Zilligs Verlaine-Lieder
Die Harmonielehre Arnold Schönbergs behandelt, außer in einem kurzen Anhang, lediglich die herkömmlichen Mittel. Auch im Unterricht hat er offenbar auf diese sich beschränkt, nur mit sehr fortgeschrittenen Schülern ihre eigenen freien Kompositionen, die den tonalen Vorrat überschritten, durchgearbeitet. Grund solcher Zurückhaltung war sicherlich zunächst das Verantwortungsbewußtsein des Lehrers, das ihm sagt, nur der bringe etwas wahrhaft Produktives und Neues zustande, der das traditionelle Handwerk durchaus studiert hat: erst die zuverlässige Kenntnis alles dessen, was es verlangt, zeitigt das Bedürfnis, seine Schranken zu durchbrechen. Gegenwärtig war ihm auch das Fragwürdige der Unterweisung in neuen Techniken wie der zwölftönigen: sie gestattet nicht jene Allgemeinheit von Vorschriften, in deren Übertragung auf den Einzelfall musikalische Pädagogik nun einmal besteht. Seine Sorge, ob man nicht jene Technik zum Gegenteil dessen machte, als was er sie gefunden hatte, bezieht sich auf denselben Sachverhalt. Aber ein Tieferes spielt herein. Vielleicht zögerte er, durch die Lehre das Verpflichtende der neuen Verfahrungsweise, das überaus zerbrechlich und keine Sammlung drohender Tabus ist, allzusehr zu fixieren. Er mochte an diejenigen seiner Schüler denken, die nicht zum neuen Kompositionsmaterial übergingen, und an die eigene Erfahrung. Je mehr er in Fragen des richtig oder falsch Komponierens sich versenkte, desto deutlicher wurde ihm, daß der eigentliche Gehalt seiner Neuerungen gar nicht so sehr das Material betraf, jene Stileigentümlichkeiten, die jedem einfallen, wenn er den Namen Schönberg hört. Vielmehr kommt es darauf an, was damit geschieht, wozu sie taugen: aufs Komponierte selbst. Die kompositorischen Verfahrungsweisen haben sich fraglos an den Entdeckungen der neuen Mittel, vor allem an der Abschaffung der Begriffe Konsonanz und Dissonanz geschult, dann aber diesen gegenüber wiederum sich verselbständigt. Der reife Schönberg, der der bloßen sinnlichen Erscheinung der Musik immer ferner rückte, die Komposition durch ihre Vereinheitlichung immer mehr vergeistigte, hat denn auch zahlreiche tonale Kompositionen veröffentlicht und in dem Aufsatz ›On revient toujours‹ seine Neigung dazu gerechtfertigt. Es handelte sich keineswegs bloß um Neben- und Gelegenheitswerke sondern auch um Stücke großen Gewichts wie die Zweite Kammersymphonie. Bruchlos übertrug er in ihrem Finale Errungenschaften der Zwölftontechnik, die freigesetzte Polyphonie und ihre Verklammerung mit der Form, zurück auf das ältere Material der sogenannten erweiterten Tonalität, wie er es ein Menschenalter früher, etwa im fis-moll-Quartett, gehandhabt hatte. Am Ende verbirgt jene Neigung Schönbergs ein Moment innerer Ungleichzeitigkeit mit sich selbst, das auch an anderen Komponisten seiner Epoche wie Bartók und Strawinsky sich beobachten läßt. Ihr primäres musikalisches Reagieren war nicht ganz eins mit der radikalen Entwicklung der kompositorischen Mittel, zu denen der Fortschritt ihres Komponierens sie genötigt hatte. Kaum war es nur Ironie, wenn Schönberg von manchen seiner extremen Stücke, wie dem Bläserquintett, behauptete, er habe sie selber noch nicht recht verstanden. Unerschrocken hat er das nicht verleugnet, sondern in den Umkreis des Fortschritts noch hineingerissen, den er im Kompositionsmaterial und vielen seiner Dimensionen vollzogen hatte, ohne doch je die muffige Ausrede sich zunutze zu machen, er sei zu ehrlich zum Modernismus um jeden Preis. Meist maskiert sich in dieser Beteuerung bloß die Wut des Nichtmitgekommenen als moralische Überlegenheit.
Erwägungen solcher Art führen an das Phänomen Winfried Zillig heran. Er hat bei Schönberg gearbeitet und fühlt sich nachdrücklich als dessen Schüler; Schönberg seinerseits betrachtete ihn als den begabtesten derer, die nach Berg und Webern zu ihm kamen. Unter diesen Jüngeren dürfte er, neben Hanns Eisler, als erster die Zwölftontechnik aufgegriffen haben; die Bläserserenade, die ihrer sich bedient, wirkte, als sie vor der Hitlerzeit gespielt wurde, ungemein aggressiv; nicht minder das Erste Streichquartett. Seiner Haltung nach hat er nie woanders sich zu Hause gefühlt als im Bereich dessen, was man mit einem heute überbeanspruchten, aber auch hämisch verlästerten Wort Avantgarde nennt. Die Verdienste des Dirigenten Zillig um die neue Musik, gerade auch um Schönbergs Moses und Aron, können nicht hoch genug eingeschätzt werden. Mit einer Zivilcourage, die mittlerweile nicht mehr von selbst sich versteht, hat er gegen das musikalische Dunkelmännertum sich exponiert. Aber sein ungemein umfangreiches Werk, das ich mir keineswegs zu überblicken zutraue, ist in weitem Maß tonal: nicht nur Arbeiten, die dem Gebrauch dienen, sondern auch autonome, wie zahlreiche Liedkompositionen, unter ihnen der Verlaine-Zyklus. Nicht daß seine Musik neue vieltönige Klänge sich verwehrte; sie begegnen immer wieder darin. Tonal jedoch bleibt die harmonisch-melodische Grundstruktur, durchsetzt mit Chromatik wie beim jungen Schönberg, zugleich mit der Tendenz, die tonartfremden Zusätze als selbständige Stufen zu deuten. Das bestimmt dann auch alle anderen Elemente, insbesondere die Form. Weit ungehemmter breitet sie sich aus als sonst im Umkreis der Schönbergschule denkbar ist; ganze Komplexe werden wiederholt und verschoben. Das Schicksal seiner Musik blieb davon nicht unberührt. 1933 geriet er, wie selbstverständlich, unter das barbarische Verbot der damals so genannten entarteten Musik; nach dem Krieg aber wurde er von vielen derjenigen, denen er selbst sich verbunden fühlte, als allzu zahm vernachlässigt. Erst in jüngster Zeit, nachdem eine größere Zahl seiner Arbeiten gedruckt vorliegt, beginnt dem als Dirigent bekannt Gewordenen auch als Komponisten mehr Gerechtigkeit zu widerfahren.
Zilligs Freude an weit ausgedehnten, die Wiederholung nicht scheuenden Stücken verweist auf ein Eigentümliches seines kompositorischen Naturells. Es veranlaßt, darüber nachzudenken, was ein Cliché wie das vom geborenen Komponisten eigentlich meint. Denn so verkommen derartige Spitzmarken auch sind; so sehr sie auch, gleich allem auf die Sphäre des angeblich Musikantischen Bezogenen, zur Hetze gegen jenes musikalisch Intellektuelle taugen, das der Lieblingsbegriff solcher ist, deren Musikalität nicht ausreicht – etwas steckt auch in solchen Begriffen, das vom ideologischen Mißbrauch abzuheben wäre. Ein geborener Komponist: das ist sicherlich keine Naturqualität, so wie das Wort geboren es anmeldet. Musik ist bis ins Innerste durch Kultur vermittelt, und keiner vermöchte im Ernst zu unterscheiden, wo die absolute Anlage anhebt und wo das, was der Kultur sich verdankt. Wahrscheinlich aber spricht die Regung, die, mit einer Art von Aha-Erlebnis, einen als geborenen Komponisten wahrnimmt, gerade auf sein Verhältnis zur Kultur als einer zweiten Natur an. Solchen Musikern ist die Sprache der Musik, als eine Sprache, selbstverständlich; sie sind tiefer mit dem musikalischen Idiom gesättigt, stimmen tiefer mit ihm überein, als daß sie ihm durchs Individuationsprinzip widerstünden. In Deutschland, wo, wie man oft bemerkt hat, Musikalität mehr im Einzelnen sich konzentriert, als das Kollektiv wie ein Äther zu erfüllen, und wo die gesellschaftliche Entwicklung längst die Volkselemente des Musikalischen überflügelte, die nur gewaltsam und unwahr sich wiederherstellen lassen, ist diese Art von Musikalität überaus selten. Vertraut ist sie von Böhmen wie Dvorák und Smetana her. Zillig, Süddeutscher, Kind der Würzburger Kulturlandschaft, hat etwas davon. Anachronistisch fast sind bei ihm Zwang und Trost der ererbten Musiksprache stärker als der individuelle Wille, der dagegen aufbegehrt, und die wache Kritik, die weiß, daß die vorgegebene musikalische Sprache nicht länger verbürgt ist. Dabei zeugt es für ihn, daß er nirgends folklorisiert, nirgends kollektive Sprache von sich aus sucht oder an sie sich anbiedert. Die moralische Selbstgefälligkeit der Berufung auf Bindungen wäre seiner Sensibilität unerträglich. Aber der kollektive Unterstrom reißt seine Bildung, seine ästhetische Absicht mit sich. Sein Individuellstes, ein lyrisch passives sich Hingeben im Komponieren, ein Moment, das zuweilen jäh an den sonst von Zillig gänzlich verschiedenen Alban Berg mahnt, dürfte mit jenem Idiomatischen eines Wesens sein.
Dies Element nun hat er, wie aus einem Instinkt gegen die Gefahr, die es mit sich führt, der Arbeit und Anstrengung ausgesetzt, welche die Schönbergschule ihm zumutete. An dem, was aus der Spannung hervortrat, hat seine Musik ihren Namen. Gar nicht so sehr ist an die technische Verfügung zu denken, die einer, der soviel Talent hat wie Zillig, in jener Schule mühelos gewann, auch nicht an die ausgeschriebene Hand, die er im jahrzehntelangen Umgang mit der Praxis sich erwarb. Sondern er hat in das Idiom, von dem er nicht loskam, all die Differenziertheit, all den Reichtum der Struktur eingebracht, der bei Schönberg als Erbschaft Brahmsens und des Wiener Klassizismus zu lernen war. Und während die Lyrik Zilligs grob äußerliche Merkmale mit der Romantik teilt, hat er auf seine Weise an Schönberg auch die Erfahrung der Sachlichkeit gemacht, die jenen mit Adolf Loos verband und mit der Kritik an der sprachlichen Floskel, die Karl Kraus übte. In einem gewissen Sinn ist auch das Verfahren Zilligs eines von Reduktion. Man wird dabei nicht an Webern denken dürfen, zu dessen moments musicaux die weiträumigen Gebilde Zilligs den vollkommenen Widerpart abgeben. Zilligs Ökonomie, auch die orchestrale, ist nicht so sehr, wie die Webernsche, in kompositorischer Selbstbesinnung, einem sich Zusammenziehen entsprungen wie im Umgang mit dem Orchester und der dramaturgisch angewandten Musik. Ihm hat sich eingeprägt, wie mit dem geringsten Aufwand an Mitteln die größte Sinnfälligkeit der Wirkung zu erreichen ist. Sonderbar hält auch er haus mit dem unbedingt Notwendigen. Die romantische Fülle, das Schwelgerische ist noch spürbar, aber gewissermaßen eingekocht zur Skizze. Vielfach haben bei ihm die kompositorischen Ereignisse ihre Intensität durch das, was sie weglassen und was doch in ihnen zittert. Der Sprachschatz der Romantik, der sein eigener ist, scheint auf seine nackten Urbilder gebracht, und doch wird niemals archaisiert. Daran: an einer höchst wählerischen, vermutlich durch den geistigen Umgang mit Frankreich und Italien gesteigerten Sparsamkeit inmitten des Differenzierten, hat Zilligs Musik ihren modernen Aspekt. Fortgeschritten sind nicht die Mittel an sich sondern ein eigentümlicher Prozeß der Filtrierung, dem sie unterliegen und der sie verändert, vom Ornamentalen reinigt. Leichtigkeit, Selbstverständlichkeit setzt sich dem Schwulst entgegen. Sie harmoniert genau mit dem passiven, gar nicht so sehr auf Selbstheit pochenden Wesen des Ausdrucksgehalts. Am ehesten könnte man an den späteren Hugo Wolf denken. Das Spanische Liederbuch zeigt Ansätze verwandter Reduktion, zugleich auch etwas von dem süchtigen Ton der Zilligschen Lyrik. Er gilt der Trauer des sinnlichen Glücks, das, nach dem Vers, auf den Nietzsche die ewige Wiederkehr gründete, Ewigkeit will und doch Vergängnis ist, wo es Glück ist; manchmal taumelnd exaltiert, als ob der Ausdruck erotischen Verfallenseins sich steigern wollte, bis er die eigene Hinfälligkeit übertönt.
