirft sie das Bild des Lebendigen.

An der Stelle, wo Schönberg das Gleichnis des Atmens für Weberns Musik findet, fügt er hinzu: nur wo Wehleidigkeit fehle, sei solche Konzentration möglich. Weberns Ausdruck liegt in der Gebärde des Verstummens, nicht im Reden; auch Trauer verschmäht bei ihm den Trost vertrauender Mitteilung. Das allein sollte genügen, ihn vor dem Vorwurf spätromantischer Artistik und privater Ausdruckssprache zu verteidigen. Denn der Private drückt sich aus, indem er redet; der Ausdruck des Verlöschens aber kommt der Natur zu. Nirgends ließe sich für Weberns Ausdruck ein psychologisches Korrelat finden: eine Seelenregung, die ausgedrückt wäre. Sondern das Laut Werden, das klangliche Erscheinen selber ist der Ausdruck: das kreatürliche Wesen drückt sich aus, indem es den Laut findet. Wollte man selbst den Weg, der in solchen Ausdruck mündet, als den einsamer Subjektivität betrachten: es wäre leichtsinnig, was an solchem Weg liegt, als private Subjektivität abzufertigen. Man hat mir als »logischen Widerspruch« vorgeworfen, daß ich »vom Kollektiv« spreche, »und gleichzeitig die Kluft zwischen dem, was ich leidenschaftlich« propagiere, »und dem, was der Gemeinschaft wert zu sein vermag, wissentlich« übersehe. Aber der Widerspruch ist kein logischer, sondern ein realer in den Sachen. Wenn anders Musik die Spur zukünftiger Gemeinschaft in sich enthält, deren Gesetze in ihren eigenen vorweg erscheinen, dann ist die Gemeinschaft, so wie sie heute ist, nicht die Instanz, über sie zu entscheiden. Der Künstler dient aber der kommenden Gemeinschaft, indem er nach den Forderungen seines Gegenstandes den Entwurf des Zukünftigen hervortreibt, der in den Forderungen des Gegenstandes enthalten ist. Darum kann es leicht geschehen, daß einer, der ohne Rücksicht, also heut und hier einsam am Material arbeitet, einer wahren Kollektivität besser dient als einer, der dem Anspruch des gerade Bestehenden sich unterwirft und darüber, trotz kollektiven Scheins, die gesellschaftliche Forderung vergißt, wie sie an ihrem eigentlichen ästhetischen Ort, nämlich dem Werk und seinen Problemen, an ihn ergeht. Für die Möglichkeit einsamer Kollektivität von Musik gibt Webern das äußerste und überzeugende Beispiel. Überzeugend, weil im Gehorsam unter die technischen Forderungen, ohne nur auf die Gesellschaft hinzublicken, seine Musik selber eine zweite Einfachheit aus sich produziert. Soweit bei ihm von Entwicklung die Rede sein kann, ist es die Entwicklung solcher Einfachheit. Schon im op. 12 hat er es vermocht, den Text eines Volkslieds ohne romantische Attitude zu komponieren. Die Auflösung des musikalischen Materials in fortschreitender Differenzierung läßt dessen Elemente sichtbar werden: im bloßen Ton neigt Musik sich in ihren Ursprung. Indem der Kontrapunkt so dicht sich schürzt, daß er bloß noch die Töne gegeneinander tupft, endet er als Kontrapunkt: im ersten Satz der Symphonie mit seinen kanonischen Verschlingungen treten deren isolierte Töne zum Melos zusammen. Er übernimmt Schönbergs Zwölftontechnik, indem er die Reihen derart in kleinste Untergestalten teilt, bis Modelle von sechs oder gar bloß drei Tönen der ganzen Reihe zugrunde liegen, so daß noch in der reichsten Kompositionsweise der bloße Ton arm und bedeutend hervortritt. Damit macht die geistigste Durchdringung des Materials so primitive Ereignisse möglich wie die starren Wiederholungen der fünften Variation aus dem zweiten Satz der Symphonie. Der Klang der Harfe aber, die in stets anderer Folge ihre vier ergänzenden Töne zu den acht beharrlichen der Streicher gibt, verwandelt hier sich ins uralte Herdengeläut: den letzten beseelten Ton in den Bergen.

1932