Vorrede
Die Erwägungen, die in den ›Dissonanzen‹ und den Essays ›Die Meisterschaft des Maestro‹ und ›Neue Musik, Interpretation, Publikum‹ aus den ›Klangfiguren‹ angestellt waren, werden im ›Getreuen Korrepetitor‹ zur musikalischen Praxis hin weitergetrieben. Versucht ist, aus der Einsicht in manche Nöte des gegenwärtigen Interpretierens wie der Rezeption fortzuschreiten zur Erkenntnis, wie neue Musik richtig zu hören und richtig darzustellen, wie die neuen technischen Medien richtig zu verwenden wären. Das geschieht nicht systematisch von oben her sondern an den konkreten Schwierigkeiten, welche die Gegenstände bereiten, ähnlich vielleicht dem, was die zeitgenössische Pädagogik als exemplarisches Lernen diskutiert.
In der Theorie selbst, für die der Autor steht, liegt der Übergang in mögliche Praxis; freilich nicht derart, daß dieser die Theorie sich zu fügen hätte. Gerade durch unverwässerte Konsequenz terminiert sie in Anweisungen; zugleich zehrt sie von Erfahrungen, die anders als in Praxis nicht zu gewinnen wären. Tatsächlich sind die Interpretationsanalysen neuer Musik allesamt Niederschriften dessen, was die Arbeit an jenen Stücken mit Interpreten bestimmte und wiederum in dieser Arbeit erst bewußt ward. Doch hätte der Autor sich selbst unterdrücken müssen, wenn er dem didaktischen Charakter des Buches zuliebe die Reflexion ausgeschlossen hätte.
Ausgang ist die Kritik falschen musikalischen Bewußtseins, wie es falsches Hören zeitigt. Das Material dazu geht zurück auf die amerikanische Zeit des Autors: Paul F. Lazarsfeld, der das Princeton Radio Research Project leitete, ist dafür zu danken, daß er dem Autor dessen damals unveröffentlichte Studie über die NBC Music Appreciation Hour freigab. Die Negation musikalischer Würdigung schlägt um in den Entwurf einer Idee strukturellen Hörens. Ihr Begriff und seine vollen Implikationen waren vom Autor längst entwickelt und öffentlich vorgetragen, ehe Hinweise auf das Werk ›Strukturelles Hören‹ von Felix Salzer folgten; die Konzeptionen sind gänzlich unabhängig voneinander. Daß zwei Schriftsteller, ohne voneinander zu wissen, denselben Terminus wählten, erinnert wohl an eine Nötigung in der Sache.
Die Anweisungen zum Hören neuer Musik ebenso wie die meisten Interpretationsanalysen sind aus Sendungen für den Norddeutschen Rundfunk entstanden; einige der Analysen stammen aus Vorträgen an der Frankfurter Hochschule für Musik. Wie in der griechischen Überlieferung der Unterschied esoterischer und exoterischer Schriften mit der vorab an der Sache und vorab an der Lehre orientierten Darstellung zusammenfiel, so hält der Autor die Gattungen auseinander. Weder hat er die Spuren der Vortragsform getilgt, noch versucht, die Sprache der des rein Geschriebenen gleichzumachen. Zu seinen Versuchen wäre es nicht gekommen, hätte nicht Rolf Liebermann als Leiter der Hauptabteilung Musik des NDR ihm carte blanche gegeben. Winfried Zillig ließ ihn seine vom Etablierten sehr abweichende Arbeit fortsetzen. Beiden weiß er sich tief verpflichtet. – ›Die gewürdigte Musik‹ wurde vom Süddeutschen, die Radiotheorie vom Westdeutschen Rundfunk übertragen.
Dem Kapitel mit den Höranweisungen sollte eine Schallplatte beigefügt werden, welche die Belegstellen vereint. Der Plan ließ sich nicht durchführen. Technisch wäre er allenfalls zu realisieren gewesen, im Weg jedoch standen ihm die urheberrechtlichen Bestimmungen. Der Autor mußte darum mit dem konventionelleren Behelfsmittel von Notenbeispielen sich zufriedengeben, die den Satzspiegel stören, ohne das lebendige Klangbild der Musik zu gewähren, dessen es hier gerade bedürfte. Wer sich die Beispiele nicht angemessen vorstellen oder sie auf dem Klavier spielen kann, dem ist zu raten, Platten der betreffenden Stücke sich zu verschaffen, so problematisch auch die meisten sein mögen.
