Neue Oper und Publikum
Die neue Oper hat bis heute weniger noch ihr Publikum gefunden als die andere neue Musik. Ist dieser zunächst Einsamkeit vorgeschrieben durch ein Formgesetz, das aus ihren materialen Bedingungen unabweislich aufsteigt und ihr um der eigenen Stimmigkeit willen die Verwendung aller Mittel verwehrt, die den Hörenden und ihr selber gleichermaßen vorgegeben wären, in deren Geltungsbereich sie sich umstandslos begreifen könnten – so wird die Isolierung der neuen Oper verdichtet durch die spezifische Art ihres Publikums selber. Es ist nicht das gleiche, das aktuelle Ausstellungen und Konzerte besucht. Die Oper, ehmals feudales Privileg und höfisches Prunkstück, ist im neunzehnten Jahrhundert ans Bürgertum übergegangen, ohne den Charakter der schmückenden Repräsentation je einzubüßen. Sie ist niemals als Gebilde mit eigenem Recht und eigener Forderung von den Hörern anerkannt worden; in ihr feierte vielmehr das siegreiche Bürgertum sich selbst und genoß sich selbst. Die Wagnersche Reform hat das nur scheinbar geändert. Wie ihre Gehalte allesamt dem bürgerlichen Denkkreis entstammen, so bewahrt sie bis zum Parsifal Pomp und Zeremonial einer Darstellung, die die Hörerschaft in den Vorstellungen ihrer eigenen Macht und ihres eigenen Reichtums bestätigt. Daran mochte sie sich denn halten, und Richard Strauss, bislang der letzte, der ernsthafte künstlerische Intentionen in Übereinstimmung mit breitem Erfolg zu bringen wußte, hat vollends den Charakter der Oper als eines bürgerlichen Zeremonials ausgedrückt, indem er die drohende pessimistische Metaphysik aufgab und dafür dem bürgerlichen Leben ein stilisiertes Bild des feudalen als wünschenswert und nachahmbar vorhielt. Im Haushalt des bürgerlichen Kollektivs spielte die Oper die gleiche Rolle, wie in dem des Privaten das mächtige geschnitzte Buffet; Strauss hat dem die Jugendstilvariante hinzugefügt. – Die Gesellschaft, von deren Licht im neunzehnten Jahrhundert die Opernkuppel strahlte, hält an der Oper fest in einer Situation, in der sie solches Licht nicht mehr zu vergeben hat. Während ihre fortgeschrittenste und wirtschaftlich stärkste – trust-kapitalistische – Schicht den dekorativen Individualismus von Opernaktion und Operngefühl hinter sich läßt; während die Intellektuellen sich emanzipieren und ihr Interesse allenfalls einer Oper gilt, die mit der bürgerlichen nichts gemein hat, bleibt ihr Raum den numerisch geminderten und in sich geschwächten Resten einer sicheren mittleren Bourgeoisie überlassen, die das Vergangene betrauert und am letzten geneigt ist, eine Kunstform, die ihr Privileg war, den radikalen Veränderungen unterwerfen zu lassen, die der ästhetisch-immanenten Gestalt der Oper nach ebenso notwendig wurden, wie durch den Wechsel der gesellschaftlichen Schichtung. Sie erwirbt nicht, um zu besitzen, sie besitzt, um nicht zu verlieren und bleibt bei wenigen Werken, die übernommen sind und deren Umkreis sich nicht erweitern läßt. Es sind zumal Stücke aus der bürgerlichen Glanzzeit, die ihr lieb sind: der frühe Wagner, vom späten die Meistersinger, Carmen, ein paar Verdiopern – vor allem Aida –, Cavalleria, Bajazzo und die drei arrivierten Puccini-Werke, endlich der Rosenkavalier. Das ist eigentlich alles, und bei diesem wenigen sucht das Bewußtsein des Publikums so hilflos Schutz, daß es eine Erweiterung kaum zuläßt, selbst wenn es sich um Werke der Meister jener Opern handelt. Das Leben der älteren Oper, deren ästhetisches Gefüge dem Besitzdrang des Nachsingens und Anschauens nicht ebenso entgegenkommt, ist vollends problematisch: Fidelio und der faßliche Freischütz sind nachgerade wie Schiller an die Schuljugend übergegangen, bei der sie immer noch besser aufgehoben sind als bei den Mignon-Verehrern; einzig Mozart behauptet mit Zauberflöte und Don Juan seinen Ort, während der Differenziertheit des Figaro die Mignonverehrer sich nicht mehr gewachsen zeigen und vollends vor der gläsernen Konstruktion von Così fan tutte versagen. – In Repertoirevorstellungen herrscht im Publikum der Typus der Frau mit der ungenierten Mundart vor, die konstatiert, Aida sei halt immer noch eine schöne Oper, bereit, ihre Erkenntnis im Kränzchen mit Nachdruck zu vertreten. Man braucht ihr das nicht zu bestreiten, kann daran aber ermessen, wie die Chancen der neuen Oper beschaffen sein mögen bei einer Hörerschaft, die ganz noch diesseits des Problemkreises liegt, in dem die neue Musik sich ereignet, geschweige denn, daß sie in ihm zu entscheiden vermöchte. Ob Schönberg oder Hindemith oder Krenek, gilt ihr gleich; sie alle sind zunächst noch einer wie der andere Hersteller von Mißklängen zu überspannten Vorgängen, die honette Leute ärgern und bei denen sich keine Melodie finden läßt; es ist zu vermuten, daß die Sphäre der Indifferenz noch viel weiter reicht; daß eine spätromantische Avantguerre-Erscheinung wie Schreker, dem Publikum verwandter, als es ahnt, wegen einer gewissen handgreiflichen Undurchsichtigkeit der Faktur unter der gleichen Kategorie erscheint wie der letzte Strawinsky, ja, daß dieser vielleicht sogar vorgezogen wird, weil seine klassizistische Haltung Perspektiven ins Vertraute eröffnet, denen der Opernhörer wieder nicht anmerkt, wie fremd und schräg sie in Wahrheit gewählt sind. Fügt es sich aber, daß eine neue Musik, wie die Weills, auch dem Stammabonnenten als singbar sich darstellt, so ist sie ihm dafür nicht wohlgereimt genug und die Drastik der szenischen Vorgänge chokiert ihn ebenso wie eine Banalität, die sich zu geflissentlich unterstreicht, als daß er ihr so willig vertrauen möchte, wie der herzlichen und unabsichtlichen des Bajazzo.
Es hat keinen Sinn, die Tatsachen, die sozial eindeutig vorgezeichnet sind, zu verleugnen oder durch billiges Gerede von neuer Gemeinschaftskunst zu verdecken. Diese Gemeinschaftskunst ist illusionär aus mehr als einem Grunde. Einmal: weil die ›Verständlichkeit‹ neuer Musik allein um den Preis ihrer immanenten Konsequenz und Qualität hergestellt werden kann; dann, weil auch eine neue Musik, die zu Konzessionen sich bereit findet, keine Gemeinschaft erreicht; deshalb nämlich, weil es eine solche gar nicht gibt; weil sie in ihrer vermeintlichen Anpassung ans Kollektiv in Wahrheit nur den Ideologien bestimmter, meist bodenständig-reaktionärer Gruppen gehorcht. Gleichwohl besteht die neue Oper: nicht bloß, wie es die Phrase will, als ›Übergangserscheinung‹, sondern in ihren besten Stücken in sich selber legitimiert und auch sozial bekräftigt durch den gesellschaftlichen Erkenntnisstand, den sie anzeigt. Die Frankfurter Oper wird mit Wozzek und Mahagonny zwei solche Werke herausstellen. Forderungen wären hier zu stellen, nicht sowohl an die Werke, die von sich genug gefordert haben, als an das Publikum. Ans Stammpublikum der Oper zunächst. Seine Treue zur Oper soll ihm gedankt sein, selbst wenn sie nicht stets den Gehalten der Werke entsprang: sie allein hat eine Form lebensfähig erhalten, deren ästhetisches Recht über allem Zweifel stets wieder von neuem sich bewährt. Aber solche Treue kommt einer Verpflichtung gleich. Es ist nicht die Aufgabe der Oper, die Existenz des Hörers zu verklären, indem