Dieser expressive Kern hätte keine vollkommenere literarische Entsprechung finden können als Paul Verlaine. Die sechs Lieder tragen den Titel Ariettes oubliées, nach der Georgeschen Übersetzung Vergessene Weisen; der Text des letzten freilich stammt aus Sagesse. Mir dünken sie von allem, was ich von Zillig kenne, das Spezifischeste, auch das Gelungenste. Entstanden sind sie während des Krieges, zur Zeit des Zusammenbruchs von Frankreich, aus Passion für das Land; der Vergleich der Geliebten mit ihm in ›Birds in the Night‹ wird hintersinnig, Zeugnis des deutschen Widerstands wie des Zwangs während der Jahre des Terrors, ihn unpolitisch zu bekunden. Die Gedichte gehören in jene Periode Verlaines, in der die Forderung nach der Nuance als dem obersten Gesetz der Dichtung in vollkommener Einfachheit, nach Georges Wort, ohne allen Parnassischen Prunk verwirklicht ist. Das Ineins eines volksmäßigen Tons ohne Volkston mit empfindlicher Nervosität ist wie für Zillig geschaffen. Die Georgesche Übertragung gehört nicht nur zu den ganz seltenen Versen, in denen ausländische Lyrik treu und schlackenlos sich spiegelt, sondern zur großen deutschen Dichtung selber. Drei der Gedichte sind auch von Debussy vertont worden, ohne daß Zilligs Kompositionen davon beeinträchtigt würden; weder ähneln sie im mindesten den älteren, noch suchen sie den Gegensatz zu ihnen, sondern folgen frei, unbefangen ihrem Impuls, Impressionismus aus weiter Ferne.
Das erste Lied, ›Dies ist die müde Verzückung‹, ist das berühmte ›C'est l'extase‹, mit einer ganz durchsichtigen, zweistimmigen Klavierbegleitung, die doch die Möglichkeit von Flimmern ähnlich in sich enthält wie das gedämpfte Verlainesche Pastell alle Valeurs des Lichts. Vom Zilligschen Ton, einem mit Worten nur schwer zu Treffenden, aber Unverwechselbaren, schmerzhaft Zärtlichen gibt der Schluß des Lieds, der die beiden letzten Zeilen in einem Atem zusammenfaßt, die deutlichste Vorstellung.
Das zweite Lied, von Debussy nicht komponiert, nach dem unvergleichlichen Gedicht »Je devine, à travers un murmure, / Le contour subtil des voix anciennes« ist das schönste des Zyklus. In seine Akkordfolgen ist am meisten vom Schönbergisch Kunstvollen eingegangen, kraft der stets variierten harmonischen Ausdeutung der Grundmotive ebenso wie kraft der unaufdringlich unregelmäßigen Metrik. Von der ersten Strophe meint man, es hätte sie nicht einer komponiert, sondern sie wäre potentiell schon dagewesen wie die Kinder im Teich des Storchs, nur gleichsam aufgezeichnet worden; ein Gefühl, das die neue Musik in der autonomen Verfügung über ihr Material opfern mußte und das, verspätet, mit der Melancholie des Zum letzten Mal aufgeht. Nur wer weiß, wie verbraucht die herkömmliche Kadenzbildung ist, und dann das gänzlich Zwingende und Frische der Strophenendung vernimmt, kann das Außerordentliche erkennen, das Zillig unscheinbar vollbrachte. Etwas geht, was nicht mehr geht. Für einen Augenblick wird die unerbittliche Folgerichtigkeit des geschichtlichen Fortgangs der Musik gemildert. Denn in Kunst sind die Notwendigkeiten nicht buchstäblich; die Logik der Entwicklung hat ästhetisch eine Instanz über sich, welche die Vollstreckung verzögert. Die Schönbergschule des Gestaltenreichtums ebenso wie die alle krassen Kontraste scheuende Empfindlichkeit Zilligs erweisen sich in der Fortsetzung. Unverkennbar ähnelt sie einem zweiten Thema, das doch von dem ersten nicht allzu weit sich entfernt und durch das Begleitmotiv mit ihm verschmolzen bleibt. Der Kontrast wird vor allem durch einen häufiger wiederkehrenden, zwielichtig dissonanten Akkord bewirkt. Solche Leitakkorde brauchte Schönberg in seinen ersten Liedern. Von Zillig werden sie als verkürzte Sigel in den tonalen Zusammenhang gestellt. Die dritte Strophe, Reprise der ersten, wandelt diese ab durch die Konsequenzen aus einer metrischen Dehnung. Am Schluß tritt die Singstimme einen Ton höher ein als an der entsprechenden Stelle der ersten Strophe, zu der Interjektion »O«, und deutet aufs diskreteste Ausbruch und Höhepunkt an. Die Tonika h-moll oder -Dur ist während des ganzen Liedes ausgespart oder umschrieben. Noch in den Endakkorden, bis zur Auflösung im allerletzten, wird sie durch die Führung eines der, nach Wolfischer Weise, beibehaltenen Begleitmotive getrübt. Dennoch ist nirgends Zweifel an der Tonart.
Das dritte Lied steigert den süchtigen Grundcharakter ins affektive Allegro, bleibt aber diszipliniert durch den schlanken Klavierklang.
›Green‹ ist das vierte Gedicht, »Voici des fruits, des fleurs«, von Debussy komponiert. Bei Zillig wird ein Adagietto daraus, im Fünfachteltakt. Seine Unregelmäßigkeit ahmt, bei der sonst abermals ganz schlichten Prosodie, das Stocken des Herzens nach, das der Geliebten sich darbringt; es birgt die Möglichkeit des rauschenden Augenblicks. Die Stockung ist auf dem vierten Taktteil empfunden. Um diese rhythmische Konzeption kristallisiert sich das gesamte Lied. Aus minimalen Keimen bilden sich darin, nach dem Prinzip der Verkleinerung und Verjüngung, rhythmisch immer reichere Gestalten; die Fünfachtelstruktur greift schließlich über auf die kleinsten Notenwerte der Begleitung.
Das fünfte, das Frankreichlied, im Tempo eines Trauermarschs, hat etwas vom stilisierten Nachhall der Militärkapellen, die Le régiment de Sambre et Meuse spielen. Manche Gedichte von Rimbaud haben diesen Ton. In der umkippenden Harmonik, den schief geschnittenen Kadenzen ebenso wie in der Aufnahme von Gestalten der Populärmusik könnte man den Einfluß von Kurt Weill finden. Aber die harmonischen Ausweichungen sind im Sinn des jüngeren Schönberg genau ausharmonisiert, ausgestuft. Trotz der jähen Umbelichtungen wird die Kontinuität des Satzes nirgends gesprengt.
Das letzte Lied ist die Bitte des pauvre Lelian um Vergebung, in outriert einfachem akkordischen Satz, doch so, daß aus dem knappen Vorrat der Motive und Harmonien unablässig neue Konstellationen sich bilden. Strophisch gebaut gleich den anderen, ist es nach dem Prinzip stetiger Abweichung gestaltet; wie bei Mahler, der auf Zillig tief eingewirkt hat, ohne daß er je Mahlersche Manieren annähme, geht es immer anders weiter, als das Ohr bei der Wiederkehr derselben Felder erwartet. Dadurch spielt der Charakter ins Verstörte hinüber, so als werde immerzu gelobt, was dann nicht gehalten wird. Vergebens streckt auf dem ominösen Weg der guten Vorsätze die Hand zur Versöhnung sich aus. Die sich selbst übertreibende Schlichtheit des Schlusses, mit dem Doppelschlag, schockiert dann vollends; die Schlußkonvention der Konsonanz dissoniert scharf zur Dissonanz des Gefühls: Innigkeit mit doppeltem Boden.
Das für die Qualität der Lieder Entscheidende: daß ihr Einfaches nicht primitiv sondern Ergebnis von Reduktion sei, ist technisch nachweisbar an der Orchesterfassung. Zillig hat seine Lieder nicht, wie die dämliche Phrase lautet, in ein farbiges Instrumentalgewand gekleidet. Sondern die Instrumentation hat ihren sachgerechten Zweck: das in die sinnliche Erscheinung zurückzurufen, was dem Reduktionsprozeß zum Opfer fiel. Nirgends wird dabei die Substanz der Lieder angetastet. Die Klavierversion ist wie ein Entwurf. Sie sehnt sich nach dem Orchester, aber das Orchester darf sie weder in ihrer Kargheit lassen noch aufschwemmen. Am phantasievollsten ist die Instrumentation des ersten Liedes. Nach der Klavierfassung erstaunt das prima vista komplizierte Partiturbild. Dennoch ist es ohne jeden Zusatz, bloßes Ausinstrumentieren, Realisierung der verschlossenen Struktur, vergleichbar der Instrumentation von Alban Bergs Frühen Liedern. Betrachtet man das Begleitsystem des Klaviers näher, so wird man seiner Doppeldeutigkeit gewahr. Einerseits ist das Begleitsystem harmonisch-akkordisch gedacht, vielfach wechselnd auf dem ersten und vierten Taktteil. Andererseits sind die Figurationen der Harmonie so charakteristisch rhythmisiert, daß sie melodisches Profil annehmen, verwandt dem der Singstimme, aber durch die kleineren Notenwerte von dieser auch wieder unterschieden. Solche Zweideutigkeit hat Zillig mit dem Orchester realisiert, das Schwebende und Unbestimmte selber technisch gefaßt und bestimmt. Die latente Begleitmelodie liegt in der Flöte und dort, wo sie in Sekundschritten zum Vordergrund drängt, in kurzen Ansätzen der Oboe und des Englisch Horns. Die akkordische Interpretation dagegen fällt den geteilten ersten und zweiten Geigen, der Celesta, der Harfe und dem höchst unauffällig mit dem Orchester verschmolzenen Klavier zu. Die Akkordeinsätze markieren dabei die charakteristische Synkopierung, die in der Begleitung versteckt war; geteilte Bratschen und Celli fügen im pianissimo-Flageolett die Grundharmonien hinzu, die Hörner geben das Klavierpedal. Der Gesamtklang opalisiert und schmückt nichts zum Klingklang auf: er ist aus ihrer eigenen Struktur abgeleitet. Während die Grundfarbe festgehalten ist, genügen kleinste Veränderungen wie der Pizzicato-Einsatz der tiefen Streicher, zusammen mit dem Kontrafagott, ein paar Takte lang ohne Geigen und höhere Holzbläser, als Kontrast, der doch das leise Tönen nicht verläßt.
