Arnold Schönberg

Worte des Gedenkens zum 13. September 1951

Als die Zeitungen den Tod Arnold Schönbergs meldeten, ward er in den meisten als »Vater der Zwölftonmusik« bezeichnet. Das ist charakteristisch für das Bild des Meisters, wie es stets noch im öffentlichen Bewußtsein sich erhält. Er gilt als Neuerer, als Reformator, wohl gar als Erfinder eines Systems. Schweigend ist darin eingeschlossen, er habe zwar für andere den Weg bereitet und verdiene Respekt, aber er habe es nicht selbst vollbracht und sei eigentlich durch die historische Entwicklung bereits überwunden. Der Vergleich zwischen seiner Musik und der, die nach ihm kam, sollte dies Vorurteil zerstreuen. Künstlerische Revolutionen von der Gewalt der Schönbergischen werden nicht darum unternommen, daß man danach so weitermachen kann wie zuvor und nur einiges mehr sich erlauben. Aber sein Werk, das unbeirrt, ohne Konzessionen einzig der eigenen Wahrheit sich verpflichtet weiß, beschämt die, welche von der Musik verlangen, daß sie das Leben bestätige, so wie es ist, und treibt sie zur Abwehr. Daher möchte ich in diesen Minuten des Gedenkens einfach, ohne Umschweife, aber mit aller Verantwortung aussprechen, daß Arnold Schönberg ein großer Komponist gewesen ist, einer der größten, ebenbürtig der Tradition von Bach, Mozart, Beethoven und Brahms, der er sich zurechnete. Er hielt ihr die Treue, indem er ihre Oberfläche durchbrach, und hat aus Eigenem, ohne Schutz bei ihr zu suchen, ihre Substanz noch einmal aus sich heraus und dem Leiden seiner Welt erzeugt. Daß heute nicht in der gleichen, von objektivem Geist getragenen Weise mehr verbindlich sich komponieren läßt wie vor 150 Jahren, und daß der Begriff des Genies fragwürdig geworden ist, ändert nichts daran, daß in Schönberg die ästhetische Produktivkraft noch einmal mit derselben ursprünglichen Kraft sich darstellt, wie in den mittlerweile zu Kulturgütern erniedrigten Werken der Vergangenheit. Schönberg, von dem man uns einreden will, seine Musik kranke am Intellektualismus, war ein naiver Künstler in dem höchsten Sinne der reinen unreflektierten Hingabe an die Sache und des Vertrauens darauf, in Kunst spreche ein Absolutes sich aus. So verlangt denn auch sein Werk nicht, daß Sie sich theoretisch darüber informieren oder gar um sogenannte Spielregeln kümmern. Es kommt einzig darauf an, daß Sie sich ihm ohne vorgefaßte Meinung und ohne sich hinter fertig bezogenen Anschauungen zu verschanzen, rein aufschließen und ihm etwas von dem Vertrauen zurückgeben, das er in uns hegt, indem er uns als Menschen anspricht und nicht als präparierte Träger und Opfer des allherrschenden Betriebes.

Damit will ich nicht sagen, Schönbergs Musik sei leicht zu verstehen. Vielleicht kann ich Ihnen am ehesten helfen, indem ich Ihnen etwas von ihren Schwierigkeiten erkläre. Merkmale wie das Vorwalten von Dissonanzen in der Harmonik und von weiten Intervallen in der Melodik sind nicht entscheidend. Das Wesentliche ist vielmehr, daß Schönbergs Musik sich auflehnt gegen das Element der musikalischen Dummheit, das Infantile; mit anderen Worten, gegen die Herstellung von Zusammenhängen durch sture Wiederholung und gegen die arme Freude, die der Wiederholungszwang gewährt. Das Grundprinzip seiner Musik in all ihren Phasen ist, wie er selber es nannte, das der entwickelnden Variation. Die strenge Einheit, die seine Gebilde in sich bewähren, kommt zustande durch unablässige Veränderung. Jedes ihrer Themen bedeutet eine Verpflichtung: die, es weiterzutreiben, Konsequenzen zu ziehen, aufzulösen, bis die Spannungen des musikalischen Antriebs ausgeglichen sind. Sie werden diese Musik in dem Augenblick richtig hören und ihre Einheit erfassen, in dem sich Ihr Ohr nicht an Wiederholungen klammert, sondern die stetige Wandlung, gleichsam die Geschichte aller Themen lebendig mitvollzieht.