Für die auf die Anweisungen folgenden Interpretationsanalysen wurden Werke ausgewählt, deren Besetzung sie dem privaten Studium ohne größeren Ensembleapparat einigermaßen zugänglich macht. Eine Ausnahme ist das Violinkonzert von Berg; an ihm aber läßt nach dem Klavierauszug ganz gut sich arbeiten, obwohl der Solist genauer Kenntnis der Orchesterpartitur bedarf. Auf gedruckte Beispiele ist in den Analysen weitgehend verzichtet, da ihr Verständnis jeweils den Gesamttext der Werke, nicht bloß Passagen voraussetzt. Die von Webern sind allesamt bei der Universal Edition erschienen, ebenso das Bergkonzert; die Schönbergphantasie bei Peters. Die Reihenfolge der Analysen richtet sich nicht nach der Chronologie der Werke, sondern nach den didaktischen Erfahrungen des Autors. Mit Bedacht übrigens widerstand er der Versuchung, ein Kapitel über das heute meistgespielte Stück von Webern, die Klaviervariationen, zu schreiben. Ihre aufs äußerste reduzierte Kompositionsweise, asketisch gegen virtuose Ansprüche, verleitet viele Interpreten dazu, damit sich einzulassen und als an neuer Musik interessiert sich vorzustellen, die einem Gebilde keineswegs gewachsen sind, das seinen Sinn mehr noch an dem hat, was es wegläßt, als an dem, was es enthält. Verständnislose Betriebsamkeit sollte nicht ermutigt werden. An Weberns Variationen dürfte wohl überhaupt nur sich heranwagen, wer mit dem oeuvre der gesamten Wiener Schule, vor allem auch mit sämtlichen Klavierstücken Schönbergs gänzlich vertraut ist. Verzichtet wurde aber auch auf Interpretationsanalysen von Kompositionen der jüngsten Phase. Vielleicht wäre es nicht die schlechteste Charakteristik der Entwicklung nach 1945, daß ihre Produkte, auch wo sie in definitiven, eindeutigen Notentexten vorliegen, nicht mehr ohne weiteres nach den Kategorien gehört und interpretiert werden können, welche die Analysen verwenden. Diese wurzeln im Bereich motivischthematischen Denkens selbst dort noch, wo, wie in Weberns op. 9, athematisch komponiert ist. Das Bewußtsein dieser Differenz kommt wohl auch dem Jüngsten zugute: es läßt nur dann adäquat sich wiedergeben, wenn man eine genaue Vorstellung von den Normen des Interpretierens hat, die außer Aktion gesetzt werden.
Insofern sind die Analysen traditionell, nach dem Maß der Wiener Schule, von freier Atonalität und Zwölftontechnik, die, wie man weiß, ineinander übergehen. Die Beschränkung gehorcht einer Absicht. Gerade bei der bis vor kurzem als Zerstörerin der Tradition gescholtenen Musik des Schönbergkreises bedarf es der Tradition; um Webern richtig aufzuführen, bei dem der Primat des musikalischen Sinns ungebrochen noch in den aufgelöstesten Strukturen herrscht, muß man nicht nur deutend in die Texte sich versenken, sondern auch, lax gesprochen, wissen, wie diese Musik geht. Dazu mag etwas beitragen, wer noch im Ohr hat, wie sie zu Lebzeiten der drei Meister probiert ward. Das Buch betrachtet es als eine seiner Funktionen, etwas von jener Überlieferung des Interpretierens zu bewahren, die im Begriff ist auszusterben und die eines Tages wiederum aktuell werden mag.
›Über die musikalische Verwendung des Radios‹ ist praktisch insofern, als die Abhandlung auf die sachgerechte Verwendung des wichtigsten musikalischen Massenmediums sich bezieht. Zugleich lenkt sie auf theoretische Motive zurück und zieht die gesellschaftliche Dimension der musikalischen Praxis herein. Dadurch schließt sie mit dem ersten Kapitel sich zusammen, geht jedoch über zu Tendenzen der gegenwärtigen kompositorischen Situation. Die kritischen Fragestellungen ebenso wie die Analysen des Radiophänomens stammen aus einer amerikanischen Studie des Verfassers, die unter dem Titel ›The Radio Symphony‹, ebenfalls als Ergebnis des Princeton Radio Research Project, in dem Band ›Radio Research 1941‹ in New York publiziert wurde. Das Problem der Unangemessenheit von Musik an den Bildcharakter des Radios war dort bereits entfaltet.