Aufmerksam gemacht sei, unter all den Finessen der Instrumentation, nur noch auf ganz wenige. Der Marsch ›Birds in the Night‹ imitiert, in der Klavierfassung, das Geräusch der kleinen Trommel. Zilligs wägendes Ohr verschmäht, in der Instrumentation, grob tatsächliche Schlagzeugwirkungen. Wie die Rede von Frankreich in dem Gedicht bloß metaphorisch ist, so auch der Marschklang. Der Schlagzeugeffekt wird uneigentlich gehalten, dem Klavier überlassen, das zuweilen die Harfe unterstützt. Aber untrüglich ist, wie durchweg, vermieden, daß der Klavierklang hervorsticht. – Im letzten Lied bestand für die Instrumentation die gefährliche Versuchung des Posaunenchorals. Zillig umgeht sie, indem er die choralähnlichen Akkorde in die tiefen Streicher verlegt und den Bläserklang, der nun einmal sich aufdrängt, durch Verdopplung in den Hörnern nur eben andeutet. Die Posaune wird, dolce, auf eine unauffällige Mittelstimme verwiesen. Später gehen die Bläserverdopplungen vielfach ans Holz über; die transparente Stelle »von geistiger Begleitschaft« ist orgelhaft nur von Flöte und Klarinette, dann von Oboe und Englisch Horn zur Fundamentstimme der Baßklarinette begleitet. Für das Gelingen der Instrumentation gibt es ein untrügliches Zeichen: daß keinem Takt je das Instrumentierte, in Farbe Umgedachte des Schwarz-Weiß der Klavierfassung anzumerken ist. Das Orchester klingt, als wäre es primär eingefallen, weil die Farben selbst aus dem vermeintlichen Schwarz-Weiß herausgeholt sind.
Reaktion und Fortschritt
Wer heutzutage in Musik von Reaktion entschlossen polemisch redet, dem schlägt vorab der Verdacht entgegen, daß er an Möglichkeit des Fortschrittes glaube dort, wo die großen Kunstwerke in ihrer Unvergleichlichkeit vor jedem derartigen Maßstab geschützt sein sollen. Sinnvoll wird aber von Fortschritt und Reaktion nicht gegenüber den Qualitäten der einzelnen ungleichzeitigen Werke geredet werden können, als ob die Qualität von Werk zu Werk mit der Zeit sei's steige, sei's sich mindere. Es wird, mit der Intention auf Fortschritt, nicht behauptet, daß man heute besser komponieren könne oder dank geschichtlicher Gnade bessere Werke hervorbringe als zur Zeit Beethovens; so wenig man vertreten wird, die gesellschaftlichen Verhältnisse seien im letzten Jahrhundert, obwohl in dessen Verlauf die Prognose der wachsenden Verelendung nicht sich bestätigte, »besser« geworden. Den Schauplatz eines Fortschrittes in Kunst liefern nicht ihre einzelnen Werke sondern ihr Material. Denn dies Material ist nicht, wie die zwölf Halbtöne mit ihren physikalisch vorgezeichneten Obertonverhältnissen, naturhaft unveränderlich und jeder Zeit identisch gegeben. In den Figuren vielmehr, in denen es dem Komponisten begegnet, hat Geschichte sich niedergeschlagen. Und nie findet der Komponist das Material abgelöst von jenen Figuren vor. Das gleiche Obertonverhältnis etwa, das im verminderten Septimakkord – oft ist es bemerkt worden – gemessen am Stande des Materials insgesamt zur Zeit Beethovens als stärkstes Spannungsmoment konnte eingesetzt werden, ist in einem späteren Stande des Materials harmlose Konsonanz und bei Reger bereits zum selber unqualifizierten Modulationsmittel entwertet. Fortschritt heißt nichts anderes als je und je das Material auf der fortgeschrittensten Stufe seiner geschichtlichen Dialektik ergreifen. Diese Dialektik ist aber nun nicht historisch als eine geschlossene zu denken, die zu Häupten des Komponisten sich abspielte, während er ohnmächtig nichts zu tun hätte als, wie auf einer Ballonverfolgung, hinter dem fessellosen Material herzujagen und zu trachten, möglichst prompt die »Forderung der Zeit« zu erfüllen oder, wie man immer noch selbst von ernsthaften Musikern kaum besser hören kann, »den Erfordernissen des zeitgemäßen Formstils Rechnung zu tragen«. Nichts wäre falscher und trügender, als einer Forderung der Zeit genügen zu wollen, die von außen gesehen abstrakt und leer ist und allenfalls zu jenem Mitläufertum verführen kann, dessen billige Konstatierung den Zurückgebliebenen ihr Verdikt erlaubt. Auch als Ersatz für die Forderung der Zeit aufs schöpferische Ingenium sich verlassen, das nach einer prästabilierten Harmonie aus sich hervorbringe, was die Forderung der Zeit sei, hilft nicht weiter. Sondern in die Dialektik des Materials ist die Freiheit des Komponisten miteingeschlossen und im konkreten Werk vollzieht sich die Kommunikation beider in Strenge, meßbar an dessen Stimmigkeit, die darum, so unvergleichlich sie gegen das andere Kunstwerk sein mag, in ihren kleinsten Zellen über Fortschritt und Reaktion ohne Rücksicht aufs andere Werk entscheidet. Bloß in seiner immanenten Stimmigkeit nämlich weist ein Werk als fortgeschritten sich aus. In jedem Werk zeigt das Material konkrete Forderungen an, und die Bewegung, mit der jede neue darin zutage kommt, ist die einzig verpflichtende Gestalt von Geschichte für den Autor. Stimmig aber ist ein Werk, das dieser Forderung vollständig genügt. Im fensterlosen, dichten Werk wird der Autor der Geschichte gewahr; im Anspruch, den das Werk an ihn richtet, und er legitimiert sich als fortgeschritten, wenn er die Stimmigkeit des Werkes realisiert, deren Möglichkeit objektiv im Werke angelegt ist.
Aller Kampf gegen ästhetische Reaktion hat sich also zentral in der immanenten Analyse der Werke zu vollziehen und nicht in vager Beurteilung von deren »Stil«. Dagegen werden Einwände laut, wie sie aller reaktionären Musik von heute geläufig sind und um so lieber gehandhabt werden, je ernster die Absicht der Reaktion. Es sei, heißt es zunächst, in jener Dialektik die Freiheit des Komponisten vergessen, der nicht als bloßer Exekutor materialer Gebote, sondern geradezu als souveräner Former auftrete. Es habe weiter ihm gegenüber die Materialdialektik ihre Grenze in sich selbst am »Ursinn« des Materials, der, ob auch in der Geschichte verzerrt und fast verloren, vom schöpferischen Künstler doch wieder ergriffen und restituiert werden könne. Beiden Einwänden ist wahrhaft angemessen nur an den Sachen selbst zu begegnen mit dem stringenten Aufweis, daß weder der Komponist materialunabhängig schalte, noch das Material seinem Ursinn nach wiederhergestellt werden könne. Bergs in strengsten technischen Kategorien ausgeführte Pfitzner-Polemik hat das Urbild solcher materialgerechten Kritik entworfen. Aber soweit die Reaktion nicht Werke bloß zeitigt, sondern auch in Theorie den geschichtlichen Konstellationen auszuweichen trachtet, läßt sich generell einiges erwidern. Zunächst leugnet eine Auffassung, die Fortschritt und Stimmigkeit des Werkes aneinander bindet, nicht die Freiheit des Komponisten. Sie bezeichnet nur vielmehr, daß der Ort jener Freiheit nicht jenseits der Objektivität des Werkes in den psychischen Akten des Künstlers gelegen sei, mit denen er ans Werk herantritt: in aller Freiheit des Psychischen kann ein Werk seiner materialen Konstitution nach gerade völlig unfrei, blinder Vollzug eines historischen Diktums sein. Um so freier ist ein Autor, je enger der Kontakt, in dem er mit seinem Material steht. Der von außen freiweg darüber schaltet, als fordere er nichts von ihm, verfällt ihm gerade, indem er es auf jener Stufe seiner Geschichtlichkeit hinnimmt, über die die neue materiale Forderung hinausweist, der er sich um seiner vermeintlichen Freiheit willen gerade widersetzt. Der aber dem Werke sich unterwirft und anscheinend nichts unternimmt, als ihm dorthin zu folgen, wohin es ruft, der fügt der geschichtlichen Konstitution des Werkes, wie sie in dessen Frage und Forderung gelegen ist, mit Antwort und Erfüllung ein Neues hinzu, das aus der geschichtlichen Gestalt des Werkes allein nicht folgt, und die Macht, in strenger Antwort die strenge Frage des Werkes aufzuheben, ist die wahre Freiheit des Komponisten. Alle Souveränität, mit der er von außen übers Material gebietet, gleitet übers Werk hin, ohne es zu durchdringen, und prallt von seinen Zentren ab, die unbehelligt bloße Schauplätze vergangener Geschichte bleiben. Erst in der Unterwerfung unters technische Diktat des Werkes lernt es der beherrschte Autor beherrschen.
Nicht anders steht es um die Restitution des »Ursinnes«. Der weitere Umkreis der gegenwärtigen Mittel, in dem sich gleichwie in einem durch Geschichte erschlossenen Horizont der Autor gegenüber der engeren Auswahl von Möglichkeiten bewegt, die er aus der Vergangenheit zitiert, wirkt auf die Mittel ein; deren Sinn, der affektive nicht bloß, sondern vor allem der formkonstruktive, hat sich gewandelt. Gesetzt also, es wolle ein Autor den »Ursinn« gewisser harmonischer Phänomene, wie sie bei Schubert begegnen, wiederherstellen; der Wendung von Dur nach Moll, der kleinen harmonischen Ausweichung bei formanalogen Stellen, des alterierten Akkordes; in der Absicht, all diese bei Schubert wahrhaft sinnvollen Elemente dem »Chaos einer Allerweltschromatik« zu entreißen, in das sie, an ihrer Ursprungsbedeutung gemessen, im neunzehnten Jahrhundert geraten scheinen. Dann ist ein Zweifaches möglich. Einmal nämlich: der Autor glaubt, den »Ursinn« jener Materialien der Vergangenheit im Umkreis der seitdem von Geschichte freigelegten, jenem »Ursinn« bereits entrückten durchzusetzen. Im Umkreis der neueren Mittel aber könnte der »Ursinn« der alten sich nicht behaupten. Entweder es wären die Dreiklangswirkungen, Mollrückungen, Ausweichungen, alterierten Akkorde gegenüber den stärkeren Dissonanzspannungen, der an akkordischen Typen weit reicheren Harmonik machtlos. Dann gingen sie, als Elemente unter anderen, in der Komposition unter und vom angestrebten Ursinn käme nichts zum Vorschein – zu schweigen davon, wie sich nun die älteren Momente zu der neueren Totalität schicken. Oder es würde dieser Ursinn durch die Formkonstruktion – da er in der bloß harmonischen Anlage gar nicht mehr kenntlich werden kann – eigens herausgehoben und akzentuiert. Dann wäre er willkürlich-ideologisch, nicht aus der Formanlage als solcher, sondern absichtsvoll in historischer Reminiszenz eingeführt, bestenfalls ein literarischer Effekt; für jeden Fall würde die Formimmanenz des Gebildes, die zu tilgen jedenfalls nicht Sache eines Autors ist, der, was er vorbringt, à la lettre meint, vor einem solchen harmonischen Ereignis zerfallen. In der Erkenntnis dieses Tatbestandes liegt die tiefste Rechtfertigung jenes musikalischen Stils, den ich nach Analogie mit Tendenzen aus Literatur und Malerei – und nur nach Analogie – den surrealistischen genannt habe; jenes Stils, wie er extrem heute wohl nur von Weill vertreten wird, wie er aber auch in gewissen Tendenzen des besten Strawinsky angelegt ist, der ja so wenig ein Surrealist heißen darf, wie in der Literatur Cocteau, aber doch so starke unterirdische Beziehungen zum Surrealismus hat wie jener und Picasso. Mit der psychologischen Erklärung aus »Ressentiment«, die Krenek im Milhaud-Aufsatz unternahm, dürfte das Phänomen nicht bewältigt sein. Ihm liegt vielmehr die Erkenntnis von der Unwiederherstellbarkeit jenes »Ursinnes« zugrunde, um den die gegenwärtige Verfahrungsweise Kreneks sich müht. Indem das surrealistische Komponieren die verfallenen Mittel nutzt, nutzt es sie als verfallene und gewinnt ihre Form aus dem »scandal«, den die Toten in ihrem plötzlichen Aufspringen unter Lebendigen hervorbringen. Daß die Formimmanenz über dem alten Mittel zerbricht, weiß der surrealistische Komponist – geht aber auf den Untergang jener Formimmanenz selber aus, der in der restaurativen Musik über deren Kopf weg gleichsam ihr bereitet wird. Die organische Formimmanenz freilich vermag auch der Surrealismus nicht zu halten; ob sie sich noch verteidigen läßt, muß insgesamt bezweifelt werden angesichts der Tatsache, daß auch die materialimmanente Dialektik in der Zwölftontechnik mit Konstruktion das organisch-vegetabilische Wesen von Musik in die Gewalt nimmt. Aber konstruktive Einheit jedenfalls vermag die surrealistische Technik zu stiften, stimmig gerade in ihrer erhellten, jäh exponierten Unstimmigkeit, Montage der Trümmer des Gewesenen. Vom wahrhaften »Sinn« der Phänomene, ihrem geschichtlich aktuellen und gegenwärtigen Ausdruck jetzt und hier, würde sie dabei nicht dementiert.