Reif, dem Kinderspiel entwachsen, ist Schönbergs Musik auch in dem Betracht, daß ihre Neuerungen sich nicht bloß auf eine Dimension beziehen, sondern auf sämtliche, Harmonik, Melodik, Kontrapunkt, Farbe und Form. Sie alle sind dem kompositorischen Prozeß eingeschmolzen und integriert. Daher stellt das Ergebnis unvergleichlich viel komplexer sich dar als die übliche Musik. Sie hören nicht Melodien, die von Formeln begleitet sind. Formeln finden Sie überhaupt nicht, keine Akkordmünzen, keine eingetrommelten Rhythmen. Alles steht einmalig und ganz für sich selber ein. Beispiellos intensive Phantasie drängt in jeden Augenblick eine Fülle von Ereignissen zusammen, wie sie sonst nur im Nacheinander sich darlegt. Polyphonie und Kontrapunkt sind keine Zutaten, sondern produzieren die ganze Form. Daher fordert diese Musik nicht bloß das Mitvollziehen ihrer oft aufs äußerste verkürzten Entwicklung, sondern ebenso auch, daß Sie das Vielfache wahrnehmen, das in jedem Augenblick gleichzeitig geschieht. Sie will mit der größten Konzentration gehört sein, unter Verzicht auf die Gewohnheit des passiven Sich-Treiben-Lassens, zu der Musik immer wieder verführt.

Das Zweite Streichquartett, das wir als Hauptwerk ausgesucht haben und das viele bereits als eines des Überganges abtun, scheint mir eines der großartigsten und inspiriertesten. In sich faßt es die ganze Entwicklung von Schönbergs Kunst zusammen. Der erste Satz holt, mit einem Äußersten an Stufenreichtum und profilierten Themen, auf knappstem Raum, noch einmal heraus, was die Tonalität an ihrem Ende herzugeben vermag. Auf die völlig unschematische Ausführung der Reprise weise ich Sie besonders hin. Der zweite, scherzoartige Satz läßt alle Strindbergischen Dämonen des Expressionismus los und damit die Kräfte, welche die Tonalität zerbrachen. Der dritte, mit Gesang, bringt Variationen, deren Thema aus den wichtigsten motivischen Bestandteilen der beiden ersten gebildet ist. Er entbindet die konstruktiven Gegenkräfte, die denen des Ausdrucks bei Schönberg die Waage halten. Der letzte aber, wiederum mit Gesang, ist die neue Musik schlechthin, trotz des Fis-Dur am Ende ihr erstes schlackenloses Zeugnis, so utopisch visionär, wie keine andere danach. Die instrumentale Einleitung dieser »Entrückung« ist wirklich so, als wäre Musik aller Fesseln ledig geworden und dränge über ungeheure Abgründe hinweg zu jenem anderen Planeten, den Georges Gedicht beschwört. Wo er genannt wird, klingt es, als hätte Musik ihren Fuß auf nie zuvor betretenen Boden gesetzt. Und der Abgesang: »Ich löse mich in Tönen, kreisend, schwebend«, ist eine der schönsten, freiesten und erfülltesten Melodien, die je gefunden wurden.

Lassen Sie mich hier abbrechen. Schönberg hat einem Werk seines Freundes Anton von Webern den Satz vorangestellt: »Möge ihnen diese Stille klingen.« In solchem Geiste bekunden wir dem Toten unsere Ehrfurcht, indem wir fünf Minuten schweigen und buchstäblich die Stille klingen lassen, ehe die Musik anhebt, die solches Schweigen einlöst.