sie sein Eßzimmer zum Mannensaal, seine Sommerfrische zur Wolfsschlucht erweitert; sie ist nicht dazu da, daß er in ihr alte Bekannte aus dem Café wiederfindet, die ihrerseits als alte Bekannte aus der Oper begrüßt werden; sie ist keine Entspannung seines privaten Lebens, Erfüllung von Wunschträumen, die das Kino ohnehin besser erfüllen kann – sie ist eine eigenständige Form, die ihren eigenen Gestalten nach hingenommen werden will und für solche Hingabe den Hörer dadurch belohnt, daß sie, vielleicht, ihn verändert; nie aber wird sie von seinem privaten Bedürfnis willkürlich sich verändern lassen. Daß die Oper, wie jede Kunst, eine Verpflichtung des Hörenden bedeutet, und daß fürs blanke Amüsement anderswo besser gesorgt ist, sollte der Opern-Stammabonnent sich klar machen, der ja sein Abonnement hält, um seine Kultur zu beweisen und dem der Beweis darum tatsächlich obliegt. Es wäre weiter zu wünschen, daß die herrschenden Schichten, die heute der Oper geflissentlich sich fernhalten, mit der neuen Oper zumindest ernstlich sich auseinandersetzten, deren Recht weder hinter dem eines Dramas über einen neuentdeckten Paragraphen, noch dem eines falschen van Gogh zurücksteht und der man einige Zeit selbst auf Kosten von Bridge und Golf widmen sollte, wofern man sich nicht dem Verdacht aussetzen will, man sei ihrem geistigen Anspruch ebensowenig gewachsen, wie die Kleinbürger, die es wenigstens zugeben. – Daß die heute durchwegs opernflüchtige Intellektuellenschicht der Oper zu gewinnen wäre, zeigt das Beispiel des mutigsten und radikalsten – bislang nämlich von den Forderungen der Opernkonvention unabhängigen – musikalischen Theaters in Deutschland: der Berliner Staatsoper am Platz der Republik. – Die neue Oper durchzusetzen, bedarf es zumal der Heranziehung frischer Publikumsschichten, wie sie organisatorisch bereits möglich, geistig aber noch nicht wahrhaft vollzogen ist: des Proletariats und der neuen, zwischen Proletariat und Bürgertum noch nicht eindeutig orientierten Klasse der Angestellten zumal. Es wäre gewiß romantisch, damit zu rechnen, hier könnte frisch und ohne Widerstand begonnen werden; gerade jene Schichten leben geistig, von der eigentlich politischen Sphäre abgesehen, weithin im Bann der Mächte, die sie beherrschen und von den Gütern, die jene abgelegt haben; die nun durch Radio und Tonfilm vollends zu bedrohlicher Popularität gelangen. Die neue Kunst begegnet hier zunächst den gleichen Widerständen wie im Bürgertum selbst, wohl gar in noch primitiverer Gestalt, weil die dort wirksamen bildungsmässigen Voraussetzungen meist fortfallen; Widerständen, die verschärft werden, weil die Forderung nach Entspannung, die bereits das Bürgertum an die Oper richtet, von einem wirklichen Entspannungsbedürfnis getragen wird im Umkreis derer, die vollends im Kreise durchrationalisierten Lebens sich bewegen. Trotz allem ist die Hoffnung der neuen Oper bei den neuen Schichten; weil ihr Bewußtsein, wie immer auch abhängig, doch nicht in gleichem Maße ideologisch fixiert ist, wie das derjenigen, deren eigenes Interesse mit den ideologischen Bindungen übereinstimmt. Der Verzicht auf ein wenig Bridge oder Golf, den die neue Oper den Großbürgern zumutet, wäre allerdings bei Arbeitern und Angestellten der Ausschließlichkeit des Fußballs gegenüber ebenfalls zu propagieren. – Das Schicksal der neuen Oper wird endlich nicht im Opernraum entschieden, sondern in dem der gesellschaftlichen Entwicklung als solcher. Aber die gegenwärtigen Opernhörer vermögen zu helfen, daß die Form dauere, indem sie sich wandelt.