Die andere Möglichkeit restaurativen Verfahrens, seltener gehandhabt wegen des Verdachtes von Kunstgewerbe, der ihr anhaftet, aber in gewissen Produkten des deutschen Neoklassizismus doch deutlich vorgebildet, ist die der Stilkopie: daß auf die Konfrontation mit gegenwärtigen Mitteln völlig verzichtet, das Material in seiner »Reinheit« beschworen wird. Nicht nach Originalität oder Unoriginalität steht dabei die Frage, sondern nach der Möglichkeit überhaupt. Alle Stilkopien aber indizieren sich selber als solche und ihr Stil wird unvermittelt als »Stilisation« kenntlich. Jeder Stilkopie haftet die Aura der Mittel an, aus deren weiterem Bereich sie willkürlich isoliert wurde. Mag selbst dem philologischen Scharfsinn hie und da eine Stilkopie vollständig gelingen – selbst dies ist zu bezweifeln –, ihre Mittel sind allemal in sich so erstorben, daß auch die gelungenste Kopie es nicht vermöchte, zu neuem Leben sie aufzurufen. Der »Ursinn« aller musikalischen Funde haftet unwiederbringlich an ihrem ersten Auftreten. Wenn Schönberg davon sprach, daß Ortruds Ruf »Elsa« oder eine Stelle des Wohltemperierten Klaviers heute auf ihn mit der gleichen Frische wirkten wie am ersten Tage, dann haben sie ihre Frische allein der Macht des Ersten zuzuschreiben, mit der sie plötzlich, einer transparenten Schrift gleich, lesbar und notiert wurden. Was Natur sein mag an jenem Beginnen, empfängt das Siegel der Echtheit allein aus Geschichte. Geschichte geht ein in die Konstellationen der Wahrheit: wer ihrer geschichtslos teilhaft werden will, den schlagen die Sterne mit Verwirrung durch den toten Anblick ihrer sprachlosen Ewigkeit.
Der sprachlosen Ewigkeit die musikalischen Urbilder zu entreißen, ist die wahre Intention des Fortschrittes von Musik. Wie der gesellschaftliche Prozeß nicht an allen seinen einzelnen Fakten oder im Sinne durchgehender »Entwicklung« als Fortschritt zu deuten ist, sondern als Fortschritt der Entmythologisierung, so auch die Genesis von Musik in der Zeit. Mag im gegenwärtigen gesellschaftlichen Zustand ein Werk von der Dignität Beethovens oder gar Bachs radikal ausgeschlossen sein; mag jenen gegenüber der Einzelne heute nichts vermögen – und er vermag in den größten Werken der Epoche mehr als zugestanden wird –: das Material ist heller und freier geworden und den mythischen Bindungen der Zahl, wie sie Obertonreihe und tonale Harmonik beherrschen, für alle Zeit entrissen. Das Bild einer befreiten Musik, einmal so scharf gesichtet, wie es uns geschah, läßt sich wohl in der gegenwärtigen Gesellschaft verdrängen, deren mythischem Grunde es widerstreitet. Aber es läßt sich nicht vergessen und vernichten. Zum »Ursinn« führt der Weg nicht ins archaische Bilderreich, sondern in den Bereich der Bilder, die uns frisch erscheinen: hier dürfte der Begriff der Avantgarde, mit dem man in Deutschland heute nicht gern zu tun hat, seine beste Rechtfertigung finden. Wer aber fürchtet, es werde die Entmythologisierung der Musik, die wachsende Ermächtigung von Bewußtsein im musikalischen Umkreis um den Preis der qualitativen Differenzen und schließlich der Natur selber erkauft und ende im leeren Spiel, dem ist zu entgegnen. Die qualitativen Differenzen in der Musik waren geschrumpft gerade unter der Herrschaft ihres letzten und gewalttätigsten Naturprinzips, des Leittons und der Dominante. Seitdem deren Macht gebrochen, ist auch das »Allerweltschroma« dahin. Die Stufen auskonstruierter Zwölftontechnik stehen in qualitativen Differenzen zueinander, sind von verschiedener Wertigkeit, ohne daß diese Wertigkeit von den Obertonverhältnissen blind diktiert würde. Was endlich die Besorgnis um die Natur anlangt, so erinnert sie von fern an die Bestrebungen, die darauf ausgehen, die gefährdeten Volkstrachten zu erhalten. Was unveränderlich ist an der Natur, mag für sich selber sorgen. An uns ist es, sie zu verändern. Einer Natur aber, die trübe und schwer in sich beharrt und das Licht des erhellenden und erwärmenden Bewußtseins zu scheuen hat, ist füglich zu mißtrauen. In einer Kunst des realen Humanismus wird für sie kein Raum mehr sein.
Schönbergs Bläserquintett
Man hat das Bläserquintett bis heute ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Zwölftontechnik betrachtet. Mit Recht, denn als erstes von Schönbergs großen Werken kristallisiert es die neue Technik rein aus und erweist die Tragfähigkeit ihrer Prinzipien für die Konstitution symphonischer Form nach völliger Drangabe der Tonalität. Tatsächlich findet sich kein Ton in der Partitur, dessen Ort nicht durch jene Technik vorgezeichnet wäre, und es läßt sich verstehen, daß eine Betrachtung, die die Zwölftonstruktur des Werkes vollständig aufgezeigt hat, leicht zu dem Glauben führt, es sei das Quintett, wenigstens als musikalischer Organismus, damit deduziert. Der Glaube aber an die Deduzierbarkeit des Stücks aus seinen Zwölftonreihen wird leicht genug zum feindseligen Argument: wenn jeder Ton des Stücks deduzierbar ist, dann ist auch das ganze Stück deduzierbar. Die liebenswürdigen Konsequenzen liegen auf der Hand und sind so ausgiebig und subaltern gezogen worden, daß sie hier nicht referiert werden mögen.
Statt dessen ist zu fragen: ist das Quintett wirklich deduzierbar? Erschöpft es sich wirklich in seiner Zwölftönigkeit? Was bliebe etwa, nach Abzug aller Zwölftonereignisse, zurück?
Zunächst ließe sich vorbringen: daß die Aufstellung der Zwölftonreihen als solcher, die Bildung von Themen aus ihnen, ihre vertikale Anwendung, die Auswahl der Komplementärtöne selbst bereits eine Phantasieleistung sei, unableitbar ihrem Ursprung nach und einzig musikalischen, niemals mathematischen Gesetzen unterworfen.
Allein daran ist es nicht genug. Von dem genetischen Problem abgesehen, ob die Zwölftonereignisse als solche inspiriert sind oder nicht: die Ordnung des Tonmaterials, die die Zwölftontechnik bedeutet, umfaßt nur einen Bruchteil der musikalischen Relationen, die ein Stück ausmachen. Alles, was zur Rhythmik im weitesten Sinne rechnet: von der Bildung des Einzelmotivs bis zur Architektur der Totalform, ist aus Zwölftonreihen nicht zu konstruieren. Alle thematische Arbeit, soweit der Rhythmus teilhat an ihr, soweit etwa entschieden wird, was zu wiederholen, was zu ändern ist; damit aber auch alle Variation, geht in Zwölftonrelationen nicht auf. Das will nicht sagen, daß jene Schichten der kompositorischen Technik von der Zwölftönigkeit unberührt blieben. Schönberg kennt nicht mehrere voneinander unabhängige Techniken – wer Techniken hat, kann nichts – sondern eine allein, in der kein Verfahren isoliert steht. So weiß er gewiß auch der Zwölftönigkeit alle erdenklichen Wirkungen für Periodisierung und Architektur, für thematische Arbeit und Variierung abzuzwingen, so wie er, als er noch die Tonalität handhabte, stets ihre Mittel tektonisch, thematisch variativ ausnutzte – man denke an die Kammersymphonie –, und es soll nicht vergessen sein, daß Schönbergs Zwölftontechnik gerade in seiner Variationskunst ihren Ursprung hat. Aber es geht nicht an, die musikalische Entelechie, die jedes Werk von Schönberg darstellt, als Summe von Zwölftonereignissen aufzufassen, zwischen denen keine andere Beziehung waltet als ihre Zwölftönigkeit. Gibt man selbst, als Methode der nachzeichnenden Analysis, zu, daß schließlich die Betrachtung der Zwölftonstruktur auch zur Einsicht in thematischen Aufbau und Form der jüngsten Werke führe, so nur, legitimerweise, wenn man dagegen festhält: daß umgekehrt die Analysis ebensogut mit der Verfolgung der thematisch-formalen Verhältnisse, ohne Rücksicht auf die Zwölftönigkeit, anheben kann, um, vielleicht, bei deren Deskription zu enden.
Es wird also behauptet: zum Verständnis des Bläserquintetts seiner musikalischen Art nach genügt das Verständnis seiner thematisch-formalen Anlage ohne Rücksicht auf die Voraussetzung von Zwölftonzusammenhängen. Und weiter: dies thematisch-formale Verständnis befaßt den gleichen Reichtum einzig innermusikalisch determinierter, keinem Schema entspringender Zusammenhänge, wie er jemals nur in einem früheren Werke Schönbergs gefunden werden mochte, und wäre es selbst die Kammersymphonie.
Das Bläserquintett ist eine Sonate; kein Zufall ließ Schönberg für eine Transkription den Namen wählen. Die Rückkehr zur Sonate, obschon in mancher Hinsicht durch die Serenade vorbereitet, könnte befremden; hat doch Schönbergs harmonischmelodische Revolution die Sonate, als vorgesetztes Schema, gerade eben gesprengt, und die Zerstörung aller symmetrischen Harmonik, die aus seiner Formkritik resultierte, scheint umgekehrt die Konstitution einer Form zu verwehren, die in harmonischen Symmetrieverhältnissen ihren Grund hat. Indessen wird nicht versucht, die verlorene Symmetrie des tonalen Bezugssystems der Sonate willkürlich wieder einzuführen, und auch die Zwölftonreihen, die in der Formarchitektur hin und wieder als Elemente von Symmetrie stehen, sind nicht als Ersatz etwa des tonalen Modulationsschemas geplant; was allein schon daraus erhellt, daß die Reihen als solche niemals in der gleichen Weise dem Ohr kennbar gemacht werden, wie durch die Mittel der Kadenzierung vordem Deutlichkeit der Tonart angestrebt wurde. Es ist also im Quintett die Sonate um ihre harmonische Komponente reduziert: dem entspricht der vollständig lineare Satz, für den, wie in keinem früheren Werke Schönbergs, die Harmonie allemal nur Resultat, niemals Anlaß des thematisch konstruktiven Gefüges ist. Damit ist zugleich die völlig veränderte Bedeutung der Sonatenform im Quintett gesetzt. Die Sonatenstruktur folgt darin aus den thematischen Relationen, der Aufstellung der Themen mit ihren kontrastierenden oder korrespondierenden Charakteren, der Art der Vermittlung zwischen ihnen und ihrer kombinatorischen Durchführung, ihrer Verschiedenheit nicht bloß dem melodischen (Reihen-)Material, sondern auch der Architektur der Themen in sich nach. So etwa bezeichnet es gut den Stil des Quintetts, wenn im ersten Satz das erste Thema als lange, weitgeschwungene Melodie auftritt, motivisch zwar gebunden, aber doch der rhythmischen Totalanlage nach frei, während der Seitensatz aus einem kurzen rhythmisch prägnanten, häufig wiederholten Motiv gebildet wird. Ähnlich war nun zwar Schönberg bei der Einteilung der Expositionskomplexe des d-moll-Quartetts verfahren, und alle tektonisch-thematischen Eigentümlichkeiten des Quintetts mögen in der tonalen Sonate ihren Ursprung haben. Aber ihr Form-Sinn hat sich radikal verwandelt, und jene Wandlung ist es, die die vermeintliche Rückkehr zur Sonate im Quintett wesentlich legitimiert. Während nämlich einstmals jene tektonischen Momente Hilfsmittel waren, zwischen den harmonisch-modulatorischen Tendenzen eines Satzes und der Form, die ihm vorgezeichnet ist, Einheit zu stiften, sind sie mit dem Fortfall jener – expressiven – Tendenzen ins Zentrum der Sonate gerückt. Wie die harmonischen Strebungen ist auch das vorgesetzte Sonatenschema eliminiert. Die gesprengte Sonate wird, zum zweiten Male gleichsam, erzeugt mit der Technik einer vollständigen thematischen Ökonomie. Damit ist sie bis ins Innerste verwandelt. Aus einem Form-Raum, der thematische Inhalte unter sich befaßt, ist sie zum Konstruktionsprinzip geworden, das mit der thematischen Struktur unmittelbar identisch ist. Wenn bei früheren Werken von Schönberg konstatiert werden durfte, daß die Differenz zwischen Einfall und Arbeit fortfiel, so war die Indifferenz zwischen Thema und Form wesentlich durch Modifikationen der Form garantiert: die derart ihrer vorgegebenen Objektivität entrissen, den Erfordernissen des thematisch Einzelnen angenähert wurde, daß sie im thematisch Einzelnen aufging. Im Quintett ist die Sonate selbst vom thematisch konstruktiven Willen gefaßt, die Indifferenz zwischen Sonatenform und Sonatenthema erreicht. Das will nicht heißen, daß hier Adäquation zwischen beiden zum ersten Male gefunden worden sei: bei Beethoven ist sie geleistet. Aber die Sonate hat beim jüngsten Schönberg aufgehört, eine für sich beständige Form zu sein, der die Themen entsprechen. Sie ist untergegangen vielmehr in der thematischen Konstruktion und wird wiedergebracht von ihr. Als Schönberg unter dem Zwang seiner harmonisch-kontrapunktischen Emanzipation die Kritik der Sonate begann, war die Form noch so mächtig, daß in ihr die Verwandlung der Mittel, die die Intention erheischte, sich nicht vollziehen ließ. Die Sonatenform fiel darum. Sie aber hatte, mit der Idee der Durchführung, selbst einen entscheidenden Anstoß zum Bruch mit dem tonalen Bezugssystem geliefert. So konnte es geschehen, daß, nachdem die harmonisch symmetrischen Schranken der Sonate definitiv gefallen waren, die Kritik der Sonate endlich auf sie zurückschlug, in ihr sich erfüllte. Die Kraft der sprengenden Monade reicht aus, die Sonate, die sie zerschlug, aus sich neu zu entlassen. Der Weg Schönbergs ist in einer Spirale zur Sonate zurückgekehrt.
Das erst klärt den Formcharakter des Quintetts ganz auf. Es ist keine Sonate schlechthin, keine nachträgliche Angleichung an ein objektiv verlorenes ontologisches Postulat; es ist statt dessen, wenn man will, eine Sonate über die Sonate, die vollends durchsichtig wurde und deren schwindendes Formwesen in gläserner Reinheit nachkonstruiert ist; und dieser überschauende, definitive, der Zufälligkeit einer im Rahmen geltender Form sich vollziehenden Individuation weit enthobene, allein auf das offenbare Formwesen gerichtete Erkenntnisstand des Quintetts macht seine Schwierigkeit aus; nicht die Zwölftonselektion. Im Quintett ist die Sonate sich selbst evident geworden; darum fürchten die Hörer für das Leben der Sonate. Sie hat aufgehört, als objektives Bestimmungsprinzip oberhalb der musikalischen Einzelereignisse isoliert zu gelten; sie ist hereingezogen in jene. Sie hat zugleich jedoch aufgehört, den musikalischen Einzelereignissen sich anzuschmiegen und nach deren besonderem Sinn sich zu spezifizieren. Ihre Allgemeinheit selber ist zum musikalischen Einzelereignis geworden; kein anderes hat in ihr mehr Platz. Es ist, mit einem Gleichnis aus der Sprache der Philosophie zu reden, als ob im Quintett das transzendentale Schema der Sonate, die Bedingung ihrer Möglichkeit überhaupt, nicht etwa mehr, wie früher, inhaltlich erfüllt, sondern als Inhalt seiner selbst unmittelbar dargestellt wäre. Die Sonate ist ihrem dunklen emotionalen Grunde entrissen, in guter Rationalität erhellt. Wie die Zwölftönigkeit die triebmäßig naturale Harmonik, die mit Leitton und Kadenz operierende Tonalität rational auflöst, so löst die Form des Quintetts den triebmäßigen, der tonalen Harmonik zugeordneten, naturalen Ursprung der Sonate zur wahren Stunde auf. Damit ist die eingangs behauptete Identität des Zwölfton- und des thematischen Konstruktionsprinzips gefunden, ohne daß auf die Zwölftontechnik eigens rekurriert worden wäre.
Verfremdetes Hauptwerk
Zur Missa Solemnis
Neutralisierung der Kultur – das hat den Klang eines philosophischen Begriffs. Er zeigt mehr oder minder allgemeine Reflexion darauf an, daß geistige Gebilde ihre Verbindlichkeit eingebüßt haben, weil sie aus jeder möglichen Beziehung zur gesellschaftlichen Praxis sich lösten und das wurden, was ihnen die Ästhetik nachträglich zugute schreibt, Gegenstände reiner Anschauung, bloßer Kontemplation. Als solche verlieren sie schließlich auch ihren eigenen, den ästhetischen Ernst; mit ihrer Spannung zur Realität zergeht auch ihr künstlerischer Wahrheitsgehalt. Sie werden Kulturgüter, ausgestellt in einem weltlichen Pantheon, in dem das Widersprechende, Werke, die sich gegenseitig totschlagen möchten, falsch-friedlich nebeneinander Raum finden, Kant und Nietzsche, Bismarck und Marx, Clemens Brentano und Büchner. Dies Wachsfigurenkabinett großer Männer bekennt dann schließlich in den ungezählten unbetrachteten Bildern eines jeglichen Museums, in den Klassikerausgaben geizig abgeschlossener Bücherschränke seine Trostlosigkeit ein. So sehr aber das Bewußtsein von all dem mittlerweile sich verbreitet hat, so schwierig ist es, sieht man etwa von der Biographienmode ab, die jeder Königin und jedem Mikrobenjäger eine Nische reserviert, das Phänomen bündig zu bestimmen; denn da ist kein überzähliger Rubens, an dem nicht doch der Kenner die Inkarnate bewundern würde, und kein Hausdichter Cottas, in dem keine unzeitgemäß gelungenen Verse auf die Auferstehung lauerten. Zuweilen jedoch läßt sich ein Werk benennen, an dem die Neutralisierung der Kultur schlagend wird; eines gar, das noch dazu den größten Ruhm genießt, das seinen unbestrittenen Platz im Repertoire hat, während es rätselhaftunverständlich bleibt und, was immer auch es in sich verschließt, der populären Bewunderung, die man ihm zollt, keinerlei Stütze bietet. Ein solches Werk ist kein geringeres als Beethovens Missa Solemnis. Von ihr im Ernst zu reden, kann nichts anderes heißen, als sie, nach Brechts Ausdruck, zu verfremden; die Aura beziehungsloser Verehrung zu durchbrechen, die sie schützend umgibt, und damit vielleicht etwas beizutragen zu ihrer authentischen Erfahrung jenseits des lähmenden Respekts der Bildungssphäre. Der Versuch dazu bedarf als seines Mediums notwendig der Kritik; Qualitäten, welche das herkömmliche Bewußtsein unbesehen der Missa Solemnis zuschreibt, sind zu prüfen, um vorzubereiten zu einer Erkenntnis ihres Gehalts, die heute freilich erst Aufgabe, ganz gewiß von keinem schon geleistet ist. Dies Bemühen hat nicht den Sinn des debunking, des Herunterreißens approbierter Größe um des Herunterreißens willen. Der desillusionierende Gestus, der von der Prominenz dessen zehrt, wogegen er sich richtet, ist eben damit der Prominenz selber hörig. Sondern Kritik kann, einem Werk solchen Anspruchs gegenüber und angesichts von Beethovens gesamtem œuvre, nichts anderes sein als ein Mittel zur Entfaltung des Werks; die Erfüllung einer Pflicht der Sache gegenüber, nicht die hämische Befriedigung, daß wieder einmal etwas weniger in der Welt zu achten sei. Darauf hinzuweisen ist notwendig, weil die neutralisierte Kultur selber dafür sorgt, daß, während die Gebilde nicht mehr ursprünglich wahrgenommen, sondern bloß noch als sozial bestätigte konsumiert werden, die Namen ihrer Autoren tabu sind. Wut stellt automatisch sich ein, wo die Besinnung über die Sache an die Autorität der Person zu rühren droht.
Dem ist vorweg die Spitze abzubrechen, wenn man sich anschickt, einiges Ketzerische über eine Komponisten der obersten Autorität zu sagen, an Gewalt einzig der Philosophie Hegels vergleichbar und nicht minder groß zu einer Zeit, die seine geschichtlichen Voraussetzungen unwiederbringlich verlor. Beethovens Macht aber, eine von Humanität und Entmythologisierung, fordert gerade von sich aus die Zerstörung mythischer Tabus. Im übrigen sind kritische Überlegungen zur Missa in unterirdischer Tradition unter Musikern recht lebendig. Wie diese stets schon etwa wußten, daß Händel kein Bach, oder daß es um die eigentlich kompositorischen Qualitäten Glucks fragwürdig bestellt ist, während nur die Scheu vor der etablierten öffentlichen Meinung sie schweigen ließ, so wissen sie, daß es mit der Missa Solemnis seine sonderbare Bewandtnis hat. Wenig Eindringendes ist denn auch über die Missa geschrieben worden. Das meiste bescheidet sich bei allgemeinen Bekundungen der Ehrfurcht für ein unsterbliches chef-d'œuvre, denen man die Verlegenheit anmerkt, nun wirklich zu sagen, was dessen Größe ausmacht; die Neutralisierung der Missa zum Kulturgut wird gespiegelt, nicht durchbrochen. Am ehesten hat Hermann Kretzschmar, der zu einer Musikhistorikergeneration zählt, welche die Erfahrungen des neunzehnten Jahrhunderts noch nicht verdrängte, über die Missa zu staunen sich gestattet. Seinem Bericht zufolge hinterließen die früheren Aufführungen des Werkes, vor seiner Aufnahme in die offizielle Walhalla, keinen bleibenden Eindruck. Er sieht die Schwierigkeit vor allem in Gloria und Credo und begründet sie mit dem Reichtum kurzer musikalischer Bilder, welche des Hörers bedürften, um zur Einheit gebracht zu werden. Kretzschmar hat damit wenigstens eines der befremdenden Symptome genannt, welche die Missa hervorkehrt; freilich übersehen, wie es mit dem Wesentlichen der Komposition zusammenhängt, und daher auch gemeint, die Verklammerung durch kraftvolle Hauptthemen in den beiden großen Sätzen genüge, der Schwierigkeit Herr zu werden. Das aber ist so wenig der Fall, wie etwa der Hörer die Missa bewältigt, sobald er nur, getreu den großen Beethovenschen Symphoniesätzen, konzentriert in jedem Augenblick das Vorhergehende sich vergegenwärtigt und damit der Entstehung der Einheit aus der Mannigfaltigkeit folgt. Ihre Einheit selber ist von ganz anderem Schlag als die der produktiven Einbildungskraft in Eroica und Neunter Symphonie. Man begeht kaum ein Verbrechen, wenn man daran zweifelt, ob diese Einheit überhaupt ohne weiteres sich verstehen läßt.
Tatsächlich befremdet das historische Schicksal des Werkes. Zu Beethovens Lebzeiten dürfte es nur zweimal aufgeführt worden sein, einmal 1824 in Wien, zusammen mit der Neunten Symphonie, aber unvollständig; dann im selben Jahr vollständig in Petersburg. Bis zu Beginn der sechziger Jahre blieb es bei vereinzelten Wiedergaben; mehr als dreißig Jahre nach dem Tod des Komponisten erst errang es sich seine gegenwärtige Stellung. Die Schwierigkeiten der Interpretation – es sind vorab solche der Stimmbehandlung, keineswegs, in den meisten Teilen, besondere musikalische Komplexität – reichen kaum hin, das zu erklären; die in vieler Hinsicht weit exponierteren und anspruchsvolleren letzten Quartette haben, im Gegensatz zur Legende, von Beginn angemessene Aufnahme gefunden. Dabei hat Beethoven, in auffallendem Unterschied zu seiner Gepflogenheit, seine Autorität für die Missa unmittelbar eingesetzt. Er bezeichnete sie, als er sie zur Subskription anbot, als l'œuvre le plus accompli, sein gelungenstes Werk, und setzte über das Kyrie die Worte »Von Herzen – möge es zu Herzen gehen«; ein Bekenntnis, wie man es sonst in den gedruckten Ausgaben Beethovens vergebens sucht. Man wird seine Haltung dem eigenen Werk gegenüber weder gering anschlagen dürfen noch sie blind akzeptieren. Der Ton jener Äußerungen ist beschwörend: so als hätte Beethoven etwas von dem Ungreifbaren, Spröden und Rätselvollen der Missa gespürt und versucht, durch die Gewalt seines Willens, wie sie sonst den Duktus seiner Musik selber prägt, sie von außen her denen aufzuzwingen, denen sie selber nicht ebenso sich aufzwingt. Vorstellbar freilich wäre das nicht, enthielte das Werk nicht wahrhaft ein Geheimnis, um dessentwillen Beethoven zu solchem Eingriff in die Geschichte seines Werkes sich legitimiert glaubte. Als es dann aber wirklich, wie man so sagt, sich durchsetzte, half ihm vermutlich schon das mittlerweile unbefragte Prestige des Komponisten. Man würdigte sein sakrales Hauptstück als Schwesterwerk zur Neunten Symphonie, nach dem Schema von des Kaisers neuen Kleidern, ohne zu wagen, Fragen zu äußern, durch die der Fragende bloß noch des Mangels an Tiefe sich bezichtigt hätte.
Einbürgern hätte die Missa schwerlich sich können, wenn sie drastisch, wie etwa der Tristan, durch Schwierigkeit schockiert hätte. Das nun aber ist nicht der Fall. Sieht man von den zuweilen ungewohnten Zumutungen an die Singstimme ab, die sie mit der Neunten Symphonie teilt, so enthält sie wenig, was nicht im Umkreis der überlieferten musikalischen Sprache bliebe. Sehr große Teile sind homophon, und auch die Fugen und Fugati fügen sich durchweg reibungslos dem Generalbaßschema. Die Fortschreitungen der harmonischen Stufen, und damit der Oberflächenzusammenhang, sind kaum je problematisch; die Missa Solemnis ist weit weniger gegen den Strich komponiert als die letzten Quartette und die Diabelli-Variationen. Sie fällt überhaupt nicht unter den Stilbegriff des letzten Beethoven, wie er von jenen Quartetten und Variationen, den fünf späten Sonaten und späten Bagatellenzyklen abgeleitet ist. Eher zeichnet die Missa durch gewisse archaisierende Momente der Harmonik, einen kirchentonalen Einschlag sich aus als durch avancierte Kühnheit nach Art der großen Quartettfuge. Beethoven hat stets nicht bloß die kompositorischen Gattungen weit strenger auseinandergehalten, als man vermutet, sondern in ihnen auch gleichsam zeitlich verschiedene Stadien seines œuvre verkörpert. Sind die Symphonien, trotz oder gerade wegen des reicheren Apparats des Orchesters, in vielem Betracht einfacher als die große Kammermusik, so fällt die Neunte Symphonie aus dem Spätstil geradezu heraus und wendet sich retrospektiv zum klassischen symphonischen Beethoven zurück, ohne die Kanten und Schründe der letzten Quartette. Er hat in seiner Spätzeit nicht, wie man denken möchte, blind dem Diktat des inneren Ohrs gehorcht und dem sinnlichen Aspekt seines Werkes sich zwangshaft entfremdet, sondern souverän über alle Möglichkeiten verfügt, die in der Geschichte seines Komponierens erwachsen waren; die Entsinnlichung war nur eine von ihnen. Die Missa hat einzelne Abruptheiten, das Aussparen von Übergängen, mit den letzten Quartetten gemein; sonst wenig. Insgesamt zeigt sie einen dem vergeistigten Spätstil genau entgegengesetzten, sinnlichen Aspekt, eine Neigung zum Prunkvollen und klanglich Monumentalen, die ihm sonst meist abgeht. Technisch wird dies Moment verkörpert von dem in der Neunten den Augenblicken der Ekstase vorbehaltenen Verfahren, Vokalstimmen durch melodieführendes Blech, vor allem Posaunen, aber auch Hörner, zu verdoppeln. Verwandten Sinnes sind die häufigen lapidaren Oktaven, gekoppelt mit harmonischen Tiefenwirkungen, vom Typus des allbekannten »Die Himmel rühmen des Ewigen Ehre«, entscheidend im »Ihr stürzt nieder« der Neunten Symphonie, später einem wichtigen Ingrediens Bruckners. Sicherlich waren es nicht zum geringsten Teil diese sinnlichen Glanzlichter, ein Hang zum klanglich Überwältigenden, die der Missa ihre Autorität verschafften und den Hörern übers eigene Unverständnis hinweghalfen.
Die Schwierigkeit ist höherer Art, eine des Gehalts, des Sinnes dieser Musik. Man wird, worum es sich handelt, vielleicht am einfachsten sich vergegenwärtigen, wenn man sich fragt, ob man, als Ununterrichteter, wohl überhaupt die Missa, von vereinzelten Teilen abgesehen, als Werk Beethovens erkennen würde. Spielte man sie solchen vor, die noch nichts daraus gehört haben, und ließe sie den Komponisten raten, man hätte einige Überraschungen zu gewärtigen. So wenig die sogenannte Handschrift eines Komponisten ein zentrales Kriterium ausmacht, so sehr verweist doch ihr Fehlen darauf, daß etwas nicht geheuer sei. Geht man dem nach, indem man sich unter Beethovens anderen Kirchenwerken umschaut, so begegnet man jener Absenz der Beethovenschen Handschrift wieder. Bezeichnend, wie sehr diese anderen in Vergessenheit gerieten, wie schwer es fällt, »Christus am Ölberg« oder die keineswegs frühe C-Dur-Messe op. 86 auch nur aufzutreiben. Die letztere könnte im Gegensatz zur Missa kaum auch nur in einzelnen Stellen oder Wendungen Beethoven zugeschrieben werden. Ihr unbeschreiblich zahmes Kyrie ließe allenfalls einen schwachen Mendelssohn vermuten. Durchweg jedoch eignen ihr Züge, die dann in der weit anspruchsvolleren, geformteren und größer angelegten Missa wiederkehren; Auflösung in oftmals kurze, keineswegs symphonisch integrierte Partien, Mangel an schlagenden thematischen »Einfällen«, wie sie jedes Beethovensche Werk sonst benutzt, und an ausladenden dynamischen Entwicklungen. Die C-Dur-Messe liest sich, als hätte Beethoven schwer den Entschluß gefaßt, in eine ihm wesentlich fremde Gattung sich einzufühlen; als hätte sein Humanismus gegen die Heteronomie des überlieferten liturgischen Textes sich gesträubt und dessen Komposition einer Routine überantwortet, die dem Genius abging. Um ans Rätsel der Missa überhaupt sich heranzutasten, wird man wohl an dies Moment seiner früheren Kirchenmusik sich erinnern müssen. Nun freilich wird es zum Problem, an dem seine Kraft sich abarbeitet; aber es hilft etwas vom beschwörenden Wesen der Missa zu benennen. Es ist nicht zu trennen von der Paradoxie, daß Beethoven überhaupt eine Messe komponierte; verstünde man ganz, warum er es tat, man verstünde wohl auch die Missa.
Üblich ist es, von ihr zu behaupten, sie gehe weit über die traditionelle Messeform hinaus, führe ihr den gesamten Reichtum des säkularen Komponierens zu; noch in dem jüngst von Rudolf Stephan herausgegebenen Musikband des Fischer-Lexikons, der sonst mit vielen Convenus aufräumt, wird dem Stück »außerordentlich kunstreiche thematische Arbeit« nachgerühmt. Soweit von solcher Arbeit in der Missa die Rede sein kann, benutzt sie eine bei Beethoven exzeptionelle Methode kaleidoskopischen Schüttelns und nachträglicher Kombination. Die Motive verändern sich nicht mit dem dynamischen Zug der Komposition – sie hat keinen –, sondern tauchen in wechselnder Belichtung, doch identisch, stets wieder auf. Der Gedanke von der gesprengten Form mag sich allenfalls auf die äußeren Dimensionen beziehen, und an sie wird Beethoven gedacht haben, als er die konzertmäßige Aufführung in Betracht zog. Keineswegs aber bricht die Missa durch subjektive Dynamik aus der vorgeordneten Objektivität des Schemas aus oder erzeugt gar im symphonischen Geist – eben dem thematischer Arbeit – die Totalität aus sich heraus. Vielmehr reißt der konsequente Verzicht auf all das die Missa aus jeder unmittelbaren Verbindung mit Beethovens übriger Produktion, mit Ausnahme eben seiner früheren Kirchenkompositionen. Die innere Zusammensetzung dieser Musik, ihre Fiber, ist von allem, was Beethovens Stil dünkt, radikal verschieden. Sie ist selber archaistisch. Die Form wird nicht durch entwickelnde Variation aus Motivkernen gewonnen, sondern addiert sich aus meist in sich imitatorischen Abschnitten, ähnlich allenfalls wie bei den Niederländern um die Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts, von denen es dahinsteht, wie weit Beethoven sie kannte. Die Formorganisation des Ganzen ist nicht die eines Prozesses aus eigener Schwungkraft, nicht dialektisch, sondern will durch Balance der einzelnen Abschnitte der Sätze, schließlich dann durch kontrapunktische Verklammerungen herbeigeführt werden. Danach richten sich alle befremdenden Charakteristika. Daß Beethoven in der Missa auf Beethoventhemen verzichtet – wer könnte wohl etwas aus ihr singend zitieren wie aus irgendeiner seiner Symphonien oder aus dem Fidelio –, schreibt sich vom Ausschluß des Durchrührungsprinzips her: nur wo ein aufgestelltes Thema durchgeführt wird, also in seiner Veränderung kennbar sein muß, bedarf es der plastischen Gestalt; ihre Idee war wie der Missa so auch der mittelalterlichen Musik fremd. Man braucht nur das Bachsche Kyrie mit dem Beethovenschen zu vergleichen: in Bachs Fuge eine unvergleichlich einprägsame Melodie, welche die Vorstellung der Menschheit als eines unter schwerster Last gebeugt sich dahinschleppenden Zuges suggeriert; bei Beethoven melodisch kaum profilierte Komplexe, welche die Harmonie nachzeichnen und mit dem Gestus des Monumentalen den Ausdruck vermeiden. Der Vergleich führt auf ein rechtes Paradoxon. Bach, nach der gängigen, wenn auch fragwürdigen Ansicht die objektivgeschlossene musikalische Welt des Mittelalters noch einmal zusammenfassend, hatte die Fuge wenn nicht geschaffen, so jedenfalls auf ihre reine, authentische Form gebracht. Sie war ebenso sein Produkt, wie er das Produkt ihres Geistes ist. Er stand unmittelbar zu ihr. Daher haben viele seiner Fugenthemen, mit Ausnahme vielleicht der spekulativen Spätwerke, eine Art von Frische und Spontaneität, wie nur nachmals die kantabeln Einfälle der subjektiven Komponisten. Zur geschichtlichen Stunde Beethovens ist jene musikalische Ordnung dahin, deren Abglanz Bach noch die Apriorien seines Komponierens vorgab und damit einen Einklang des musikalischen Subjekts mit den Formen, die etwas wie Naivetät im Schillerschen Sinn gestattete. Für Beethoven ist die Objektivität der musikalischen Formen, mit der die Missa operiert, mittelbar, problematisch, Gegenstand der Reflexion. Der erste Teil seines Kyrie nun nimmt Beethovens eigenen Standpunkt subjektiv-harmonischen Wesens ein; aber indem er sogleich in den Horizont der sakralen Objektivität gerückt wird, empfängt auch er einen vermittelten, von der kompositorischen Spontaneität getrennten Charakter: er wird stilisiert. Darum ist der schlichte harmonische Anfangsteil der Missa weiter weg, weniger beredt als der kontrapunktisch-gelehrte bei Bach. Das gilt erst recht für die eigentlichen Fugen-und Fugatothemen der Missa. Sie haben etwas eigentümlich Zitierendes, nach Modellen Errichtetes; man könnte, analog zu einem in der Antike verbreiteten literarischen Brauch, von kompositorischen Topoi reden, von der Behandlung des musikalischen Augenblicks nach latenten Mustern, an denen der objektive Anspruch sich kräftigen soll. Das wohl ist verantwortlich für das seltsam Ungreifbare, dem primären Vollzug Entzogene, das diesen Fugenthemen eignet und dann auch ihrer Fortspinnung sich mitteilt. Der erste fugierte Teil der Missa, das Christe eleison in h-moll, bietet bereits ein Beispiel dafür und zugleich eines für den archaisierenden Ton.
Überhaupt steht das Werk wie zu aller subjektiven Dynamik so auch zum Ausdruck distanziert. Das Credo eilt gleichsam über das Crucifixus – bei Bach eines der expressiven Hauptstücke – hinweg, wenngleich nicht ohne es durch einen höchst auffallenden Rhythmus zu markieren, und erst bei dem Et sepultus est, also nach dem Ende des Leidens selber, wird, wie im Gedanken an die Hinfälligkeit des Menschenwesens anstatt dessen an die Passion Christi, ein expressiver Schwerpunkt erreicht, ohne daß dem Kontrast des folgenden Et resurrexit jenes Pathos zugemessen wäre, das an der analogen Stelle bei Bach nach dem Äußersten greift. Nur ein Abschnitt, der denn auch der berühmteste des Werkes geworden ist, macht eine Ausnahme, das Benedictus, dessen Hauptmelodie gleichsam die Stilisation suspendiert. Das Präludium dazu ist ein Stück so abgründiger harmonischer Proportionen wie nur die zwanzigste Diabelli-Variation; die Benedictus-Melodie selber aber, die man nicht ohne Grund als Eingebung gerühmt hat, klingt an das Variationsthema des Es-Dur-Quartetts op. 127 an. Das ganze Benedictus gemahnt an jenen Brauch, den man spätmittelalterlichen Künstlern nachsagt: die an ihren Sakramentshäuschen irgendwo ihr eigenes Bild angebracht haben sollen, auf daß sie nicht vergessen würden. Aber selbst das Benedictus bleibt der peinture des Ganzen treu. Es ist abschnittsweise, nach »Intonationen« gegliedert wie die anderen Stücke, und die Polyphonie umschreibt stets bloß als uneigentliche die Akkorde. Das wiederum hängt mit der planvollen thematischen Unverbindlichkeit des Kompositionsverfahrens zusammen: sie erlaubt es, die Themen imitatorisch zu behandeln und doch prinzipiell harmonisch zu denken, wie es dem homophonen Grundbewußtsein Beethovens und seiner Epoche entspricht: das Archaisieren möchte die Grenzen der Beethoven offenen musikalischen Erfahrung respektieren. Die große Ausnahme ist das Et vitam venturi des Credo, in dem Paul Bekker mit Recht den Kern des Ganzen erblickt hat, eine polyphon voll entfaltete Fuge, in Einzelheiten, zumal harmonischen Wendungen dem Finale der Hammerklaviersonate verwandt und auf große Entwicklung aus; darum melodisch auch ganz explizit und bis ins Extrem von Intensität und Stärke gesteigert; dies Stück wohl das einzige, dem das Epitheton des Sprengenden gebührt, nach Kompliziertheit und für die Ausführung das schwierigste, durch die Unmittelbarkeit der Wirkung aber neben dem Benedictus das leichteste.
Kein Zufall, daß der transzendierende Augenblick der Missa Solemnis sich nicht auf den mystischen Gehalt der Transsubstantiation, sondern auf die Hoffnung ewigen Lebens für die Menschen bezieht. Die Rätselfigur der Missa Solemnis: das ist der Einstand zwischen einer archaistischen, die Beethovenschen Errungenschaften unerbittlich opfernden Verfahrungsweise und einem menschlichen Ton, der gerade der archaischen Mittel zu spotten scheint. Jene Rätselfigur, die Verbindung der Idee des Menschlichen mit finsterer Ausdrucksscheu, läßt vielleicht sich dechiffrieren durch die Annahme, es sei schon in der Missa selber ein Tabu spürbar, das dann ihre Rezeption bezeichnet: eines über der Negativität des Daseins, wie es nur aus Beethovens verzweifeltem Willen zur Rettung abzuleiten wäre. Ausdrucksvoll ist die Missa überall dort, wo sie die Rettung anredet, wo sie buchstäblich beschwört; den Ausdruck schneidet sie meist dort ab, wo Übel und Tod im Messetext ihren Ort haben, und gerade durchs Verschweigen bezeugt sie die heraufdämmernde Übergewalt des Negativen; Verzweiflung durch die Scheu, sie laut werden zu lassen. Das Dona nobis pacem übernimmt gewissermaßen die Last des Crucifixus. Demgemäß werden auch die ausdruckstragenden Mittel zurückgestaut. Ausdruckstragend ist nicht die Dissonanz, oder nur höchst selten, wie im Sanctus vor dem Allegro-Einsatz des Pleni sunt coeli; der Ausdruck heftet sich vielmehr ans Archaische, an kirchentonale Stufenfolgen, den Schauer des Gewesenen, so als wolle das Leiden in Vergängnis gerückt werden: expressiv ist in der Missa nicht das Moderne, sondern das Uralte. Die Idee des Menschlichen behauptet sich in ihr, verwandt dem späten Goethe, nur vermöge krampfhafter, mythischer Verleugnung des mythischen Abgrunds. Sie ruft die positive Religion um Hilfe, wie wenn das einsame Subjekt sich nicht mehr zutraute, von sich aus, als reines Menschenwesen, das andrängende Chaos von Naturbeherrschung und aufbegehrender Natur zu beschwichtigen. Zur Erklärung dessen, daß der bis zum äußersten emanzipierte, auf den eigenen Geist gestellte Beethoven zur überlieferten Form sich neigte, reicht der Rekurs auf seine subjektive Frömmigkeit so wenig hin wie umgekehrt die Bildungsphrase, seine Religiosität habe in dem Werk, das sich ja mit eifernder Disziplin dem liturgischen Zweck einordnet, übers Dogma zu einer Art allgemeiner Religiosität sich geweitet, und seine Messe wäre eine für Unitarier. Bekundungen subjektiver Frömmigkeit im Verhältnis zur Christologie jedoch hat das Werk unterdrückt. An der Stelle, wo die Liturgie das »Ich glaube« unverrückbar diktiert, hat Beethoven, nach Steuermanns frappanter Beobachtung, das Gegenteil solcher Gewißheit verraten, indem das Fugenthema das Wort Credo wiederholt, so als müßte der Einsame durch dessen mehrmalige Anrufung sich selbst und den andern beteuern, er glaube auch wirklich. Weder ist die Religiosität der Missa, wenn anders man umstandslos davon sprechen darf, die des im Glauben Geborgenen noch eine Weltreligion so idealistischen Wesens, daß sie zu glauben vom Subjekt nichts verlangte. Ihm geht es, in späterer Sprache ausgedrückt, darum, ob Ontologie, die objektive geistige Ordnung des Seins, überhaupt noch möglich sei; um ihre musikalische Rettung im Stande des Subjektivismus, und der Rückgriff auf die Liturgie soll sie bewirken wie nur beim Kritiker Kant die Anrufung der Ideen Gott, Freiheit und Unsterblichkeit. In seiner ästhetischen Gestalt fragt das Werk, was und wie vom Absoluten ohne Trug sich singen ließe, und darüber ereignet sich jene Schrumpfung, die es entfremdet und der Unverständlichkeit annähert; wohl gar weil die Frage, die es sich stellt, der bündigen Antwort auch musikalisch sich weigert. Das Subjekt in seiner Endlichkeit bleibt verbannt; der objektive Kosmos ist als verpflichtender nicht länger vorzustellen; so balanciert die Missa auf einem Indifferenzpunkt, der dem Nichts sich annähert.
Ihr humanistischer Aspekt ist mit der akkordischen Fülle des Kyrie definiert und reicht bis zur Konstruktion des Schlußstücks, des Agnus Dei, das angelegt ist auf das Dona nobis pacem hin, die Bitte um inneren und äußeren Frieden, wie Beethoven, abermals in deutschen Worten, das Stück überschreibt, das noch einmal expressiv ausbricht nach der von Pauken und Trompeten allegorisch vorgestellten Kriegsdrohung. Schon bei dem Et homo factus est erwärmt sich die Musik wie unter einem Hauch. Das aber sind Ausnahmen: meist zieht sie sich in Stil und Ton trotz aller Stilisierung auf ein Unausgesprochenes, Undefiniertes zurück. Resultante der in ihr einander widersprechenden Kräfte, ist dieser Aspekt wohl dem Verständnis am meisten im Wege. Undynamisch-flächig gedacht, gliedert sich die Missa gleichwohl nicht nach vorklassischen »Terrassen«, sondern verwischt vielfach die Konturen; kurze Einschiebungen münden oft weder ins Ganze noch stehen sie für sich allein, sondern verlassen sich auf ihre Proportion zu anderen Teilen. Der Stil ist dem Geist der Sonate konträr und doch nicht sowohl kirchlich-traditionell als säkular in einer rudimentären, aus der Erinnerung heraufgeholten Kirchensprache. Das Verhältnis zu ihr ist so gebrochen wie das zu Beethovens eigenem Stil, in entfernter Analogie zur Stellung der Achten Symphonie zu Haydn und Mozart. Außer in der Et-vitam-venturi-Fuge sind auch die fugalen Partien nicht genuin polyphon, aber auch kein Takt homophon-melodisch nach Art des neunzehnten Jahrhunderts. Während die Kategorie der Totalität, die bei Beethoven durchaus den Primat innehat, sonst aus der Selbstbewegung der einzelnen Momente resultiert, wird sie in der Missa nur um den Preis einer Art von Nivellierung festgehalten: das allgegenwärtige Stilisierungsprinzip duldet kein wahrhaft Besonderes mehr und schleift die Charaktere ab bis zum Schulmäßigen hin; diese Motive und Themen entraten der Kraft des Namens. Der Mangel dialektischer Kontraste, die durch den bloßen Gegensatz geschlossener Satzteile substituiert sind, schwächt zuweilen dann auch die Totalität. Das zeigt sich besonders an den Satzschlüssen. Weil kein Weg durchmessen, kein Widerstand des Einzelnen überwunden ward, überträgt sich die Spur der Zufälligkeit auf das Ganze selber, und die Sätze, die nicht mehr in einem Ziel terminieren, das der Drang des Besonderen ihnen vorschrieb, enden vielfach matt, hören auf ohne die Verbürgtheit der Konklusion. All das bewirkt nicht nur, trotz äußerer Kraftentfaltung, ein Gefühl des Mittelbaren, das der liturgischen Bindung wie der kompositorischen Phantasie gleich fern gerückt ist, sondern jenes Enigmatische, das zuweilen, wie in den kurzen Allegro- und Prestostellen des Agnus, das Absurde streift.
Nach all dem könnte es scheinen, als wäre die Missa, charakterisiert in ihren Eigentümlichkeiten, auch erkannt. Aber das Dunkle, als dunkel wahrgenommen, wird noch nicht ohne weiteres hell; verstehen, daß man etwas nicht versteht, ist der erste Schritt zum Verständnis, nicht das Verständnis selber. Die angedeuteten Charakteristika mögen beim Hören sich bestätigen, und die Aufmerksamkeit, die auf sie sich konzentriert, mag desorientiertes Hören verhindern, aber sie allein gestatten es dem Ohr keineswegs, spontan einen musikalischen Sinn der Missa wahrzunehmen, der, wenn überhaupt, gerade in der Abwehr solcher Spontaneität sich konstituiert. Soviel jedenfalls ist ausgemacht, daß ihr Befremdendes nicht vor der bequemen Formel zergeht, es habe der autonome Komponist eine heteronome, seinem Willen und seiner Phantasie entrückte Form gewählt, und die spezifische Entfaltung seiner Musik sei dadurch verhindert worden. Denn offensichtlich hat Beethoven in der Missa nicht, wie es gewiß in der Musikgeschichte zuweilen sich ereignet, neben seinen eigentlichen Werken auch in einer entlegenen Gattung sich zu legitimieren gesucht, ohne daß diese dabei allzusehr belastet worden wäre. Vielmehr zeigt jeder Takt des Werkes ebenso wie die für Beethoven ungewöhnlich lange Dauer des Kompositionsvorgangs die insistenteste Anstrengung. Sie ist aber nicht, wie sonst bei ihm, an die Durchsetzung der subjektiven Intention gewandt, sondern an deren Aussparung. Die Missa Solemnis ist ein Werk des Weglassens, der permanenten Versagung; sie bereits rechnet zu jenen Bemühungen des späteren bürgerlichen Geistes, welche das allgemein Menschliche nicht mehr in der Konkretion besonderer Menschen und Verhältnisse zu denken und zu gestalten hoffen, sondern durch Abstraktion, durchs Wegschneiden des Zufälligen gleichsam, durch das Festhalten an einer Allgemeinheit, die an der Versöhnung mit dem Besonderen irre ward. Die metaphysische Wahrheit wird in diesem Werk zu einem Residuum ähnlich wie in der Kantischen Philosophie in der inhaltsleeren Reinheit des bloßen Ich denke. Dieser Residualcharakter der Wahrheit, der Verzicht aufs Durchdringen des Besonderen, verurteilt die Missa Solemnis nicht bloß zum Rätselhaften, sondern prägt ihr, in einem obersten Sinn, die Spur von Ohnmacht auf; von Ohnmacht nicht sowohl des mächtigsten Komponisten als eines geschichtlichen Standes des Geistes, der, was er hier zu sagen sich unterfängt, nicht mehr oder noch nicht sagen kann.
Was aber verhielt Beethoven, den unergründlich Reichen, bei dem die Kraft subjektiven Erzeugens bis zur Hybris des Menschen als Schöpfers sich steigerte, zum Gegenteil, zur Selbsteinschränkung? Sicherlich nicht die Psychologie der Person, die gleichzeitig mit der Missa und nach ihr die entgegengesetzte Möglichkeit bis zur äußersten Grenze durchmaß, sondern ein Zwang in der Sache, dem er, widerstrebend genug und doch mit aller Anspannung, gehorchte. Dabei nun stößt man doch auf ein Gemeinsames zwischen der Missa und den letzten Quartetten in ihrer geistigen Zusammensetzung; Gemeinsamkeit dessen, was sie allesamt vermeiden. Der musikalischen Erfahrung des späten Beethoven muß die Einheit von Subjektivität und Objektivität, das Runde des symphonischen Gelingens, die Totalität aus der Bewegung alles Einzelnen, kurz eben das verdächtig geworden sein, was den Werken seiner mittleren Zeit ihr Authentisches verleiht. Er durchschaut die Klassik als Klassizismus. Er lehnt sich auf gegen das Affirmative, unkritisch das Sein Bejahende in der Idee der klassischen Symphonik; jenen Zug, den Georgiades in seiner Arbeit über das Finale der Jupiter-Symphonie festlich nannte. Er muß das Unwahre im höchsten Anspruch der klassizistischen Musik gefühlt haben: daß der Inbegriff der gegensätzlichen Bewegung alles Einzelnen, das in jenem Inbegriff untergeht, Positivität selber sei. An dieser Stelle hat er über den bürgerlichen Geist sich erhoben, dessen musikalisch höchste Manifestation sein eigenes œuvre bildet. Etwas in seinem Ingenium, das Tiefste wohl, weigerte sich, was unversöhnt ist, im Bilde zu versöhnen. Musikalisch dürfte das sich konkretisiert haben in einer dämmernden Empfindlichkeit gegen durchbrochene Arbeit und Durchführungsprinzip. Sie ist verwandt dem Widerwillen, den das entwickelte dichterische Sensorium gerade in Deutschland früh schon angesichts dramatischer Verwicklung und Intrige ergriff; ein erhaben plebejischer, dem Höfischen feindlicher Widerwille, der mit Beethoven erstmals in die deutsche Musik drang. Der Intrige auf dem Theater haftet stets ein Läppisches an. Ihre Betriebsamkeit wirkt wie von oben, vom Autor und seiner Idee her veranstaltet, aber von unten, den dramatischen Personen her, nie ganz motiviert. Die Betriebsamkeit der thematischen Arbeit mag für Beethovens reifes Komponistenohr angeklungen sein an die Machinationen der Höflinge in Schillerstücken, an kostümierte Gattinnen, erbrochene Schatullen und entwendete Briefe. Es ist, das Wort recht verstanden, ein Realistisches in ihm, das sich mit an den Haaren herbeigezogenen Konflikten, manipulierten Antithesen nicht zufrieden gibt, wie sie in allem Klassizismus die Totalität stiften, die übers Einzelne hinweg sich durchsetzen soll, aber in Wahrheit diesem wie mit einem Machtspruch aufgezwungen wird. Male dieser Willkür lassen sich an den entschlossenen Wendungen der Durchführungen, noch in der Neunten Symphonie, aufspüren. Der Wahrheitsanspruch des letzten Beethoven verwirft den Schein jener Identität des Subjektiven und Objektiven, der fast eins ist mit der klassizistischen Idee. Es erfolgt eine Polarisierung. Einheit transzendiert zum Fragmentarischen. In den letzten Quartetten geschieht das durch das schroffe, unvermittelte Nebeneinanderrücken kahler, spruchähnlicher Motive und polyphoner Komplexe. Der Riß zwischen beidem, der sich einbekennt, macht die Unmöglichkeit ästhetischer Harmonie zum ästhetischen Gehalt, das Mißlingen in einem obersten Sinn zum Maß des Gelingens. Auch die Missa opfert auf ihre Weise die Idee der Synthesis, aber nun, indem sie dem Subjekt, das nicht mehr von der Objektivität der Form geborgen ist, aber auch nicht diese aus sich heraus bruchlos hervorbringen kann, gebieterisch den Eingang in die Musik verwehrt. Für ihre menschliche Allgemeinheit ist sie bereit, damit zu zahlen, daß die einzelne Seele schweigt: vielleicht schon sich unterwirft. Das, nicht die Konzession an kirchliche Überlieferung oder der Wille, den Erzherzog Rudolf, seinen Schüler, zu erfreuen, dürfte zur Erklärung der Missa Solemnis geleiten. Aus Freiheit zediert sich das autonome Subjekt, das anders der Objektivität nicht mehr sich mächtig weiß, an die Heteronomie. Pseudomorphose an die entfremdete Form, in eins mit dem Ausdruck von Entfremdung selber, soll leisten, was anders nicht mehr zu leisten wäre. Mit dem gebundenen Stil wird experimentiert, weil die formale bürgerliche Freiheit als Stilisationsprinzip nicht zureicht. Die Komposition kontrolliert unermüdlich, was unter solchem, von außen gesetztem Stilisationsprinzip vom Subjekt eben noch zu füllen, was ihm möglich sei. Rigoroser Kritik verfällt nicht nur jede Regung, die das Prinzip bestritte, sondern auch jede konkretere Fassung der Objektivität selber, die sie zur romantischen Fiktion degradierte, wo sie doch, sei es auch als Skelett, real, tragfähig, scheinlos geraten soll. Diese doppelte Kritik, eine Art permanenter Selektion, zwingt der Missa ihren distanzierten, umrißhaften Charakter auf: er bringt sie trotz des vollen Klangs in so rigorosen Gegensatz zur sinnlichen Erscheinung wie die asketischen letzten Quartette. Das ästhetisch Brüchige der Missa Solemnis, der Verzicht auf sinnfällige Gestaltung zugunsten einer fast kantisch strengen Frage nach dem, was überhaupt noch möglich sei, korrespondiert bei trügend geschlossener Oberfläche den offenen Rissen, welche die Faktur der letzten Quartette hervorkehrt. Die Tendenz zu einem hier selbst noch gebändigten Archaisieren aber teilt die Missa mit dem Spätstil fast aller großen Komponisten von Bach bis Schönberg. Sie haben alle, Exponenten des bürgerlichen Geistes, dessen Grenze erreicht, ohne sie doch je in der bürgerlichen Welt aus eigenem übersteigen zu können; sie alle mußten, am Leiden ihrer Gegenwart, Vergangenes heraufholen als Opfer an die Zukunft. Ob bei Beethoven dies Opfer fruchtete; ob der Inbegriff des Fortgelassenen in der Tat die Chiffre eines erfüllten Kosmos ist, oder ob, wie in den Rekonstruktionsversuchen von Objektivität danach, schon die Missa scheiterte, darüber wäre zu urteilen erst, wenn die geschichtsphilosophische Reflexion über das Gefüge des Werkes eindränge bis in seine innersten kompositorischen Zellen. Daß jedoch heute, nachdem das Durchführungsprinzip geschichtlich bis zu Ende getrieben ward und sich überschlug, die Komposition ohne jeden Gedanken an die Verfahrensweise der Missa zur Schichtung von Abschnitten, zur Artikulation nach »Feldern« sich veranlaßt sieht, ermutigt dazu, Beethovens Beschwörungsformel vom größten seiner Werke doch für mehr zu nehmen als bloß für Beschwörung.